Im Fahrstuhl

Wohin nur mit den Augen?, fragt Christa Schyboll

Jeder ist irgendwann dran: Er muss einen Fahrstuhl benutzen. Muss man sogleich mehrere Etagen damit erklimmen, wird es zur Herausforderung auf allen Ebenen.

1. Die Berührungen
Ob sie vermeidbar sind, entscheidet die Anzahl des eingestiegenen Personenkreises von Menschen in die gleiche Himmelsrichtung, selbst wenn sie in den Keller geht. Sind sie nicht zu vermeiden, was oft vorkommt, ist für jeden genau zu beachten, wo und von wem er nicht berührt werden will oder wen oder was er selbst nicht berühren möchte. Die Nichtberührung wird zur Kunst, die der Geschicklichkeit nicht nur im Hinblick auf Busen oder Po bedarf, sondern auch aufrechte schlanke Menschen klar bevorzugt, was den Erfolg der Sache angeht. Das ist keineswegs immer leicht, wenn die maximale 465 kg Tragelast schon um weitere 180 kg überlastet ist. Dazu lässt man sich allzu schnell verführen, sich in dieses menschliche Knäuel noch zusätzlich hineinzuquetschen, um wenige Minuten Zeit im Leben zu schinden. Und das alles nur, weil die Gier nach Zeit binnen Sekunden den Verstand lahm legte.

2. Die Düfte
Hat man Glück sind alle Zusteiger noch frisch gewaschen und nicht sonderlich stark parfümiert. Kommt aber eine sinnlich nicht zu übergehende Duftwolke von Eau de Cac de Fleur an einem zudem schwülen Sommertag daher, so kann oft nur die drangvolle Enge verhindern, dass sich reihenweise Ohnmachtsanfälle nicht platztechnisch verwirklichen, da zum Umfallen keine wirklich Gelegenheit besteht.

3. Die Augen
Das Kernstück des kurzen Dramas. Wohin damit? Man hat schrecklich wenig Möglichkeiten, so man den anderen nicht anstarren will, was sich eigentlich nicht gehört. Ihn ganz zu ignorieren, ist irgendwie auch peinlich bis arrogant und zeigt keine innere Souveränität. Lächelt man aber, so sollte man nicht nur einen, sondern alle anlächeln, bevor die anderen in eine kollektive Depression vor dem Ausstieg verfallen. Das mag man aber nicht immer, wenn gerade der Fiesling aus der Buchhaltung zugestiegen ist, denn man noch nie mochte. Schaut man nach unten, so kommt man nicht besonders weit und verstärkt den Verdacht des Mauerblümchens. Schaut man nach oben, kommt man sich ziemlich schnell dämlich vor, weil jeder weiß, dass es außer nacktem Stahl nichts zu sehen gibt. Die krampfhafte Ausschau auf die flackernden Erlösungszahlen, die den Ausstieg versprechen, hält auch immer nur für Sekunden an. Aber das verflixte Ding braucht länger und schon gerät der Blick schon wieder in Stress. Es gibt halt Häuser, die haben auch eine siebte oder eine dreiundzwanzigste Etage, auf die zeitgleich auch andere Menschen wollen. Neu hinzusteigende oder Aussteigende verlängern jenes unangenehme Martyrium, das der Preis für 78 oder 156 unnötig gelaufene Treppenstufen ist.

Es ist schon erstaunlich, dass bisher offenbar noch niemand auf die preiswerte kleine Idee kam, wenigstens ein Plakat mit ausreichend groß geschriebenen Sinnsprüchen aufzuhängen, die von allen zur Erbauung gelesen werden könnten. Man könnte auch lustige Comics aufkleben für jene, die des Lesens in modernen Zeiten nicht mehr kundig. Oder man könnte preiswert wie zwischen den Flugzeugsitzen doch ein kleines Fernsehgerät installieren, wo die Börsenwerte für weiteren Adrenalinschub sorgen, bevor man das Büro betritt und sich nicht über die Mimik des Chefs dann noch wundern muss. Die Idee, Werbung anzubringen, will ich dabei gar nicht denken.

Doch irgendwann öffnet sich für jeden die Tür zur richtigen Etage. Nicht wenige Menschen, die spontan unbewusst dann sehr tief durchatmen. Geschafft. Ohne zu realisieren, welchem nonverbalen Stress sie sich gerade unangenehm nun entkommen sind…

— 10. Oktober 2010
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