Ein Bild seines Lebens und Wirkens

Nachdem Kleist den Winter über meist in Berlin verlebt, kam es im Frühling 1891 mit seinem Reiseplan zu einer neuen und entscheidenden Krisis. Das Leben in Berlin hatte ihn immer unruhiger und unzufriedener mit sich selbst gemacht, und die Philosophie, anstatt ihn zu trösten, hatte ihn an sich selbst verzweifeln gemacht, und mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit beschließt er plötzlich, den Wissenschaften den Rücken zu kehren, weil er – keine Wahrheit darin finden konnte, nicht die mit aller Kraft seiner Seele von ihm gesuchte Wahrheit. Der entsprechende Brief an seine Wilhelmine ist vom 22. März 1801. Auch dieser ist wieder eine ganze Abhandlung, in welcher er auf die bisher von ihm geträumte Bestimmung des Menschen und auf den Zweck der Schöpfung kommt, welcher Vervollkommnung sei: »Ich glaubte, daß wir einst nach dem Tode von der Stufe der Vervollkommnung, die nur auf diesem Sterne erreichten, auf einer andern weiter fortschreiten würden, und daß wir den Schatz der Wahrheiten, den wir hier sammelten, auch dort einst brauchen können. Aus diesen Gedanken bildete sich so nach und nach eine eigene Religion und das Bestreben, nie auf einen Augenblick hienieden stille zu stehen, und immer unaufhörlich einem höhern Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das eigene Prinzip meiner Tätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig ist ...« Nach weiterer Ausführung des Gedankens kommt er dann zu dem schmerzlichen Resultat, daß unser Verstand uns keine Bürgschaft dafür gibt, ob wir richtig erkennen und urteilen: »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist es das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich ...« Sein Seelenzustand muß, nach diesem Briefe zu urteilen, in dieser Zeit ein tief trauriger gewesen sein, und einige Linderung empfand er nur darin, sich darüber, wenn auch nur brieflich, aussprechen zu können. Aus diesen seinen Briefen an Wilhelmine erkennen wir aber auch, daß er seine Braut fortwährend auf harte Geduldsproben stellte. Und jetzt stand sein Entschluß fest, zu reisen, denn er sehnte sich »ins Freie«, weil er im Freien auch freier werde denken können; denn in Berlin, schreibt er, finde er nichts, was ihn auch nur auf einen Augenblick erfreuen könnte; unter Fremden aber hoffte er, sich wohler zu befinden als unter Einheimischen, die ihn für verrückt halten müßten, wenn er es wage, sein Innerstes zu zeigen.

Die Reise nach Paris, denn dieses blieb auch jetzt sein Ziel, wollte er mit seiner Schwester Ulrike machen, und diese hatte ihm schon zugeschrieben, deshalb nach Berlin zu kommen. Einen bestimmten Zweck dieser Reise hatte er jetzt nicht mehr, nur der Drang nach einer gründlichen Veränderung seiner Lage war es, was ihn erfüllte. In seinem vorletzten Briefe aus Berlin an Wilhelmine schickte er dieser sein Miniaturbild, das er für sie hatte malen lassen, und schrieb dabei: »Mögest Du es ähnlicher finden als ich. Es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht gefällt; ich wollte, er hätte mich ehrlicher gemalt.« Aus demselben Briefe aber geht auch hervor, daß ihn das Unternehmen seiner Reise schon fast gereute. Er wäre auch in seiner jetzigen Stimmung lieber allein gereist, aber er hatte seiner von ihm so sehr geliebten und verehrten Schwester das Versprechen gegeben, sie bei einer Reise ins Ausland mitzunehmen, und so erwartete er ihre Ankunft in Berlin. Im April 1801 trat Kleist mit seiner Schwester die Reise an, welche zuerst nach Dresden führte. Hier verweilten sie ein paar Wochen, besuchten die Umgegend, die sächsische Schweiz, Freiberg und Teplitz, und machten in Dresden selbst angenehme Bekanntschaften. Besonders waren es zwei Schwestern, Fräuleins von Schlieben, welche ihm große Sympathien erweckten, weil sie, wie er selber an seine Braut schreibt, »arm, freundlich und gut« waren, »drei Eigenschaften, welche zusammengenommen mit zu dem Rührendsten gehören, das ich kenne.« Von Dresden reisten Kleist und seine Schwester (stets mit eigenem Geschirr) nach Leipzig, von dort nach Göttingen, Halberstadt, Mainz und Köln.

