Pünktlichkeit

Ein ständiger Krieg zwischen zwei Anschauungen. Von Christa Schyboll

Die Menschheit spaltet sich im Wesentlichen in zwei Teile. In Pünktliche und Unpünktliche.

Gerüchten zufolge sind die Pünktlichen mehr die nörgelnden Pedanten, die eher in der nördlichen Hemisphäre die Keule ihrer ständigen Vorwürfe schwingen an jene unnachahmliche Lebenskünstler, die alles nicht so genau nehmen und sich damit auch noch brüsten.

Als gebildete Zeitgenossen ist uns natürlich klar, dass hier der kulturelle Einfluss eine entscheidende Rolle spielt, je nachdem, ob man in einer monochronen Kultur geprägt wurde oder unter dem Einfluss polychroner Haltungen steht.

Würde sich das Kultur überlappend ereignen, wäre es kein Problem und man wüsste sich schnell einzustellen, so man mit einem Hawaianer oder einem Norweger verabredet sei. Die Toleranzschwelle würde entsprechend geplant. Im ersteren Fall wüssten wir, dass wir es mit einer vertikalen Zeitauffassung zu tun haben. Zeit hat man eben und eine genaue Planung ist nichts als nur lästig. Hardliner darunter beschwören sogar, dass es sie gar nicht gibt. Zeit sei nichts als Hilfskrücke unserer lächerlichen Raumdimension, die die Abfolge von Ereignissen oder Bewegungen von A nach B misst und den Unterschied in Zeiteinheiten benennt.

Was aber ist zu tun, wenn der Verabredungspartner dem eigenen Kulturkreis angehört und sich dennoch in den Dschungel der Zeit-Vertikale schlägt? Dabei dann standfest behauptet, eh im immerwährenden JETZT zu leben. So ein Mensch kommt wann er will, zumindest kann er heftig wie häufig unpünktlich werden. Garniert mit tausend Erklärungen, die alles sind, nur nicht der echte Notfall, der selbstverständlich immer Akzeptanz fände. Wer unter- oder übertreibt denn hier und wer klaut wem welche Form von Lebensqualität?

Die Vereinbarung selbst steht faktisch fest. Beispielsweise: Treffen um 16:00 Uhr. Dass es bei vielen dann 16:05-16:10 werden kann ist nicht der Rede wert. Wird es aber schon generell und über Jahre mindestens 16:15, dann ist zwar noch die gesellschaftlich allgemein akzeptierte Toleranzgrenze knapp eingehalten, aber man sollte es schon ins Kalkül einbeziehen. Beim Typus des Zeitvertikalen nützt es jedoch überhaupt nichts, sich doch direkt für 16:15 Uhr zu verabreden, weil es sich dann zuverlässig auf 16:30 verschiebt. Hier steckt ein Geheimnis drin, als ginge es gar nicht mehr um die Zeit, sondern um die Macht, die Macht der Zeitvorgabe zu brechen.

Geht es über die Viertelstundentoleranz beständig hinaus, wird’s ärgerlich für den, der sich eingestellt hat. Erst recht, wenn er eh unter Zeitnot leidet, weil sein pralles Leben eben viele schöne und wichtige Prioritäten zu setzen weiß. Deshalb ist er darauf angewiesen ist, dass das Geplante aber dann wenigstens pünktlich eingehalten wird. Zumal er sich selbst darum erfolgreich bemüht und keine Mühen scheut, sich vorher notfalls eben zu beeilen oder Prioritäten zu verschieben. Auch aus Achtung dem anderen gegenüber, dem man ebenso keine Zeit stehlen will. Gleiches erhofft man dann auch für sich im Sinne von Achtung und Würdigung.

Und dennoch geschieht es den Pünktlichen immer wieder, dass sie sich wie kleine Korinthenkacker vorkommen, nur weil sie ihren Teil der Verabredung einhalten. Weisen sie nonverbal mit Blicken auf die Uhr, ist eine schlechte Stimmung im gemeinsamen Miteinander leider häufig schon vorprogrammiert.

Und so zerfällt die Welt immer wieder neu in zwei Hälften, selbst in jenen Regionen, die eigentlich eine harmonische Chronomatik im gemeinsamen Kulturraum leben. Ob da etwa böses altes Karma die Regie unbewusst führte? Man in der letzten Inkarnation eventuell Schamane eines Naturvolkes war und nahe an der Transzendenz? Und wird man nun bestraft, weil man in letzter Sekunde am Ende nach dem Stand des Mondes zur Orientierung schaute, was sich im Hinblick auf Zeit und persönliches Karma im Nachhinein fatal anachronistisch auswirkt?

— 02. September 2010
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