Ein Bild seines Lebens und Wirkens

Während seiner Königsberger Zeit hatte er weder das eine noch das andere erfahren; hier – und gerade hier, wo er im Amte war! – hatte er sich zum ruhigen poetischen Schaffen sammeln können, und nicht nur seine Lust am Produzieren, sondern auch seine Kraft dazu war hier in ganz bedeutender und fruchtbringender Weise gewachsen. Auch das anfangs ihn in große Verlegenheit setzende Zusammentreffen mit seiner ehemaligen und jetzt verheirateten Braut hatte sehr bald zu einem freundlichen Verkehr geführt. Wilhelminens Mann, welcher an die Universität als Professor der Logik und Metaphysik berufen war, hatte ihn freundlichst eingeladen, sie zu besuchen, und er verkehrte infolgedessen in dem Hause ganz freundschaftlich und hatte ein besonderes Vergnügen daran, dort seine in Königsberg geschriebenen neuen Erzählungen vorzulesen. Seine amtliche Tätigkeit war ihm hingegen bald recht lästig geworden, und er vermochte es nicht, zu seinem Vorgesetzten sich in ein freundliches Verhältnis zu bringen. Als 1806 das Unglück über Preußen hereingebrochen war, wurde er aufs tiefste davon ergriffen, und sein Haß gegen die fremden Bedrücker des Landes entwickelte sich zu einer ihn ganz beherrschenden Leidenschaft. Ueber seine Stimmung berichtet Bülow, wohl auf Grund der ihm von Wilhelmine gemachten Mitteilungen: Kleist sei öfters ganz außer sich gewesen und habe alle Schrecken, die noch kommen sollten, mit Gewißheit vorausgesehen. Auch seine Gesundheit sei wieder sehr angegriffen gewesen und er habe oft ganze Tage lang sich vor keinem Menschen sehen lassen. Trotzdem kann man im allgemeinen seine Stimmung als eine durchaus normale bezeichnen, und aus einem sehr denkwürdigen Brief an seinen Freund von Rühle geht hervor, um wie vieles ruhiger er auch jetzt über seinen dichterischen Beruf dachte. Nach einigen bitteren Betrachtungen über die Eitelkeit alles Strebens auf dieser Erde fährt er fort: »Nun wieder zurück zum Leben! So lange das dauert, werde ich jetzt Trauerspiele und Lustspiele machen. Ich habe eben wieder gestern eins fortgeschickt, wovon Du die erste Szene schon in Dresden gesehn hast. Es ist der »Zerbrochene Krug«. Sage mir dreist, als mein Freund, Deine Meinung und fürchte nichts von meiner Eitelkeit. Meine Vorstellung von meiner Fähigkeit ist nur noch der Schatten von jener ehemaligen in Dresden. Die Wahrheit ist, daß ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste. Wäre ich zu etwas anderm brauchbar, so würde ich es von Herzen gern ergreifen. Ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.« Und aus demselben Briefe erfahren wir denn auch, daß er seine Karriere wieder aufgegeben hat. Etwas dunkel schreibt er darüber: »Altenstein, der nicht weiß, wie das zusammenhängt, hat mir zwar Urlaub angeboten, und ich habe ihn angenommen; jedoch bloß, um mich sanfter aus der Affäre zu ziehen.« In der Tat hatte er jetzt die Idee, ganz von seinen dramatischen Arbeiten zu leben. Er meinte, in drei bis vier Monaten könne er immer ein Stück schreiben, und wenn er nur 40 Friedrichsdor dafür erhielte, so könne er davon leben. In dieser Hoffnung sollte der arme Kleist bald recht bitter enttäuscht werden; aber vorläufig war er, wie man sieht, leidlich guten Mutes, und das Gefühl der Freiheit, nachdem er aus dem Amte wieder geschieden war, bereitete ihm angenehme Träume.

In dieser Stimmung wurde er durch die wachsenden Erfolge der Franzosen noch stärker zu männlichem Bewußtsein aufgerüttelt. Für einen andern als Kleist hätte diese Zeit zu einer dauernd wohltätigen Krisis führen müssen. Die allgemeine Not hatte ihn aufgerüttelt aus den Träumereien, in die er um sein eigenes Ich sich versenkt hatte und die ihn quälten. Jetzt konnte er diese Selbstpeinigungen vergessen um der allgemeinen großen Sache willen, die er mit seinem warmen Herzen aufs tiefste empfand. Wie klar, wie scharfblickend er die politische Lage beurteilte, erkennen wir aus einem Briefe, den er schon Ende 1805 an Rühle geschrieben hatte. Entrüstet über die Untätigkeit Preußens gegenüber der unaufhaltsam andringenden Gefahr, schrieb er ihm: »So wie die Dinge stehen, kann man kaum auf viel mehr, als auf einen schönen Untergang rechnen,« – ein Gedanke, den er später in seiner »Hermannsschlacht« gleichfalls dichterisch aussprach, und nachdem er über die preußische Zauderpolitik und selbst über die Person des Königs in den schärfsten Worten sich ausgesprochen, fährt er fort: »Wenn der König alle seine goldenen und silbernen Geschirre prägen lassen, seine Kammerherren und Pferde abgeschafft hätte, seine ganze Familie ihm darin gefolgt wäre, und er, nach diesem Beispiel, gefragt hätte, was die Nation zu tun willens sei! Ich weiß nicht, wie gut oder schlecht es ihm jetzt von seinen silbernen Tellern schmecken mag; aber dem Kaiser in Olmütz, bin ich gewiß, schmeckt es schlecht. Was ist dabei zu tun? Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts als den Untergang des Alten erleben« ... usw.