Sein erster Brief aus Paris ist vom 18. Juli datiert und an die eine der Fräuleins von Schlieben in Dresden gerichtet. Der Brief ist sehr warm und herzlich, aber der Inhalt läßt kein anderes Gefühl als das der Freundschaft und des innigsten Wohlwollens erkennen. Ueber seine Eindrücke in Paris schreibt er nur wenig, mit Gleichgültigkeit und auch mit Verachtung, dagegen erinnert er sich an alles Gute und Schöne, das er in dem lieben und herrlichen Dresden genossen und gibt dann überaus beredte und wahrhaft dichterisch schöne Schilderungen von der Großartigkeit des Rheins. Der Brief enthält aber auch ein paar sehr merkwürdige Stellen, welche wieder dartun, wie er ganz im unklaren über die fernern Ziele seines Lebens war. Erst berichtet er, daß er in Paris wenigstens ein Jahr bleiben werde, um die Naturwissenschaft zu studieren. Dann aber fährt er fort: »Wohin ich dann mich wende, und ob der Wind des Schicksals noch einmal mein Lebensschiff nach Dresden treiben wird? Ach! ich zweifle daran. Es ist wahrscheinlich, daß ich nie in mein Vaterland zurückkehre. In welchem Weltteile ich einst das Pflänzchen des Glückes pflücken werde, und ob es überhaupt irgendwo für mich blüht –? Ach! dunkel, dunkel ist alles!«

Für einen Jüngling, der seine Braut in Frankfurt an der Oder hatte, klingt dies schon etwas bedenklich. Und wenn auch solche Stimmungen bei Kleist, wie seine Pläne und Entschlüsse, stets nur flüchtig und vorübergehend waren, so erkennen wir doch auch hieraus, daß die heftige Liebe zu Wilhelmine bei ihm mehr in der Theorie bestand als in der Wirklichkeit. Sein nächster Brief an die Braut beginnt zwar herzlich genug: »Mein liebstes Minchen!« Aber gleich fragte er sie dann: Ob sie ihn wohl noch mit solcher Innigkeit liebe, ihm noch mit so vielem Vertrauen ergeben sei wie sonst? Er besorgt jetzt selbst, daß seine Abreise von Berlin, ohne Abschied von ihr zu nehmen, sie verstimmt haben müsse, und kommt dann zu dem seltsamen Geständnis, daß er oft mit sich gekämpft habe, ob es nicht seine Pflicht sei, sie zu verlassen, sie von demjenigen zu trennen, »der sichtbar seinem Abgrunde entgegeneilt.« Dann aber fragte er sich: wenn er sie verließe, ob sie dann wohl glücklicher sein werde? Ob sie nicht auch dann um die Bestimmung ihres Lebens betrogen sei, und ob ein anderer Mann sich um ein Mädchen bewerben werde, »dessen Verbindung weltbekannt ist.« Noch bedeutungsvoller sind im weiteren Verlaufe des Briefes seine Betrachtungen über Leben und Tod. Die Furcht vor dem Tode bezeichnet er als ekelhaft und fährt dann fort: »Das Leben ist das einzige Eigentum, das uns dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten,« – ein Gedanke, den er später in seinem ersten Trauerspiel »Die Familie Schroffenstein« fast wörtlich wiedergegeben hat.

