Das Flüchtlings-Dilemma

Flüchtlingskrise und die Frage nach Ängsten und Schuld von Christa Schyboll

Die Obergrenzen-Debatte um die Flüchtlingszuwanderung spitzt sich weiter zu. Unermüdlich sprechen die Verfechter von Asylrecht, Humanismus und der Menschenrechtscharta dagegen an. Die politischen Lager spalten sich mehr und mehr… auch im Volk. Doch eine Entscheidung ist schwer - eigentlich unmöglich.

Die Obergrenzen-Debatte um die Flüchtlingszuwanderung spitzt sich weiter zu. Unermüdlich sprechen die Verfechter von Asylrecht, Humanismus und der Menschenrechtscharta dagegen an. Die politischen Lager spalten sich mehr und mehr… auch im Volk. Hier die Helfer und Willkommenskultur-Komitees, dort die Hasser und Brandbombenwerfer. Dazwischen die vielen Nachdenklichen, die sich um Differenziertheit bemühen. Für mich ist klar: Politisch und menschlich kann es selbstverständlich keine Obergrenze geben, weil eine solche im Kern absurd ist. Es ist, als wolle man die Wahrheit halbieren oder Grundrechte einer reinen Zahlen-Willkür überführen. Für mich ist aber ebenso klar, dass es faktisch völlig unmöglich sein wird, alle Menschen, die wirklich schutzbedürftig sind, nach Deutschland zu lassen. Und schutzbedürftig sind nicht nur allein all jene, die gerade aus den aktuell heißen Kriegsgebieten kommen, sondern viele andere mehr.

Mit anderen Worten: Viele Menschen befinden sich in dieser Flüchtlings-Aufnahme-Frage in einer klassischen Dilemma-Situation. Man steht vor einer als paradox empfundenen Ausweglosigkeit, sofern man sich nicht schon einseitig für das eine oder andere politische Lager innerlich entschieden hat, was in diesem Fall heißt: entweder weiter grenzenlos helfen bis zum Zusammenbruch--- oder: abschieben bzw. erst gar nicht mehr weiter hineinlassen.

Das Problem jener Menschen, die im Dilemma stecken, ist unter anderem auch die persönlich gestellte Frage nach Moral und Schuld. Denn jedem ist doch klar: Kommt eine Obergrenze, wird es in kurzer Zeit auf dem Balkan zu einer menschlichen Tragödie kommen. Und die, die die Tragödie auf dem Balkan nicht erleben, weil sie es nicht mehr bis dorthin schaffen, erleben sie dann eben direkt in den Todeszonen der entsprechenden Länder vor Ort. Dieses Szenario ist nicht fiktiv, sondern eine bereits sich immer weiter zuspitzende Realproblematik. An einer solchen Tragödie vor der direkten Haustür möchten viele Menschen keine politische "Schuld" tragen - besonders nicht die Deutschen, die in großen Teilen noch immer unter ihrem alten kollektiven Schuld-Trauma leiden.

Zahllos die, die kommen werden

Gleichzeitig aber weiß jeder: Die immer lauter geforderte Obergrenze kommt durch die natürliche Begrenzung der Ressourcen selbstverständlich doch. Und die Begrenzung meint an dieser Stelle nicht nur Geld und Aufnahmekapazität als Kriterium, sondern auch und vor allem die psychische Gestimmtheit im Volk, dessen Probleme durch die Flüchtlingsproblematik mehr und mehr anwachsen. Es ist es ja nicht nur mit Geld und gutem Willen getan, sondern es braucht tausendfach viel mehr als "nur" Integration, Arbeit, Krankenversicherung, Heim, Wohnung, Essen, Kleidung für eine unübersehbar große Zahl, die auf dem Weg ist und sich auch weiterhin aufmacht. Es braucht Lehrer, Kitas, Kurse, Richter, Staatsanwälte, Polizei und sehr vieles andere mehr, das aus Steuergeldern auf lange Jahre finanziert werden muss. Wir sprechen von Abermilliarden, die Zahl kennt noch niemand, weil auch die indirekten Kosten eben Kosten sind und irgendwo her kommen müssen. Und diese aktuelle Situation mit der Nachkriegszeit zu vergleichen ist schlicht und einfach falsch. Selbstverständlich gibt es hier und da auch Bereicherungen, doch die Frage ist, ob dem Volk glaubhaft gemacht werden kann, dass diese Bereicherungen sich mit den Problemen tatsächlich wenigstens die Waage halten – oder die Waage zugunsten der Ströme verändern. Daran kann derzeit kaum jemand glauben.

