Fremde - für kurze Zeit vereint
Schnitzeljagd im Reich der Eloquenz. Von Christa Schyboll
Beim Schreiben hat man die Qual der Wahl, welcher Begriff für welche Aussage, Stimmung, Gedanke oder Gefühl der Treffendste ist. Und hat man ihn gefunden, so heißt dies nur, dass man als Schreiber nun auch in seiner eigenen Rolle als kritischer Leser vielleicht, mit etwas Glück, zufrieden sein kann. Oft nach langem Hickhack zwischen den schmerzlich nahen Alternativen, die sich anboten.

Doch kommt ein zweiter Leser hinzu, kann das alles schon wieder Makulatur sein. Ab in den Papierkorb… und sei es der mentale einer gedanklichen Entsorgung. Denn ein anderer Leser empfindet den gleichen Begriff in seiner speziellen Leseminute individuell garantiert schon wieder anders als es vom Schreiber intendiert war. Trockener, nüchterner, feuriger, sachlicher, langatmiger… tausend Adjektive könnten nun folgen.
Doch bleiben wir nur, beispielhaft, bei einem Substantiv. Nehmen wir die Fantasie. Literatur lebt von der Fantasie. Aber wie grenzt sie sich ab? Und wie fein sind die Nuancen, die nun ähnlich gelagerte Begriffe anbieten, sich teils überschneidend, überlappend, grenzwertig aneinander vorbeiziehend, in Konkurrenz stehend, befreundet, sich gegenseitig beleidigend, übertreibend, minderwertig, befremdet, pathologisch daherkommend, sich gleichwertig behauptend…. und und und…
Die Brüder und Schwestern, Vettern, Cousinen und weitere Blutsverwandte der Fantasie stellen sich einmal kurz vor, ohne dass damit der Großclan der Fantasie-Begriffsfamilie schon vollständig wäre:
Illusion, Wahn, Imagination, Spinnerei, Einbildung, Vision, Irrealität, Hirngespinst, Wunschtraum, Wahnvorstellung, Unwirklichkeit, Kopfgeburt, Idee, Gedanke, Erscheinung, Luftblase, Seifenblase, Jägerlatein, Fiktion, Lüge, Imagination, Blendwerk, Traumbild, Finte, Halluzination, Ente, Unwahrheit, Räubergeschichte, Flunkerei, Schwindel, Ammenmärchen, Ausgedachtes, Falschannahme, Luftschloss, Gaukelbild, fixe Idee, Phänomen, Attraktion, Sensation, Utopie…
Ein jeder dieser Begriffe im Zusammenhang mit Fantasie kann je nach Kontext des Gesagten, der erzeugten Stimmung im Schrifttum, aber auch der gefühlten Atmosphäre im Schreiber oder im Leser unter Umständen ebenso deckungsgleich sein wie aber auch knapp oder voll daneben.
Selbst wenn man über ein feines Sprachempfinden verfügt, gelingt es keineswegs immer, damit auch am Sprachempfinden eines jeden Lesers so punktgenau anzudocken, dass das Gelesene wie zum Eigenen wird; so dass Schreiber und Leser in der Sache selbst verschmelzen und eine Einheit im Fühlen und Denken bilden.
Wo es gelingt, entsteht ein Kunstwerk. Und sei es nur eines zwischen zwei Menschen. Zwischen zweien, die sich nicht kennen und sich dennoch im Zentrum eines tiefen Gefühls zu begegnen vermögen und für kurze Momente eine geheimnisvolle Einheit bilden.