Kleist war in Parts zwar mit einigen Gelehrten bekannt geworden, scheint aber dennoch sich von allem, was ihn wieder zu den Wissenschaften hätte führen können, wieder zurückgezogen zu haben. Es ist begreiflich, daß bei einer Natur, wie die seinige war, in den Verhältnissen der Pariser Gesellschaft nicht nur seine sittliche Strenge zum äußersten Widerstand gegen die moralische Fäulnis sich erhoben hatte, sondern daß seine schon früher ein paarmal geäußerte Sehnsucht nach der Einfachheit und Reinheit der ländlichen Natur mächtiger in ihm wurde. Zwischen den Briefen an seine Braut schrieb er einmal auch an deren Schwester, die er seine »goldene Schwester« zu nennen pflegte, und entwirft in diesem Briefe ein wahrhaft grausiges Bild von den Pariser Verhältnissen, ja von der Abscheulichkeit der Stadt selbst, wobei er offenbar mehr von seiner ausschweifenden Phantasie als von der strengen Wahrheit sich leiten ließ. Die Stadt schildert er als schmutzig, ekelhaft, stinkend, und unter den Bewohnern seien Verrat, Mord, Diebstahl, Ehebruch zwischen Blutsverwandten und Totschlag unter Freunden und Anverwandten Dinge, die täglich vorkommen, und die der Nachbar kaum des Anhörens würdigt. Dabei spottet er von Herzen und mit beißender Satire über die Franzosen, wie sie einen lächerlich hohen Wert auf feine und elegante Formen und Manieren legen; deshalb würden auch Soldaten, mögen sie in den Schlachten noch so sehr sich ausgezeichnet haben, in die Gesellschaften nicht zugelassen, wenn ihnen die nötige gesellschaftliche Eleganz fehle. »Ein Offizier,« schreibt er, »möge eine Tat begangen haben, die Bayards würdig wäre, so ist das hinreichend, von ihm zu sprechen, ihn zu loben und zu rühmen; nicht aber mit ihm in Gesellschaft zu sein. Tanzen soll er, er soll wenigstens die vier französischen Positionen und die fünfzehn Formeln kennten, die man hier Höflichkeiten nennt, und selbst Achilles oder Hektor würden hier kalt empfangen werden, weil sie keine éducation hatten und nicht amüsant genug waren.«

Es ist interessant, wie schon hier Kleists ehrliche Natur gegen das französische Wesen mit solcher Indignation sich auflehnt. Man wird hiernach um so mehr den furchtbaren Haß und patriotischen Radikalismus verstehen, der ihn später gegen die frechen Eindringlinge erfüllte. Die in seinem unruhigen Geiste jetzt revoltierende Idee, die schon durch seine Begeisterung für Jean Jaques Rousseau erweckt worden war, sich nicht nur von den Wissenschaften, sondern von der modernen Zivilisation überhaupt auf die Einfachheit des Natur- und Landlebens sich zurückzuziehen, war begreiflicherweise durch die sittliche Fäulnis, welche bei den Franzosen ihn anekelte, zu einem bestimmten Entschlusse gediehen. Und diesen Entschluß setzt er im Oktober 1801 in zwei Briefen ausführlich seiner Braut auseinander: »Die Wissenschaften«, schreibt er ihr, »habe ich ganz aufgegeben. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie ekelhaft mir ein wissender Mensch ist, wenn ich ihn mit einem handelnden vergleiche. Kenntnisse, wenn sie noch einen Wert haben, so ist es nur, wenn sie vorbereiten zum Handeln.« Dann erinnert er sich wieder an seine geistigen Fähigkeiten und meint, mit »Bücherschreiben« könnte er mehr verdienen, als er braucht. »Aber Bücherschreiben für Geld? nichts davon ... Ich begreife nicht, wie ein Dichter das Kind seiner Liebe einem so rohen Haufen wie die Menschen sind, übergeben kann.« Ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen, ein Kind zu zeugen, das gilt ihm jetzt als die höchste und einzige Weisheit des Lebens – »ich will im eigentlichen Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingendem Worte ein Landmann.« Seine Idee war, im nächsten Frühjahr von Paris in die Schweiz zu gehen, dort sich ein Oertchen auszusuchen, wo er mit Wilhelmine eine Familie gründen könne, der übrigen Welt den Rücken kehrend. Er sagt sich wohl selber, daß seine Braut dagegen Bedenken haben könne, und er redet ihr kaum zu, ihm in das Asyl der Ländlichkeit zu folgen, sondern sucht schon mit dem Gedanken sich abzufinden, auf sie verzichten zu müssen –: »Ich habe kein Recht auf solche Aufopferungen, und wenn Du diese mir verweigerst, werde ich darum an Deiner Liebe nicht zweifeln. Indessen, liebes Mädchen, weiß ich fast keinen andern Ausweg.«

