Vernichtungsfeldzug. Delete

Über die problematische Fülle der Kreativität, schreibt Christa Schyboll

Droht Leben vor lauter Fülle zu bersten, passiert ein Unglück. Oder ein Ungemach. Ein Eingriff von irgendwoher. Und kommt niemand, der endlich aufräumt, muss man es halt selbst tun. Die Fülle stoppen, das Wuchern und Wuchern des allzu Üppigen. Allein damit eine neue frische Fülle Platz zum Wachsen und Sein erhält.

Man muss etwas vernichten, wenn es sich nicht selbst vernichtet. Das ist grausam und natürlich zugleich. Unumgänglich, weil Platz, Raum, Zeit in unserer Erdenwirklichkeit nun einmal endlich ist.

Unendlich dagegen ist die Fantasie. Diese herrliche Unauslotbarkeit. Diese ewige sprudelnde Quelle, die alles umfangen will und sich wie Urwaldlianen in die feinsten Ritzen des Lebens schlängelt. Sie erobern sich die dunkelsten Ecken und verzweigen sich mit filigranen Tentakeln auch im wilden Gestrüpp menschlicher Haare, kriechen unter Fingernägeln und beheimaten sich neu zwischen gekühlten Bits und Bytes. Sie klauen Raum. Überall.

Aber irgendwann wird es damit zu viel. Dann braucht es den Tod dieses Seins der ausufernden Fantasie. Kommt er nicht freiwillig, braucht es die Hand eines Meuchelmörders. Meine Hand, wenn's kein anderer tut.

Meine Waffe heißt: delete.

Es ist ein Knopfdruck. So einer in der Art wie sie die Mächtigen der Welt haben, falls ein Atomkrieg befehligt werden muss. Rot. Auch wenn er grau, blau oder schwarz ist. Er stellt sich rot. Ohne rot geht es nicht.

Ich werde zur Gedankenmörderin in eigener Sache. Ich muss meucheln, was ich liebe, damit das, was bald geliebt werden will, Raum in mir greifen kann.

So lange meine Innenräume des Seins und meine Dateien in den Speichern der Wirklichkeit vor schierer Masse überquellen, weil ich sie nicht mehr erfasse, überschaue, durchblicke, kann nichts Neues geboren werden. Aber das Neue sehnt sich nach Leben. Da muss Altes sterben. Anders geht es nicht.

Ist es sterbenswürdig? Nein. Deshalb die Hemmung. Der Schmerz. Das schlechte Gewissen. Löschen, was Leben will. Das im Werden war. Das doch nur Luft zum Atmen brauchte. Das meine Aufmerksamkeit ersehnte. Etwas, das bearbeitet werden wollte, gefeilt, geölt, gepflegt, bedacht… geliebt.

All das leiste ich nicht mehr, wenn ich lösche, um dem Neuen Raum zu geben. Welch eine Verschwendung. So viel war schon in die Schwangerschaft der Gedanken investiert. So viel in das bereits begonnene Leben, das nun nicht mehr zur Reife kommt.

Das Morden spannender Gedanken, die mich schon seit Jahren begleiten. Die ich bewegte. Die mich bewegten. Ein Tanz.

Es ist eine Tragödie. Eine von den vielen stillen, von denen die Welt keine Notiz nimmt. Die Welt ist weiterhin mit den lauten Tragödien beschäftigt. Mit fließendem Blut, mit ertrunkenen Menschen, mit vergewaltigten… ach, was… Die Welt hört nicht das Wispern meiner sterbenden Gedanken, die vor ihrer Zeit wieder abtreten müssen. All diese Fehlgeburten auf allen Ebenen des Seins.

Wären es doch nur schlechte Texte gewesen! Aber nein, das waren sie nicht. Das macht es schwer. Gut. Manch einer von ihnen schon. Aber nicht die Masse, die nun die Welt menschlicher Aufmerksamkeit verlassen müssen. Manche anfänglich, aber vielversprechend. Andere unreif, jedoch tief angelegt. Vieles zu lang, zu detailverliebt und immer noch nicht am Ende… weil, ja weil die Fantasie quillt und quillt und keine Ruhe gibt. Eine Blähung, fragt man sich ängstlich.

Und was ist mit der Struktur? Einem Plan? Einer gesunden Distanz? Was ist mit Disziplin, mit sinnvollem Minimalismus, mit Ästhetik, die sich aufs Wesentliche konzentriert? All das fehlt eben noch!

Ich habe mich unter eine Folter begeben. Und ich bin mein eigener Folterknecht. Deshalb kann ich auch nur selbst mit von dieser Folterbank abschnallen und erlösen. Der Preis ist hoch. Delete. Löschen, was leben will. Gedankenkinder, die frei sein wollen… aber auch geliebt und beachtet.

Halt! Halt! Was soll man denn nur von diesem Gerede halten? Geht's hier denn nur noch um Zwanghaftigkeit? Nein, nur um die natürlichen Zustände schwerwiegend lastender Kreativitätsschübe, die einfach kein Ende finden. Welche, die in der Vergangenheit so großartig in die Zukunft angelegt wurden, dass sie den Widrigkeiten der Gegenwart trotzen… und dennoch an der eigenen Fülle ersticken.

Das macht mich fertig.

Der notwendige Vernichtungszug einer Gedankenmörderin, die doch nur Gebärerin sein will. Leben und Überleben wechseln in mir dynamisch die Seiten. Meist lebe ich, wenn ich lebe. Aber manchmal überlebe ich auch nur bloß, wenn ich lebe.

Und bin ich wieder einmal in diesem schieren Überlebensmodus, dann lösche ich.

Lasse los, gebe frei, löse… und erlöse meine Gedanken von mir… und mich von mir selbst.

— 16. Januar 2022
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