Vorwärts in die Vergangenheit

Das Handy – mein erstes Ich! - meint Christa Schyboll

Ich beginne mit einer steilen These: Das Handy ist wichtiger als ich selbst! Woran mache ich das fest? Am Grad der uneingeschränkten Aufmerksamkeit, die ich ihm widme.

Wenn ich allein nur die täglichen, allabendlichen und teils nächtlichen Zeiteinheiten bedenke, die für das Handy tatsächlich aufgewendet werden, schlägt es mich selbst in seiner Bedeutung doch um Längen… Soviel Zeit für mich selbst, sei es für Sport, Körperpflege, ja selbst ausruhen, käme nie in Frage. Erst recht nicht für Lesen oder sonstige Dinge, die wichtig sein oder halt Spaß machen könnten. Allein schon das ist bedenkenswert!

Nun ist es ja nicht damit getan, alle Augenblicke auf dieses Zauberkistchen zu schauen, sondern wenn man das tut, steht man gleich mit einem Fuß in der nächsten Hölle der Zwangsversklavung. Man muss oder will reagieren! WhatsApp wird die meisten Menschen mittlerweile weit mehr im Zeitwürgegriff halten als Facebook. Na ja, vielleicht hält es sich auch die Waage, was die Sache noch schlimmer macht… weil: Alles was hier und/oder dort passiert, passiert an anderer Stelle im Leben nicht. Einfach, weil nicht beides geht.

Noch interessanter in Bezug auf den globalen kulturübergreifenden Alltagswahn sind dann aber die selbstkritischen Untersuchungen im Hinblick darauf, für was wir alles nun diese enormen Zeiteinheiten investieren… oder sollte man sagen: verschenken? Gar verschwenden?...

Nun ja, mögen nun empörte Einwände kommen: Ist denn die zwischenmenschliche Kommunikation nicht wichtig ohne Ende? Sind wir nicht alle soziale Wesen, deren Kernaufgabe es ist, sich umeinander zu kümmern? Und was geht schneller, einfacher, öfter, billiger und bequemer, als gerade mal schnell eine WhatsApp - Nachricht zu senden. Oder einen schnellen Gruß. Oder eine kleine Nachfrage. Oder eine Verabredung. Oder ein unbestätigtes Gerücht, für das man jetzt aber mal dringend Bestätigung braucht. Klaro! Machen wir ja auch alle.

Und dennoch, Hand aufs Herz, wie viel verzichtbarer Mist ist denn da sonst noch zwischen allen uns lieben und wichtigen Meldungen, die uns immerzu nur ablenken? Ablenken von was eigentlich? Vom Leben? Welchem Leben? Gibt es überhaupt noch eines außerhalb dieser Reichweite, das ernsthaft wichtig ist? Und sind Leben und Handy nicht längst zu einer neuen Symbiose verschmolzen? Eine Einheit, die uns längst untrennbar vorkommt? Wer fühlt sich nicht amputiert, wenn es zwangsentzogen wird?

Wie eigentlich ging Leben vor dieser Zeit des Mobils? Wie haben wir uns verständigt? Nur umständlich über Emails und lästigen Telefonaten. Es wäre schon interessant zu wissen, ob denn der Email-Verkehr seit globaler Nutzung der Handys nun entsprechend abgenommen hat? Weil durch die Kurznachrichten ja noch mehr Zeit gespart wird, welche man für noch mehr Nutzloses jetzt zusätzlich verschwenden darf? Oder heißt die neue heimliche Formel vielleicht: Geschwindigkeit plus Zeitgeschenk geteilt durch Inhaltsunsinn multipliziert mit Ablenkung = Summe: Moderne Sklaven der Technik im Dauermodus der Betäubung?

Man könnte nostalgisch werden, wenn man bedenkt, wie es früher war. Früher – so vor 5, 10 oder 20 Jahren… Fast könnte man ins Schwärmen geraten…

Doch ich selbst habe Glück in all diesem modernen Firlefanzgeschehen. Mein Handy ist ständig weg. Futschikato. Irgendwo… Immer dort, wo ich es nicht vermute. Brauche ich es, muss ich länger suchen. Es versteckt sich vor mir. Es mag mich nicht. Beruht irgendwie auf Gegenseitigkeit. Wir haben ein Abkommen: Für Notfälle sollte es da sein… Ich hoffe, es hält sich daran… und bringt mich dann nicht mit leerem Akku in Bredouille.

— 15. Januar 2022
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