Was blieb Wilhelminen unter solchen Umständen anders übrig, als zu entsagen? Selbst wenn sie ihm gefolgt wäre, um die ländliche Zurückgezogenheit mit ihm zu teilen, so mußte es ihr sehr fraglich erscheinen, ob ihre Liebe hingereicht hätte, ihn glücklich zu machen, und ob ferner bei der ihn erfüllenden Unruhe, bei seinen so oft wechselnden Entschlüssen, selbst wenn dies jetzige Vorhaben zur Ausführung gekommen wäre, auch diese seine neueste Erkenntnis lange Bestand haben würde? Wilhelmine hatte seinen ihr entdeckten Lebensplan ihren Eltern mitgeteilt, welche ihn entschieden mißbilligten. Sie teilte ihm dies so schonend wie möglich mit, worauf Kleist ein halbes Jahr lang ganz gegen sie schwieg. Erst später schrieb er ihr wieder einen kurzen Brief, in welchem er sich über ihre Kälte beklagte, indem er hinzufügte, daß er nun zu der Einsicht gekommen sei, sie habe ihn nie geliebt und werde ihn niemals lieben. Damit war dies Verhältnis – gewiß ohne Schuld der Braut – gelöst. Wer könnte sagen, ob dieser Bruch von Einfluß auf den weitern tragischen Verlauf seines Lebens gewesen ist. Bei Kleists Natur wird man dies kaum annehmen können. Es war ihm, seiner ganzen Natur nach, ein glückliches Leben nicht beschieden, und er wäre sicher als Gatte und Familienvater ebensowenig zu dem ihm versagten Lebensglücke gelangt wie als ackerbauender Einsiedler. Sein neuer Lebensplan war übrigens auch von seiner Schwester Ulrike entschieden gemißbilligt worden, aber auch ihr Widerspruch konnte nichts gegen seinen Willen ausrichten. In Paris hielt er es nicht so lange aus, als es seine Absicht gewesen, denn schon im Dezember verließ er die ihm verhaßte Stadt. Da seine Schwester nach Deutschland zurückkehren wollte, so begleitete er sie bis Frankfurt am Main. Hier trennte er sich von ihr, um sich nach der Schweiz zu begeben. In Frankfurt hatte er einen Maler Lohse kennen gelernt, der ebenfalls nach der Schweiz wollte, und mit diesem wanderte er seinem ersehnten neuen Boden zu. Beide machten die Reise zu Fuß, über Darmstadt kamen sie nach Heidelberg, von dort nach einigem Verweilen nach Straßburg. Von hier führte sie der Weg durchs Elsaß nach Basel.

Der Entschluß, ein einsames Landleben zu führen, stand jetzt bei Kleist noch fest, wie aus seinen Briefen an seine Schwester hervorgeht. Aber es ist anders gekommen, als er dachte. In der Schweiz war er nicht zum Landmanne geworden, wohl aber – zum Dichter. Hier, in der Schweiz, war es, wo er sich zuerst zu selbständigen dichterischen Schöpfungen entschloß, und wo er sie auch wirklich aufs Papier brachte. Die Schweiz war das Geburtsland seiner ersten Tragödie »Die Familie Schroffenstein«, und in Bern erhielt er die erste Anregung zu seinem erst später ausgeführten Lustspiel »Der zerbrochene Krug«.

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