Um diese Zeit, im Dezember 1805, war es, da Kleist, durch Vermittelung einer hochgestellten Verwandten, von der Königin Luise eine jährliche Unterstützung von 60 Louisdor zugesichert erhielt, die natürlich seinen Mut zum Leben, aber auch seine Lust zum Dichten wieder bedeutend hob. Mit diesem Jahrgehalt konnte er, da er dabei noch auf die aus seinen Dichtungen ihm erwachsenden Einnahmen rechnete, seine ihn drückende amtliche Stellung aufgeben, ohne Gefahr, in Not zu geraten. Und dieser Schritt geschah denn im Frühjahr 1806, noch ehe der Krieg Preußens mit Frankreich begann. Wohl mußte er sich sagen, daß er durch das Aufgeben seines Amtes seiner geliebten Schwester wieder Kummer bereiten werde, aber seine dichterischen Arbeiten gingen jetzt viel glücklicher von statten, und er fühlte jetzt mit aller Zuversicht, daß nichts anderes, als der Beruf des Dichters ihn glücklich machen könne. Zu seinen erwähnten Erzählungen und den beiden Lustspielen kam nun auch wieder eine Tragödie aus seiner Feder, und gerade an dieser empfindet man die Leidenschaft, mit der er wieder der tragischen Muse in die Arme geeilt war. Diese Tragödie war die schon erwähnte »Penthesilea,« die er zum großen Teil noch in Königsberg schrieb. Wenn man bedenkt, daß er in dieser Zeit schon tief erregt war von der so unheilvollen politischen Situation, so ist es um so auffallender, daß in solcher Stimmung ein so weit abseits von den Stimmungen der Gegenwart liegender Stoff sich seiner mit solcher Heftigkeit bemächtigen konnte. Daß aber Kleist auch bei einem so entlegenen Stoff, wie der Kampf der griechischen Helden mit der Amazonenkönigin, sein ganz subjektives Empfinden so voll und ganz zum Ausdruck bringen konnte, das unterschied ihn sehr wesentlich von jenen Romantikern, die sich in eine unbekannte Welt voll unverständlicher Gefühle und Anschauungen hineinkünstelten. Aber gerade »Penthesilea«, so ausschweifend hier die dichterische Phantasie waltet, und so schroff und rücksichtslos er, der doch bei seinen dramatischen Dichtungen auf das wirkliche Theater hoffte, darin sowohl dem Inhalte wie der Form nach, die theatralischen Anforderungen mißachtete, läßt doch neben den tollsten Uebertreibungen eine echte und glühende Dichternatur erkennen, obgleich wir mehr, als irgendwo bei Kleist, beim Lesen der »Penthesilea« zwischen Unwillen und höchster Bewunderung hin und her geworfen werden. Wenn in bezug auf die theatralische Form, welche durch die Rücksicht auf eine Bühnen-Aufführung bedingt wird, Penthesilea gegen sein erstes Trauerspiel zurücksteht, so zeigt er dafür in dem neuern Werke hinsichtlich der dichterischen Vertiefung der Gestalten, wie auch in dem hinreißend poetischen Glanz der Darstellung einen bedeutenden Fortschritt. Abgesehen von den in allen seinen Dichtungen vorkommenden sprachlichen Inkorrektheiten oder Sonderbarkeiten finden wir aber auch hier schon seine unglückselige Neigung, in der Durchführung eines psychologischen Problems weit über die Notwendigkeit hinauszugehen, in erschreckender Weise zum Ausdruck gebracht.

Vollenden konnte er in Königsberg diese Dichtung noch nicht. Denn die unglücklichen Kriegsereignisse hatten ihm keine Ruhe mehr gelassen, an dem Orte länger zu verweilen. Schon nach der Schlacht bei Jena hatte ihn ernste Sorge um die Seinigen, und namentlich um seine Schwester erfüllt. Da er sie durch sein nochmaliges Aufgeben seiner amtlichen Stellung begreiflicherweise sehr betrübt und verstimmt hatte, so empfand er jetzt, in der allgemeinen großen Not des Landes, um so stärker den Drang, sie wieder an sein brüderliches Herz zu schließen. Die treffliche Schwester zögerte niemals, ihm wieder in herzlicher Liebe entgegenzukommen, und da sie ihm in diesem Sinne geschrieben hatte, so fühlte er sich sehr gehoben, frei und beinahe glücklich. Selbst die großen unglücklichen Ereignisse trugen zu dieser Stimmung bei, und er schrieb selbst darüber an seine Schwester sehr treffend: Es schiene ihm, als ob das allgemeine Unglück die Menschen erzöge, »ich finde sie wärmer und ihre Ansicht von der Welt großherziger.«

