Verschlossene Türen, verrammelte Herzen

Über die Vertrauensseligkeit der Menschen schreibt Christa Schyboll

Vermutlich gibt es keine weitere Lebensform auf der Erde, die sich regelmäßig dermaßen gegenseitig ärgert, kränkt, betrügt und belügt – als: der Mensch. Viele andere Lebewesen (meist tierische Fleischfresser) geben sich mit diesen feinsinnigeren Mechanismen untereinander erst gar nicht ab, sondern fressen sich gleich gegenseitig auf. Immerhin! Kannibalismus ist unter Menschen im Wesentlichen überwunden. Kleine Ausreißer aus der Gruppe der Abartigen sind zum Glück verschwindend gering.

Wir (fr)essen uns nicht, töten uns aber. Dafür haben wir Methoden entwickelt, wovon Krieg nur eine von vielen ist. Im Vorfeld oder auf anderen Nebenschauplätzen des Lebens wird dafür etwas anderes getestet: Unsere immer wieder neu schwankende Vertrauensseligkeit in die eigene Spezies.

Ohne Vertrauen ist ein Leben kaum lebenswert zu leben und zu genießen. Dennoch lauert aller Orten auch der Betrug, der Vertrauensbruch. Der Grund ist einfach: Moralisch gesehen ist die Menschheit extrem unterschiedlich entwickelt. Während die einen Eigentumsbegriffe aus politischer Überzeugung ablehnen, tun andere das aufgrund ihrer hohen kriminellen Energie. Du hast was, was ich brauche? Her damit! Und bist du nicht willig, dann brauch ich Gewalt.

"Zuviel Vertrauen ist häufig eine Dummheit, zu viel Misstrauen ist immer ein Unglück." Meinte einst Johann Nestroy. Nicht umsonst sind Sendungen wie Aktenzeichen XY ungelöst auch nach Jahrzehnten noch Quotenhits. Sie bedienen unsere Wirklichkeit, unsere Realität, die Gegenwart und damit auch die Zukunft, die grundsätzlich in der Gegenwart geschmiedet wird. Das Problem: Durch die äußerst unterschiedliche moralische Haltung zu Gewalt und Eigentum stoßen da zwei Gruppen aufeinander, wo Vertrauen nicht angesagt ist.

Aber was stattdessen? Gegengewalt? Soll ein neunzigjähriger Greis im ersten Schlummerschlaf einen 20jährigen Vollbulli-Einbrecher etwa knock out schlagen? Klappt meist nicht (obschon: schön wär's!). Es gibt keine Sicherheiten, die uns davor schützen, auch einmal Opfer einer Gewalttat zu werden, zu der wir uns selbst niemals mehr hinreißen ließen.

Oder schauen wir kurz auf die softige Variation des Vertrauensbruchs unter Menschen. Ein Anruf. Harmlos, freundlich, eine Frage… und man sagt an irgendeinem Punkt ein wahrheitsgemäßes Ja. Zack! Man ist im Sack! Das authentisch stimmliche JA ist gespeichert und wird später passgenau eingefügt. In einen Vertrag, den man nie geschlossen hat. Jetzt aber schon. Man hat ja JA gesagt. Wozu? Das interessiert niemanden mehr. Das JA mit der eigenen Stimme steht. Und nun kann man überlegen, ob man sich auf eine lange Prozessserie vor Gericht einstellen mag oder sich das zu allem Übel nicht auch noch antun will… und zahlt.

Letzteres kostet nur Nerven und Geld. Oft aber geht es auch um Leben und Tod. Und warum? Weil der liebe Gott sich wohl dachte: Ei, die Sache unter der Menschheit ist doch viel spannender, wenn sie sich in Punkto Moral schön unterschiedlich entwickeln und das auch in ihren Taten darstellen. Das schärft das Gesamtpaket der Möglichkeiten und macht Entwicklung doch um einiges spannender! Und um dieses Problem zu überwinden, müssen sie halt lernen: sich gegenseitig zu vertrauen! Dann wird das schon. Auch wenn's ein paar Millionen Jährchen dauert. Ich habe ja Zeit!

Tja, Dankeschön für diese geniale Idee. Und auch dafür, dass es nicht ausreicht, das eigene Haus zu verrammeln, um möglichst kein Opfer zu werden, sondern zugleich auch sein Herz vor so manchem zu verschließen, wo es doch viel lieber offengeblieben wäre. Denn wir haben ja im Schnitt nur 70-90 Jahre Zeit – und nicht Millionen, o Schöpfer!

— 14. Juni 2022
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