Lorbers geistige Schreibweise
Nachdem ich nun versucht habe, den äußeren Lebenslauf Jakob Lorbers nach seinen Hauptumrissen zu schildern und ein möglichst ähnliches Bild seiner Persönlichkeit zu entwerfen, fühle ich mich noch im Gewissen verpflichtet, der strengen Wahrheit gemäß beizufügen, was ich von den außerordentlichen geistigen Zuständen, in denen er vierundzwanzig Jahre lebte und wirkte, selbst miterlebt habe und was ihn als eines der merkwürdigsten und höchst begabten Medien - wie den Vermittler eines Verkehres mit außerirdischen Intelligenzen zu bezeichnen, jetzt längst allgemein üblich geworden ist - unleugbar darstellt, und zwar schon vor fast vierzig Jahren, und somit zu einer Zeit, wo noch niemand an die Möglichkeit eines solchen Verkehres glaubte und noch weniger jemand von dem tatsächlichen und sogar häufigen Vorhandensein derartig veranlagter Individuen eine Ahnung hatte, was in unseren Tagen schon durch Tausende von vertrauenswürdigen Zeugen unumstößlich bewährt ist.
Es ist bereits früher erzählt worden, daß Lorber am Morgen des 15. März 1840 durch eine innerlich vernehmbare Stimme berufen wurde, ihr fortan als Schreiber zu dienen. Schon am 19. und 20. März darauf begegnete mir Lorber abends auf dem mondhellen Hauptplatze zu Graz und sagte nach freundlichem Gruße zu mir: "Hören Sie! Ich bekomme eine Offenbarung!"
Ich war damals, wie man natürlich finden wird, um den Verstand des armen, neuen Propheten besorgt. Allein da ich ihn seiner tiefen Innerlichkeit wegen von jeher geachtet hatte, so nahm ich sein Anerbieten, mir seine "Phantastereien", wofür ich sein Schreiben ansah, nächstens bringen zu wollen, recht gerne an. Und schon an einem der nächsten Tage brachte er mir ein Quartblatt und drei halbe Bogen, auf welchen alles von ihm bis dahin Geschriebene bis zum Schlusse des 12. Absatzes des fünften Kapitels der "Urschöpfung der Geister- und Sinnenwelt" enthalten war. Die Schrift war von seiner Hand zwar mitunter unorthographisch, aber sonst rein und ohne alle Stilverbesserung.
Schon während Lorber mir die ersten Schriftseiten, welche Belehrungen und Ermahnungen enthielten, vorlas, machte die Einfachheit, Bedeutsamkeit und teilweise Erhabenheit dieser aphoristischen Sätze einen ungewöhnlichen Eindruck auf mich und bestimmte mich, dieser merkwürdigen Erscheinung auch ferner meine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Schon am 25. März fand ich mich bei Lorber, der damals ein nach rückwärts gelegenes kleines Zimmer im ersten Stockwerke des Gasthauses "Zum weißen Kreuz" in der sogenannten "Neuen Welt" bewohnte, persönlich ein, um auf seine Einladung hin selbst Zeuge seiner Schreibhandlung zu sein. Bald nach mir erschien dort auch mein Freund, der Tondichter Anselm Hüttenbrenner, welcher von Lorber zuerst in sein Geheimnis eingeweiht worden war und der von dem bisher Geschriebenen bereits für sich eine Abschrift gemacht hatte.
Lorber, welchen wir schon beim Schreiben antrafen, setzte nun in unserer Gegenwart seine Arbeit ruhig fort, mäßig schnell, aber ohne auszusetzen und ohne ein Buch vor sich zu haben, ganz nur in sich gekehrt.
Als er den 33. Absatz des fünften Kapitels des schon erwähnten Werkes vollendet hatte, legte er die Feder weg, nahm die Mütze vom Haupte und sagte halblaut: "Deo gratias!" - Hierauf las er uns das Geschriebene anfangs gleichmütig vor, als er aber in der Abteilung 22 zu der Stelle kam: "Diese Träne floß aus dem Herzen der Gottheit und hieß, heißt und wird immer heißen: Die Erbarmung", brach er in Tränen aus und vermochte das folgende vor Erschütterung nur mit Unterbrechungen zu lesen, so daß auch wir dadurch tief gerührt wurden.
Ich besuchte Lorber nun längere Zeit hindurch fast an jedem Tage, so oft er schrieb, und war jeweils ein bis zwei Stunden lang Zeuge seiner geheimnisvollen Beschäftigung, wobei sich Szenen seiner tiefsten Ergriffenheit, wie die eben geschilderte, wiederholt ergaben und er einmal nach Beendigung des neunten Kapitels unter rollenden Tränen ausrief: "Und da sollte man den Herrn nicht lieben?!"