Weisheit

"Wage es, weise zu sein!" (Horaz) Von Christa Schyboll

Weisheit in Form eines wissenden Schweigens, das die Kunst der Zurückhaltung beherrscht und den Sucher auf seiner Suche damit auf besondere Weise stärkt, ist vermutlich die Königsdisziplin für den Menschen.

Unter Weisheit verstehen wir im allgemeinen die Fähigkeit, durch tiefe Einsichten das feine und komplizierte Zusammenspiel von Leben, Natur, Menschheit, Kultur und Gesellschaft zu durchdringen und dabei eine herausragende ethisch-moralische Grundhaltung zu entwickeln, die nicht nur gedacht und gefühlt, sondern auch gelebt wird.

Die Weisheit selbst speist sich dabei aus gleich vielen Faktoren. Diese bieten unter anderem die Plattform dafür, damit auch die Weisheit durch den Menschen zum Zuge kommen kann. Dazu gehören unter anderem zum Beispiel unser Wissen und unser Verstand, unsere Intuition und unser Gefühl, unsere Klugheit und das selbstkritische Erkennen unserer Torheiten und Schwächen, eine innere Unabhängigkeit, einen gesunden Gerechtigkeitssinn, eine überaus klare Selbstreflexion und der Spannungsbogen zwischen Welt zugewandter Diesseitigkeit und gleichzeitiger Offenheit für Transparenz.

Weise Menschen sehen die Zusammenhänge allen Geschehens tiefer und gründlicher an, würdigen auch jene Umstände, die nicht immer gleich offensichtlich erkennbar sind. Sie ziehen einfach mehr Faktoren vor einer Urteilsbegründung in Betracht. Viele Weise schenken uns ihr Wissen. Aber in manchen Fällen schweigen sie absichtlich, weil ihnen klar ist, dass ihr offenes Wort dem anderen eine wichtige Chance nimmt. Weisheit in Form eines wissenden Schweigens, das die Kunst der Zurückhaltung beherrscht und den Sucher auf seiner Suche damit auf besondere Weise stärkt, ist vermutlich die Königsdisziplin für den Menschen.

Seit einigen Jahrzehnten schon versuchen Wissenschaftler ernsthaft, Weisheit zu messen. Dabei muss die Weisheit zunächst eine eingrenzende Definition erfahren, um sie wissenschaftlich überhaupt untersuchen zu können. Eine gewisse Absurdität liegt diesem Akt schon zugrunde, wenn man bedenkt, dass die Weisheit letztlich eine unüberschaubare Größe für den Menschen ist, die über Zeit und Raum ihrem Wesen nach hinausgeht und keineswegs eine lediglich allein ans Hirn gebundene Leistung des Intellekts darstellt. Dennoch können solche wissenschaftlichen Zwischenergebnisse ja durchaus einmal spannend sein. Definiert wurde in einem der neueren Versuche die Weisheit übrigens als tiefe Einsichts- und Urteilsfähigkeit, um schwierige Probleme des Lebens zu erkennen oder zu durchdringen. Ob solche Probleme immer auch zu lösen sind, hängt nicht von der Weisheit eines Weisen alleine ab, sondern von den Gesamtumständen für die im Prozess Verquickten.

Beim wissenschaftlichen Versuch, von dem hier die Rede ist, wurden 1200 Menschen über Jahre hinweg befragt. Ihnen wurden fiktive Lebensaufgaben gestellt, über die sie laut nachdachten. Diese Denkprotokolle wurden dann von Juroren beurteilt. Dabei wurden verschiedene Weisheitskriterien herausgefiltert. Es wurde zum Beispiel gefragt, wie jemand zum Beispiel mit der Ungewissheit des Lebens umgeht. Wie gut jemand in der Lage ist, neue Informationen und Einsichten auf einmal getroffene Entscheidungen anzuwenden und diese in Frage zu stellen. Weiter wurde nach dem Wertrelativismus gefragt. Die Juroren vergaben Punkte für diese Denkprotokolle. Interessant waren dabei durchaus die Ergebnisse. Nämlich zum Beispiel, dass man den Zusammenhang mit dem Bildungsniveau vernachlässigen kann. Prof. Staudinger erwähnte in einem Interview zu diesem Experiment, dass es keinesfalls so wäre, dass gebildete Menschen weisere Antworten gäben. Das dürfte so manch einen Gebildeten durchaus erstaunen.

Interessant ist auch die Sache mit dem Einfluss der Intelligenz auf die Weisheit. Auch hier berichtete Prof. Staudinger in einem Spiegel-Interview, dass es sich in etwa ähnlich verhalte, wie mit der Bildung. "Der eigene Geist sollte in der Lage sein, Probleme zu erkennen und die Erfahrung, die man einzubringen hat, anzuwenden, sonst nützt mir ja alles nichts, was ich weiß. Wenn das nicht gewährleistet ist, nützt ein Mehr an Intelligenz gar nichts. Im Gegenteil: Zu intelligente Menschen haben eine Tendenz, die eigenen Erfahrungen und Wertvorstellungen zu wichtig zu nehmen, und bringen nicht das Einfühlungsvermögen und die Empathie auf, die für die weise Behandlung eines schwierigen Problems nötig ist."

Auch das biologische Altern allein fördert gewiss nicht die Weisheit, wie wir selbst oft an unseren Mitmenschen erleben. Einen rapiden Anstieg gibt es nach der Studie von der Pubertät bis etwa Mitte 20. Vorher existiert diese Art von Erkenntnis gar nicht. Und danach gewinnen wir nicht automatisch mit jedem Lebensjahr mehr Einsichten - es sei denn man übt bestimmte Tätigkeiten aus, die die Weisheit fördern, wie Ärzte Theologen, Richter und ähnliche Berufe, die sich viel mit dem Menschen und den Werten auseinandersetzen. Aber auch außerhalb solcher Berufe wird die persönliche Weisheit davon beeinflusst, wie sehr man offen für Neues ist und dann auch Nutzen aus seinen Erfahrungen zieht.

Warum aber begegnen wir so selten Menschen, die wir selbst für weise halten? Ist es vielleicht ein wenig auch die innere Fixierung auf die eigene Lebensart und die eigenen Lösungen, die wir selbst unbewusst bevorzugen? Kann es nicht sein, dass wir Weisheit auch einfach deshalb oft übersehen oder überhören, weil wir sie weder durchschauen, noch überschauen? Weil wir selbst noch zu festgefahren in den eigenen Gewohnheiten stecken? Oder bilden wir uns vielleicht über unser Wissen zuviel ein und haben den Blick verstellt? Zudem ist es doch so, dass das "Kleinere" (Normalbewusstheit) das "Größere" (die Weisheit) oftmals deshalb nicht erkennt, weil dem Kleinen oder Niederen zwangsläufig die Tiefenschärfe für das Größere oder Höhere fehlt, weil es ja sonst nicht darunter stände?

Begegnen wir umgekehrt vielleicht am Ende sogar vielen Weisen im Leben und sind nur durch die eigene Blindheit daran gehindert, sie als solche auch zu erkennen?

Horaz forderte uns auf: "Wage es, weise zu sein!"… Weisheit ist also auch noch ein Wagnis? Ja. Neben dem Vermögen und dem Talent, das der Weise für diese hohe Kunst braucht, braucht er auch den Mut, sich vom Durchschnittlichen, Normalen abzusetzen und Außenseiter zu werden, der gewiss mit seiner Sicht auf die Dinge auch die Last der Einsamkeit oft zu tragen hat und diese Last freiwillig in Kauf nimmt.

— 02. September 2013
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