Zu Weihnachten

Wunderliche Brieflein, von Christa Schyboll

Man weiß ja gar nicht mehr, was man noch schenken soll. Doch eines ist gewiss: Was den meisten Menschen heute fehlt: ist Zeit!

Also schenken wir Zeit. Nun könnten wir profan Zeit-Gutscheine schenken. Kinderhüten, Rasenmähen, Fensterputzen, Omaversorgen, Blumenbesprechen. Aber das hatten wir schon. Das ist kein mentaler Einschlag mehr ins Wunschbewusstsein Ihrer Liebsten. Vermutlich erwarten sie dann sogar noch ein größeres Zeitbudjet als vorletztes Jahr und begründen es mit der Inflationsrate, der auch die Zeit unterworfen ist. Rast sie schneller, und das tut sie, muss der Gutschein erhöht werden. Nicht nur Rasenmähen im Mai, sondern auch noch den ganzen Juni hindurch.

Nein, unser Zeitgeschenk ist klüger angelegt. Denn wir selbst haben ja auch sehr wenig davon. Wir variieren das Zeitgutschein-Geschenk und verschenken nicht verschwenderisch die eigene Zeit, sondern die des Beschenkten an ihn selbst. Mit anderen Worten: Wir helfen ihm Zeit sparen! Das ist ökonomisch für beide Seiten und hilft enorm, das Verhältnis untereinander ein wenig zu entspannen, das seit den Zeitgutscheinen doch ein wenig in Schieflage geriet. Doch nicht nur das: Wir fördern damit auch seine gute Laune, seine Gesundheit, seine Fröhlichkeit, die er ansonsten mit Flüchen und Verzweiflungsausbrüchen verbringen würde. Wir verschenken Erinnerung!

Und zwar in Form von kleinen Briefchen. Diese Briefchen sind für alle jene Menschen hervorragend geeignet, die einfach keine Zeit haben, sich mit lästigem Kleinkram das Erinnerungsvermögen verstopfen zu lassen. Das ständige Kompetenzgerangel zwischen dem Kurzzeitgedächtnisareal Hippocampus und der Großhirnrinde ist lästiger Störfaktor im Alltag. Damit ist jetzt Schluss. Bald herrscht Frieden im Oberstübchen. Keine falschen Schuldzuweisungen mehr – der cleveren Weihnachtsidee sei Dank!

Die Briefchen sind Wegweiser durch die alltägliche Demenz, die auch Jugendliche häufig befällt. Hier ein paar Beispiele, wie Sie ein solches Geschenk umsetzen können.

Brieflein eins: Umschlagaufschrift: „Ich hänge immer unter dem Spiegel in der Garderobe!“ Inhalt: „Dein Ersatzschlüssel liegt in Omas Suppenschüssel unter der Serviette. Leg ihn nach Benutzen sofort dorthin zurück. Dann sparst du Zeit. Den verschollenen Schlüssel ersetze unmittelbar. Lass das Suchen sein. Findest du ihn trotzdem, so lege ihn in Omas Suppenschüssel zum Ersatzschlüssel. Brieflein zwei hängt in der Innenseite der Garderobentür!“

Brieflein zwei:

Umschlagaufschrift: „Ich hänge in der Innenseite der Garderobentür.“

Inhalt: Wenn Brieflein eins verschollen ist, sei daran erinnert: Der Ersatzschlüssel liegt in Omas Suppenschlüssel mit eventuell weiteren Ersatzschlüsseln, die notwendigerweise angeschafft werden mussten. Du brauchst nicht weiter zu suchen. Spar dir die Zeit. Du besitzt einfach genug Schlüssel. Und denke daran: Du besitzt auch eine Ersatzbrille, einen Ersatzpass und ein Ersatzportemonai, das mit mindestens 70 Euro gefüllt ist. Diese Dinge sind in Brieflein drei, vier und fünf zu finden und weisen Dir immer wieder den Weg zum Ersatzschlüssel, damit du die Brieflein alle auch finden kannst. … Brieflein drei ist in der obersten Schublade des Schuhschranks zu finden….“

Anzahl und Grad der Vernetzung einer solchen Briefodyssee hängen vom Grad der Alltagsdemenz ab. Manche Menschen verwechseln auch ihren Partner oder ihre Kinder, da heute eh alle die gleichen Klamotten tragen und verbal ähnlich obercool drauf sind. Hier helfen kleine Brieflein im Schlaf- oder Kinderzimmer.

Zum Beispiel: „Meine Frau ist eigentlich blond.“ Eine solche kleine Erinnerung könnte man sicherheitshalber auf das Nachtschränkchen legen, falls man einmal unsicher sein sollte, warum eine dunkelhaarige Schönheit plötzlich neben einem liegt. Oder im Kinderzimmer könnte man hinterlassen: „Hier wohnt Lea. Lea ist oberschlampig, aber ich liebe sie.“ Ist das Zimmer aufgeräumt, sollten alle Alarmglocken schrillen.

So schenken Sie nicht nur Zeit, sondern auch Nerven, Vertrauen, Gesundheit. Sie schenken Liebe sozusagen, weil Sie den Beschenkten auf eine Weise beglücken, die jedes materielle Geschenk aufs Abstellgleis der Phantasielosigkeit verbannt.

— 19. Dezember 2011
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