Lügen

Die vielen Kumpane der Unaufrichtigkeit. Von Christa Schyboll

"Die Lüge ist schlicht die ideale Sprache der Seele", behauptet Fernando Pessoa. Hat er recht? Und wieso "ideal", wenn doch die Seele ständig mit Reinheit assoziiert werden will?

Lügen wir uns nichts in die Tasche. Es gibt wohl kaum einen Menschen auf Gottes schöner Erde, der nicht hin und wieder die Lüge als Mittel der Wahl benutzt.

Dennoch ist es ein Unterschied, ob dies inflationär geschieht oder höchst selten einmal in einer persönlichen Not. Oder ob jede Kleinigkeit zur "höchstpersönlichen Not" hochgeschaukelt wird, damit man sich selbst beim Lügen ein Alibi für einen schnellen Gebrauch schafft und die Sache des schlechten Gewissens umgehen kann? Oder ob man die Lüge auf raffinierte Weise so darstellt, dass man sich vor allem damit am Ende gründlich selbst belügt? In dem man sie verschleiert, verharmlost oder ihr geradezu niedliche Eigenschaften andichtet, die sie in einem milderen Licht erscheinen lässt?

Der menschliche Verstand ist clever vorgegangen. Zumindest in der deutschen Sprache hat er der Lüge gleich eine ganze Reihe von heimlichen Kumpanen an die Seite gestellt, wenn sie selbst sich gern verschämt versteckt. So kennen wir im Umgang mit anderen zum Beispiel die leichte Schwindelei, die Unaufrichtigkeit, die Täuschung, die Entstellung, den Trug oder die Flunkerei. Manchmal sprechen wir auch gern von Phantasie oder Erfindung, von Ausreden oder von Ammenmärchen. Da das aber alles noch nicht ausreichte, hängte man der Lüge einen noch viel weiteren Mantel für ihren Aktionsradius um. Deshalb kamen noch die Maskerade, das falsche Versprechen oder die Lippenbekenntnisse dazu, die nichts wert sind, wie wir wissen. Auch wollen wir das Jägerlatein, den Vorwand, die Finte, die Ausflucht dabei nicht vergessen, unter denen sich die Lüge gern maskiert. Hin und wieder deckt man so manch eine – wohl eher verzeihliche - Lüge auch mit Begriffen wie Seemannsgarn, Räuberpistole, Münchhausiade gerne zu, wo es zumindest aber häufiger etwas zu lachen oder staunen gibt. Im Falle von Arglist, Scheinheiligkeit, Täuschung, Heuchelei oder Tücke geht’s oft schon bösartiger zu. Aber auch das Blendwerk, die Illusion, der Schein, die Vorspiegelung falscher Tatsachen, Irrlicht oder Wahn sind der Lüge oft nah verwandt. Und wohin soll man die Halluzination, Fata Morgana, das Hirngespinst, das Blendwerk, den Anschein oder das Trugbild verorten? Wohin die Bauernfängerei, die Fälschung, die Gaunerei, die Hintergehung, die Irreführung, die Machenschaft, Mogelei, Nepp, Pfusch oder Prellerei? Was ist mit Schiebung, Schwindel, Bluff und fauler Ausrede? Hat nicht jeder dieser vielen Begriffe eine feine Nuance, die sich ein wenig voneinander unterscheidet und dennoch irgendwie die Lüge in ihrem Kern trägt?

Allein diese Begriffsvielfalt zeigt auf, wie sehr die menschliche Seele tatsächlich mit einer ihrer Eigenschaften ihr überaus buntes Treiben liebt, dass sie so viele Varianten davon erschuf. Lügen sind oft nah an der Wahrheit. Aber sie sind nicht die Wahrheit. Warum die Seele des Menschen die Unwahrheit so oft der Wahrheit vorzieht und dann zu dieser Vielfalt von Verharmlosung oder Verschleierung greift, ist zumeist die Angst oder die Not im Augenblick der Wahrheit, vor wem oder was auch immer. Gleich gefolgt von der Bequemlichkeit, Lustlosigkeit, Faulheit oder der Gier.

Ist eine Lüge aus Not verzeihlicher als die aus reiner Abstumpfung, Trägheit und Phlegma? Ich mag mir kein Urteil erlauben. Aber dass und warum die menschliche Seele offensichtlich so unglaublich oft mit diesen vielen Abarten und Möglichkeiten der Lüge spielt, sollte zu denken geben. Sie scheint ganz offenbar daran Gefallen zu finden. Sonst hätte sie der Lüge nicht so viele Alibi-Kumpane im Laufe der Menschheitsgeschichte an die Seite gestellt.

— 23. November 2013
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