Andererseits: Man braucht sich nur in die Lage eines Flüchtlings und seiner Situation hineinzuversetzen und man wird wohl in den allermeisten Fällen zum Schluss kommen können: Auch ich würde fliehen, würde meine Kinder, Familie und mich zu schützen versuchen, wenn sonst nur Hunger, Elend, Schmerz und Tod drohen. Insofern dürfte die Masse aller Migranten in ihrem Handeln menschlich doch gut zu verstehen sein… Dazu braucht es kein "Gutmenschentum", sondern nur eine nüchtern logische Bilanz mit der Frage nach dem eigenen Handeln in einer vergleichbaren Situation - auch wir gingen, so wir könnten, vermutlich auf den langen Treck.

Trotzdem haben die Obergrenzen-Verfechter ebenfalls Recht. Ob sie weniger von solchen Gefühlen und Gedanken wie oben beschrieben geleitet werden, ob da Ressentiments eine Rolle spielen oder nicht, kann ich nicht sagen, weil dies individuell ist. Aber klar ist: Aus den derzeit ca. 60 Millionen Flüchtlingen, die auf der Suche nach Überleben sind, sollen ja bis zu 600 Millionen in den nächsten Jahren nach dem Bericht der UNHCR werden. Kriege, Hunger, Elend, Klimakatastrophen… sie werden in gigantischen Massen kommen. Und die, die außen vor bleiben, verelenden oder sterben eben an der Grenze – an welcher letztlich auch immer, sei sie im Gebirge, im Meer oder auf einer Landstraße gen Westen.

Was also tun? Fast alle politisch beschlossenen Maßnahmen greifen langsamer, als es uns die Politik derzeit sagen mag. Bloß keine schlechten Nachrichten! Die Zustände in den Herkunftsländern so nachhaltig zu verbessern und zu stabilisieren, dass die Menschen tatsächlich bleiben, ist ein langer Prozess, der über Jahre und Jahrzehnte gehen wird, wenn es denn überhaupt gelingt. Korrupte Strukturen sind zäh und eine gewachsene Gesellschaft mit völlig anderen Werten und Weltbildern dürfte sich als noch zäher erweisen. Obschon die Idee richtig ist, allein sie kommt zu spät im Hinblick auf ein Nachlassen der Ströme in den nächsten Jahren. Der Treck der Verelendeten wird sich also durch die politischen Beschlüsse nicht aufhalten lassen, weil die Zeit dafür schon vor über 2 Jahrzehnten und früher verpasst wurde. Also werden sie weiter aus allen Herren Ländern und mindestens zwei Kontinenten kommen, werden weiter ertrinken, werden die Festung Europa zu stürmen versuchen, wenn wir sie dicht machen und werden ihren Tod vielleicht dann doch noch auf unserem Kontinent finden.

