Halloween oder was?

Die neue Subkultur beschäftigt Christa Schyboll

Halloween - Gothic, Punk, New Wave und die Kreativität der 80er -- wo bleibt denn eigentlich die neue Friedhofskultur?

Ich frage mich gerade, ob der Digitalisierungsschwung, von dem die Welt geradezu besessen ist, an unseren Friedhöfen eigentlich so ganz vorbei geht? Hallo-ween oder was? Etwa nur dieser alberne Haustürspaß? Oder das schockierende Kettensägen-Trauma für die ach so Ängstlichen? Das beleidigt doch die menschliche Fantasie!

Noch immer stehen auf unseren letzten Ruhestätten Kerzen aus Wachs, wie schon vor über 2000 und mehr Jahren. Blumen, ja, auch, schön, frisch und ebenfalls uralt in der Tradition. Aber nirgends ein Digitalgrabstein mit pfiffigem Lebensprogramm des Toten. Da kann ich mich so viel umschauen, wie ich will.

Potzblitz! Was würden sich die Friedhöfe füllen, wenn wir am neuartigen Digitalgrabstein nur einmal das Knöpfchen drücken dürften. So viele Programme wären denkbar, die wir dort pro Grab und Toten einpflegen könnten.- Seine Kindheit, seine Jugend, Ehe, Scheidung, seine Kriminalitätsrate, seine Lieblingsband, sein bevorzugter Verein, Feinde, Freunde und vielleicht auch noch die Krankenakte. Das wären ja nur die äußeren Dinge.

Dann könnte der Verblichene zu Lebzeiten ja auch noch einen Podcast über seine seelische Befindlichkeit mitteilen, seine ideologische Ausrichtung, seine politische und sexuelle Präferenz oder auch seine heimlichen Träume. Mein Gott, was könnten wir noch alles erfahren, das uns bisher verborgen blieb! Ein neuer Fundus des Wissens und der Neugierde. So viel Unergründlichkeit, die jetzt an das Tageslicht käme. Wie haben wir uns doch zu Lebzeiten über sein Leben und Sein geirrt!

Verstorbene aus der Gothic Subkultur der 80 könnten auch Innenaufnahmen ihrer letzten Ruhestätte erwägen, was jedoch eine besondere Zugangsberechtigung mit Altersgrenze und Nachweis einer stabilen Belastbarkeit voraussetzt.

Der Ton des Podcast wird immer nur über Kopfhörer zu hören sein, damit die Friedhofsruhe nicht gestört wird. Die Bilder in drei D wird man durch das Aufsetzen einer Spezialbrille erst sehen, dafür in hervorragender HD-Qualität, schärfer als je zuvor. Die Auflösung so enorm hoch, wie die des Toten selbst auch!

Was sich nicht verändert, ist der Respekt vor den Toten. Dieser bleibt gewahrt. Man kann gegen eine kleine Spende auch ein paar Gebete kaufen, wenn man selbst zu sehr in Eile ist. Wie zu guten Ablasszeiten.

Die Toten schauen derweil diesem Treiben auf der Erde zu, weil sie ja hochlebendig sind. Gut so!

Sie feixen und lachen und beömmeln sich über die verrückten Lebenden, die offenbar null Ahnung davon haben, was Tot-Sein bedeutet. Ruhe im Grab? Hach, wie albern ist denn das! Leben, schieres buntes Leben. Nicht so langweilig wie auf der Erde, wo man Wände, Schwerkraft und all diesen Blödsinn ertragen musste. Aber schön war es in dieser begrenzten Zeit auf dieser arg begrenzten Erde im noch begrenzteren Körper schon! Denn immerhin wusste man nicht, wann man stirbt – und erst recht nicht, ob es weitergeht. Jetzt ist man da nachtodlich allerdings einen Schritt weiter…

(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 304ff)

— 05. März 2022
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