Unter der Fuchtel der Pflicht

Vom Spagat zwischen Zusage und Abwehr schreibt Christa Schyboll

Das Gefühl einer persönlichen Unfreiheit hängt unter anderem elementar auch damit zusammen, wie sehr man sich in die Pflicht genommen fühlt. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob man es selbst ist, der sich – frei (und) willig – in die Pflicht nimmt oder ob es sich um die mitmenschliche Umwelt handelt, die massiven Druck durch ihre verbale oder nonverbale Erwartungshaltung auf uns ausübt.

Warum bedienen wir überhaupt Erwartungshaltungen? Weil wir geschätzt, gemocht und geliebt werden wollen? Weil wir ein Außenseitertum nicht oder nur bedingt bis zu einem gewissen Grad ertragen? Weil wir zur Gemeinschaft, welcher auch immer, mit dazu gehören wollen? Erfüllen wir die Erwartungshaltungen der anderen vor allem deswegen allzu oft auch gegen unseren Willen? Auch, weil wir so erzogen und geprägt sind, dass der Willen der anderen oftmals über dem eigenen steht? Sind wir höflich oder können wir einfach nicht oft genug Nein sagen, während sich andere selbstverständlich ständig verweigern?

Mit Freiheit hat das nichts zu tun, wenn wir wie Marionetten an den klebrigen Fäden anderer Willens- und Erwartungsbekundungen hängen. Sich davon selbst zu befreien bedeutet im ersten Schritt erst einmal eine Bilanzierung des Ist-Zustandes.

Mit Fragen über Fragen, die eine erste Antwort brauchen. Wer erwartet was von mir? Mit welchem Recht? Oder steuern ihn selbst nur egoistische Motive, die er auf meinem Buckel auslebt? Was passiert denn, wenn ich mich verweigere? Liebesentzug? Freundschaftsentzug? Innerer Entfernung? Massiver Ärger? Gar eine Kündigung des Arbeitgebers, der immer eine Finesse findet, wenn er jemanden loswerden will? Oder bin ich selbst nur zu faul, zu bequem, zu egoistisch. Bereit zu verdrängen, um bloß keine komplizierten Veränderungen im Leben auf die Beine stellen zu müssen?

Die Antworten können hier schon sehr vielfältig ausfallen. Hat man diese erste Bilanz priorisiert, kann man ans Aufräumen all jener eigenen Schwächen gehen, die das Leben doch massiv hemmen. So manches wird dabei sein, was vielleicht weniger wichtig ist, aber leichter gelöst werden kann.

Je nach Nerven- und Mut-Kraft ist es unter Umständen ein guter Einstieg, nicht direkt mit den schwersten Happen zu beginnen, sondern mit leichteren Einheiten, wo das Nein-Sagen, das je nach Typus oft mühsam erst zu erlernen ist, mit weniger starken Konsequenzen verbunden ist. Und hier erlebt man dann augenscheinlich direkt: Es ist gar nicht so schwer! Es ist nichts Schlimmes passiert! So viele Ängste völlig umsonst geschwitzt. Ich hab es nicht nur gut überlebt, sondern fühle mich befreiter denn je. - Das macht Mut für Weiteres, Wichtigeres, das uns belastet und verändert werden will.

Leichter wird die Sache für so manchen, wenn man sie radikal zu Ende denkt und die Konsequenzen nicht scheut. Nämlich, dass ein Nein durchaus zwar zu größeren Verwerfungen, gar zum Ende einer Beziehung oder Freundschaft führen kann, die man aber auch endlich in Kauf zu nehmen bereit ist. Vor allem dann, wenn man selbst der ewige (häufige) Ja-Sager war, der allzu beflissentlich die Wünsche der anderen mit bediente. Vorausgesetzt: Man erkennt, auf welcher Qualitätsstufe diese Beziehung steht, die einseitig zu den eigenen Lasten geht.

Oft ist es unsere Angst im Vorfeld, die uns hemmt, uns freier zu verhalten und zu bewegen, als wir es selbst gerne möchten. Freier im Sinne des positiven Radikalen, das bedeutet: Radix – An die Wurzel des Übels zu gehen. Keine Konventionskosmetik mehr! Lieber ein klares Nein, als ein dauerhaft bitteres Ja oder Jein…

Doch die Umstände sind oft kompliziert. Das betrifft vor allem oft jene Gutherzigen, die niemandem etwas abschlagen können, weshalb sie auch besonders von allen gemocht werden. Nicht um ihrer selbst willen, sondern ihrer ständigen Bereitschaft wegen, selbstverständlich für die Bitten der anderen zur Verfügung zu stehen und sie damit zu entzücken. So einen mag man doch gerne! Unkompliziert, willig, immer zu Diensten! Everybodys Darling...

Ich hätte eine Idee. Sie ist machbar, auch wenn ich selbst vorübergehend daran gescheitert bin. Doch das liegt mehr an mir selbst als an der Idee. Ich schreibe sie auf in der Hoffnung, dass andere Menschen sie zukünftig viel geschickter und konsequenter als ich selbst durchziehen und damit neue Maßstäbe setzen, wo Ausgleich, Fairness und Taktgefühl leider noch zu wünschen übrig lassen, weil zu viel Einseitigkeit die Wirklichkeit bestimmt - sei es aus Kalkül oder Schusseligkeit.

Das Schlüsselwort heißt: Zeit-Gutschein. Gedacht für jene frei-(und)-willigen Zeiteinheiten, die man gern für andere Menschen und ihre Bedürfnisse aufwendet. Selbstverständlich ohne Bezahlung, jedoch für die eigenen Zeit-Aufwendungen – für was auch immer - einen Zeitgutschein erhält. Einzulösen bei Bedarf, wann immer es nötig und beidseitig möglich ist. Im Vertrauen darauf, dass der andere dann seine moralische "Pflicht" ebenfalls zuverlässig erfüllen wird und der gutmütig Gebende sich nicht unter der Fuchtel einer mentalen Überlegenheit fühlt.

Allein schon das schriftliche Ausstellung eines Zeitgutscheines über gewisse Stunden erinnert den so Beschenkten dann schon daran, dass da noch eine "kleine Wiedergutmachung" offen ist… sprich: Er wird selbst dann die Gutwilligkeit des anderen Mitmenschen eher bedachter als bisher abfordern, weil er weiß: Ich habe die Pflicht, es irgendwann in Zeiteinheiten zurückzahlen… auf welche dann mögliche Weise auch immer.

Es gibt zum Glück sehr viele zwischenmenschliche Beziehungen, wo dieser kleine Trick völlig unnötig ist. Wo es eine Selbstverständlichkeit ist und bleibt, dass da niemand ausgenutzt wird, nur weil er schlecht Nein-Sagen kann. Für all diese sind solche kleinen Kunstgriffe nicht nötig. Da ist die Gegenseitigkeit im guten Lot.

Aber dort, wo Altruismus und Egoismus eine toxische Verbindung eingehen, ist diese Sache zu bedenken. Und es geschieht häufiger als man glaubt! Der Ausgleich – ab einem gewissen Maß – ist wichtig, damit das wieder ins Gleichgewicht kommt, was irgendwann der Disharmonie einer Einseitigkeit einer immer wieder abgeforderten Gutherzigkeit zum Opfer fiel.

— 13. Juni 2022
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