Das Dilemma bleibt bestehen

Es mag sein, dass uns vielleicht ja mit einer ganz enormen Kraftanstrengung die Integration von 1-2 Millionen in der Mehrzahl gelingt (was schon eine sehr positive Annahme ist!) – sieht man von der Verbrechensquote ab, die in dem Maße aber ebenfalls noch weiter ansteigen wird, wie es zur persönlichen Perspektivlosigkeit kommt. Ein solches theoretisches Gelingen bedingt dann aber auch schon ganz viel freiwilligen Verzicht auf den eigenen gewohnten Standard für Kultur, Schwimmbäder, Straßenbelägen und tausend anderen Dingen des täglichen Lebens, die doch schon jetzt nicht oder kaum mehr zu finanzieren sind. Wie überfordert schon jetzt die Städte und Gemeinden sind, weiß jeder, der auch kommunalpolitisch wachsam ist.

Es mag aber auch sein, dass aufgrund von immer mehr Verbrechen, die wir hier in Deutschland erleben, die Stimmung extrem schnell kippt und es zum Kesseltreiben für Unschuldige werden kann. Die europäischen Diebesbanden bekommt schon lange niemand mehr in den Griff. Sie plündern aller Orten, versetzen Menschen in Schrecken und Trauma und werden fast nie erwischt. Geht das so weiter, dann drohen tatsächlich irgendwann Aufstand, Bürgerkrieg…Die ersten Bürgerwehren gehen hier und da schon aus Not Patrouille. Eine private "Bewaffnung" durch gefühlte oder bereits konkret erlebte Bedrohungen ist im Gange. Die Käufe für Schutzwaffen wie Pfefferspray und Co. sind enorm angestiegen und führen bereits zu Engpässen. Die Bedrohung ist für viele Menschen deshalb nicht nur ein Hirngespinst, weil mehr und mehr selbst Opfer von Einbrüchen, Raub und Gewalt werden. Jeder weiß um die Realität von No-Go-Areas im eigenen demokratischen Land, die weiter anwachsen. Wollen wir so "leben"?...

Ich, die ich die politische Obergrenze einer Asylaufnahme strikt ablehne, weil sie in sich absurd ist, bin dennoch für eine faktische Obergrenze deshalb, weil eine psychische und finanzielle Überforderung zu einem nachhaltig noch schlimmeren Dilemma führen kann und wird, das ebenfalls Opfer fordern kann und wird. Gibt es "bessere" und "schlechtere" Opfer, wenn es sich um Menschenleben handelt?

Womit zu rechnen ist, sofern man sich nicht den Tatsachen verschließt: Menschen werden (weiter) sterben, die vielleicht hätten gerettet werden können, wenn die Obergrenze kommt! Aber es werden auch Menschen früher oder später sterben, wenn sie nicht kommt. Dann ist es eine andere Art von "Krieg" gegen die Mitmenschlichkeit, der geführt werden wird, weil dann wieder andere Probleme anstehen. Wenn wir ab der Zahl X "dichtmachen", wissen wir, was mit diesen Menschen passiert. Da kann sich niemand herausreden. Diese "Schuld" ist dann auch innerlich ganz persönlich zu tragen und auszuhalten – vorausgesetzt, man empfindet schon so und stellt sich selbst auch innerlich diesen Fragen. Ob man dabei ein gutes, schlechtes oder gar kein Gewissen hat, ist allein eine Frage des Bewusstseins und der spirituellen Entwicklung.

Ich fühle mich aus diesem Dilemma nicht entlassen – auch wenn ich es nicht persönlich bin, der diese Grenze öffnet oder schließt. Aber mit seiner inneren Haltung, seiner Wählerstimme und seinem Gewissen ist jeder einzelne Bürger mit diesem geschichtlichen Drama, das zum Desaster zu werden droht, tief verbunden. Das gilt nicht nur für die Deutschen, sondern natürlich für alle Europäer, Amerikaner … überhaupt alle, die retten könnten. Was bleibt ist das große Entsetzen über den lang verpassten Zeitpunkt, der dies hätte verhindern können, das Entsetzen, wohin der Egoismus der Welt uns alle geführt hat…

Möge uns trotzdem so viel Humanes und Gutes wie möglich gelingen.

— 15. Januar 2016
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