Mamaya

Über Zeitverschwendung und Lebensqualität sinniert Tom Borg

Asiaten sagt man nach, dass sie ein eher laxes Verhältnis zur Pünktlichkeit haben. Als pünktliche geschäftstüchtige Westeuropäer denken wir gewinnoptimierend, kalkulieren unsere Zeit perfekt durch, auf dass ja keine Minute ungenutzt verstreicht. Aber was bringt uns wirklich Gewinn? Was macht unser Leben lebenswert?

Asiaten sagt man nach, dass sie ein eher laxes Verhältnis zur Pünktlichkeit haben. Einen Termin exakt einzuhalten, gilt fast schon als Affront. Auf den Philippinen ging die Unpünktlichkeit einmal so weit, dass sich ein Präsident genötigt sah, sein Volk zu mehr Pünktlichkeit zu ermahnen – und kam prompt selbst am nächsten Tag zu einem Termin eine Stunde zu spät.

Auch für mich als Ehemann einer Filipina war „mamaya“ eines der ersten Wörter das ich in ihrer Sprache erlernte. Dieses philippinische Wörtchen meint übersetzt in etwa „später, demnächst, gleich“. Im praktischen Leben bedeutet es quasi alles von sofort bis nie. Wann gibt es Abendessen? Mamaya! Wann gehen wir nach Hause? Mamaya! Und selbst als ich auf den Philippinen in einem Jeepney saß und die Minuten vergingen und das Gefährt sich einfach nicht in Bewegung setzen wollte, da lautet die Antwort auf meine Frage wann es denn endlich los ginge: Mamaya. Philippinische Jeepneys, immerhin das wichtigste Personentransportmittel in Stadt und Land, kennen keinen Fahrplan. Sie fahren dann los, wenn der Fahrer meint, sein Kleinbus wäre ausreichend voll besetzt, was wiederum abhängig von Ort, Tageszeit und Fahrer völlig unterschiedlich beurteilt wird.

Und die Menschen, die im Jeepney sitzend warten? Die stört das nicht im geringsten. Sie sind es gewohnt, es ist der normale Tagesablauf. Während ich Langnase ungeduldig auf meinem Platz hin und her rutsche und auf die Abfahrt warte, nutzen die Filipinos diese Zeit, um sich mit den anderen auszutauschen. Da wird über Nachbarn, die Ernte, den Geburtagstag der Oma, die Geburt eines Enkels und was sonst noch alles getratscht. 10 Minuten Wartezeit in einem Jeepney ersetzen spielend eine ganze Tageszeitung. Und das erstaunlichste ist: Die Gesprächspartner haben ehrliches Interesse daran. Sie lächeln nicht nur während sie sich denken: kann der denn nicht endlich mal die Klappe halten. Nein, sie interessieren sich für alles und jeden. Da fallen Namen von Menschen die keiner kennt, aber man merkt sie sich; man hat Anteil am Leben des anderen, den man vielleicht gar nicht kennt. Und während alles kunterbunt umher schnattert und der Fahrer erstmal losgeht, sich Zigaretten zu kaufen, merkt keiner, wie die Zeit vergeht und dass der Jeepney immer noch nicht losgefahren ist. Schlimmer: es stört auch keinen.

Anfangs wunderte ich mich über diese Einstellung, später nahm ich sie dann hin im Sinne von „andere Länder, andere Sitten“. Und erst viel später begriff ich, was da wirklich vor sich ging. Nämlich als ich zurück in Hamburg vor dem Flughafen stand, inmitten hoher Schneeberge und mit zwei Geschäftsleuten neben mir die wild auf ihre Handys einhakten und beide genervt darüber stöhnten, wo denn die ganzen Taxis blieben. Die steckten im Schnee – und die Geschäftsleute in ihrer Erregung. Geschlagene 15 Minuten, eine gefühlte halbe Ewigkeit, haben sie nur geschimpft und sich gegenseitig den Blutdruck in die Höhe getrieben mit ihrem Gezetere über die nicht kommenden Taxis. Was hätten Filipinos mit einem Lächeln auf den Lippen in der Zeit alles ausgetauscht… Zeit ist Geld? Ja, Geld geben wir mit vollen Händen aus, um geschäftliche und soziale Kontakte anzubahnen. Kontakte, die manchmal direkt neben uns stehen aber nicht wahrgenommen werden, weil jeder krampfhaft überlegt, wie er an neue Kontakte kommt anstatt die zu sehen, die ihn gerade anlächeln. Wertlose Kontakte? Sinnlose Zeitverschwendung? Wer kann schon die Qualität von zufälligen Kontakten berechnen? Alleine der Begriff „Qualität eines Kontakts“ klingt lächerlich wenn man bedenkt, dass es im Leben oft auf Erfahrungen ankommt, die man irgendwann gemacht hat. Eine Bemerkung, die man irgendwann aufgeschnappt hat, eine Meinung, die man irgendwann gehört hat. Manchmal wird man Jahre später daran erinnert und kann etwas positives daraus gewinnen.

Als pünktliche geschäftstüchtige Westeuropäer denken wir gewinnoptimierend, kalkulieren unsere Zeit perfekt durch, auf dass ja keine Minute ungenutzt verstreicht. Aber was bringt uns wirklich Gewinn? Was macht unser Leben lebenswert? Sind es nicht vielleicht doch diese kurze Momente der Ruhe, des Wartens, des Austauschs mit anderen? Das freundliche Lächeln des Gegenübers, sein aufrichtiges Interesse an dem was wir mitzuteilen haben? Sind diese zufällige alltägliche und selbstverständliche soziale Kontakte nicht vielleicht doch wertvoller für ein erfülltes Leben als ein professionell durchgeplanter Terminkalender? Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken - später, irgendwann, mamaya…

— 14. Oktober 2010
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