November – Der Totenmonat
Gedanken zum Tod, der Angst und dem Leben von Christa Schyboll
Den Tod sehen wir täglich. Im Fernsehen. Mal gespielt, mal echt. Der Unterschied macht meist nicht mehr viel mit uns, weil wir Gewohnheitstiere sind. Tod. Er geht uns nichts an, wenn wir nicht direkt betroffen sind. Sind wir es aber, dann wird’s oft brenzlig – falls nicht gleich tödlich.

So normal und alltäglich der Tod in den Medien nach unseren Gefühlen erfolglos hausieren geht, umso mehr fürchten wie die authentischen Gefühle, wenn er sich uns dann aber tatsächlich nähert. Uns selbst oder unseren Liebsten oder sonst wie nah verbundenen Menschen… Sehr vielen unvorbereitet.
Der November ist jener Monat, der vermutlich am wenigsten geliebt wird. Oft trist, oft grau, oft nasskalt – irgendwie halt gut zum Sterben. Oder gut, dem Tod und den Toten zu gedenken. Wie tot die Toten wirklich sind, ist dabei eine spannende Frage. Keine Frage ist, dass sie als Leichen ein Fakt sind und dem Vergehen auf natürliche Weise anheimgegeben sind. Wo »Leben« allein nur im Sinne einer biologischen Wirklichkeit verstanden und interpretiert wird, ist dieses mit dem letzten Atemzug (fast) zu Ende… Es gibt noch einiges, das auch nach dem Ableben noch eine kleine Zeit lang funktioniert und vom Restleben in uns zehrt. Beispielsweise das Haarwachstum. Aber das alles hat nichts zu sagen.
Wo »Leben« in einem umfassenderen Sinne verstanden und akzeptiert wird, ist mit dem Tod des Körpers aber noch nicht alles zu Ende, weil der Körper eben nicht die Gesamtheit der Persönlichkeit bildet, sondern Träger eines Bewusstseins ist, das nach dem körperlichen Tod in anderer Weise »fortleben« kann und die körperliche Gestalt nicht mehr benötigt. Diese Auffassung teilen Milliarden von Menschen durch fast alle Religionen der Menschheit. Teils in etwas unterschiedlicher Weise, aber relativ identisch, was das Grundsätzliche der Weiterexistenz von Seele und Geist meint.
Die Atheisten schmunzeln darüber oder erzürnen sich über deren »Naivität«, weil sie glauben, dass allein die Nichtakzeptanz eines persönlichen Endes bei all dem Regie führt und die Menschen »dieses Trostes« bedürfen… also eine Art Ammenmärchen für Selbstbetrüger, um sich selbst unsterblich zu machen? Aus Angst vor einer persönlichen Totalvernichtung? Das alles greift viel zu kurz, auch wenn es zugleich für einige Menschen ja zutreffen mag!
Zahllose Bücher befassen sich mit diesem Pro und Contra der Sichtweisen, Argumente und psychologischen Analysen zum Thema »Glauben«. Doch was ist »Wissen«, wenn es darum geht, das Unbeweisbare beweisbar machen zu wollen – und es nicht zu können? Trotz der schon umfangreichen Literatur möchte ich aus einem anderen Blickwinkel den Tod, das Leben und die Menschen unter die Lupe nehmen und arbeite ebenfalls schon lange an diesem Thema. Es ist – für mich – unglaublich reizvoll, weil es das Zentrale des Lebens betrifft. Leben und Tod. Tod, der später wieder im Leben endet? Es gibt ungemein spannende Fragen hier zu bewegen, weil es zu den letzten Geheimnissen gehört.
Wie man selbst zum Tod steht, ist auch eine Frage, wie sehr man sich damit schon beschäftigt hat oder nicht. »Er kommt schon früh genug!« ist die Haltung vieler Menschen, denen das Thema gleichgültig oder unangenehm ist. Er kommt, wann es an der Zeit ist, würde ich gern antworten – aber würde damit schon eine Kontroverse auslösen können, weil sofort eine Empörung hochschießen könnte? »Wann es an der Zeit ist?« – Ist es etwa für ein Kind »an der Zeit«, wenn es kurz nach der Geburt oder im frühen Kindesalter stirbt? – Ja, würde ich sagen, aber dann müsste eine längere Ausführung folgen, wodurch dieses Ja aus meiner Sichtweise auch begründet werden kann… An all dem arbeite ich unter anderem gerade. Auch im Totenmonat November.
»Der Tod lebt – auch weil er noch nie verstorben ist« – Ein Satz aus meinem Dialog-Buch mit Hein Tod, der den Umstand des Todes aus einer völlig anderen Perspektive angeht als wir es gewohnt sind. Es darf auch gelacht und geschmunzelt werden; denn das Leben geht weiter...
Gedenken Sie alle in Liebe an Ihre Toten… die in anderer Existenzform sehr vermutlich hochlebendig sind und bleiben.
(aus ›Verschwundene Texte‹, Seite 308ff)