Bestimmte und klare Ziele hatte er sicher nicht vor Augen, als er im Januar 1807 Königsberg verließ, und zwar in Gesellschaft von Pfuel und zwei andern Offizieren. Aber das launische Schicksal wies ihm plötzlich einen Weg an, der ihm am allerwenigsten in den Sinn gekommen wäre: den Weg nach Frankreich, als Gefangener. Als er mit den andern bis Berlin gekommen war, und nachdem Pfuel, der sich nach dem Landsitze Fouqués begeben wollte, sich von ihnen getrennt hatte, wurden Kleist und die beiden Offiziere beim Betreten der preußischen Hauptstadt angehalten und verhaftet, um nach Kriegsrecht behandelt zu werden. Da Kleist zu seiner Legitimation nur seinen Abschied als Leutnant vorzeigen konnte, so sollte er für einen Spion gelten oder überhaupt für einen gefährlichen Menschen, und es wurde gegen ihn und gegen die beiden aktiven Offiziere gemeinsam verfahren. Nachdem sie die erste Zeit in einem elenden unterirdischen Gefängnis zugebracht hatten, wurden sie, trotz aller Versicherungen ihrer Schuldlosigkeit und ihrer Berufungen auf andere namhafte Persönlichkeiten, auf den Schub gebracht, um nach Frankreich transportiert zu werden. Sie sollten darin später noch eine ganz besondere Rücksicht erkennen, indem sie nicht sogleich erschossen worden sind. Ihr Transport ging über Mainz nach Straßburg und Besançon, und auf der Straße zwischen Neufschatel und Paris wurden sie nach dem Schlosse Joux bei Pontarlier gebracht, wo sie am 5. März als Kriegsgefangene eintrafen. Hier wurden sie anfangs überaus streng und hart behandelt, indem sie jede nur denkbar geringste Bequemlichkeit entbehren mußten. Bald aber hatte der Kommandant, auf den sie wohl in der Tat einen unverdächtigen Eindruck machten, beim Gouverneur von Besançon ausgewirkt, daß sie wenigstens in anständigere Räume gebracht wurden. »Jetzt konnten wir«, schrieb Kleist an seine Schwester, »auf unser Ehrenwort auf den Wällen spazieren gehen; das Wetter war schön, die Umgegend umher romantisch, und da meine Freunde mir für den Augenblick aus der Not halfen, und mein Zimmer mir auch Bequemlichkeiten genug zum Arbeiten bot, so war ich auch schon wieder vergnügt und über meine Lage ziemlich getröstet. Inzwischen hatten die Gefangenen bereits nach ihrer Ankunft sich in einer Beschwerdeschrift an den französischen Kriegsminister gewendet, und nach einiger Zeit kam der Befehl, daß sie aus dem Fort entlassen und nach Chalon an der Marne gebracht werden sollten. Auf welchen Verdacht hin eigentlich der Transport nach Frankreich geschehn war, ist unklar geblieben, und es hat sich später nur herausgestellt, daß dabei wirklich ein Mißverständnis gewaltet hatte.

Kleists Schwester Ulrike hatte, sobald sie von dem Unglück und von der großen Gefahr ihres Bruders gehört hatte, alle nur möglichen Schritte getan, um unter Beteuerung seiner Unschuld seine Befreiung zu bewirken. In Gemeinschaft mit der schon erwähnten hochstehenden Verwandten, einer Frau von Kleist, begab sie sich zum Gouverneur von Berlin, und mit der Kraft ihrer Ueberzeugung und ihrer schwesterlichen Liebe hatte sie demselben begreiflich Zu machen gesucht, welches Unrecht ihrem Bruder geschehen sei. Der Gouverneur muß denn auch überzeugt gewesen sein, obwohl er meinte, Kleist habe durch seine Reise von Königsberg nach Berlin sich selber der Gefahr ausgesetzt, als Spion betrachtet zu werden. Doch wurde Ulriken der Trost, daß der Gouverneur bereits an den Kriegsminister geschrieben und ihn ersucht habe, dem Gefangenen die freie Heimkehr zu gestatten.

Kleist hatte davon bereits durch seine Schwester erfahren, aber um so ungeduldiger machte ihn das lange Zögern, und an eine günstige Veränderung seiner Lage war für lange noch nicht zu denken, denn die Verhandlungen darüber zwischen Berlin und Chalons schienen noch einige Zeit hin und her zu gehen, während Ulrike in Berlin unermüdlich war, auf eine Beschleunigung seiner Befreiung hinzuwirken. Mehr als fünf Monate waren seit seiner Gefangenschaft vergangen, als endlich, um die Mitte Juli, die Stunde der Befreiung schlug, und er, mit der ihm zukommenden Reiseentschädigung versehen, den Rückweg nach Berlin antrat. Hier angelangt, reiste er nach kurzem Aufenthalt nach der Lausitz, um seine Schwester zu umarmen, die sich dort bei Verwandten aufhielt.

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