Biographie

Natur-Evangelien

Anfangs hatte Lorber das, was ihm die innere Stimme mitteilte, stillschweigend niedergeschrieben. Bald begann er aber, das innerlich Vernommene unmittelbar nachzusprechen. Am 25. Juni 1840 teilte mir Anselm Hüttenbrenner nämlich mit, wir sollten nach Weisung der inneren Ansprache Lorbers durch diesen einen Felsen befragen.

Des nächsten Morgens um 8 Uhr fanden wir beide uns samt noch ein paar Eingeweihten mit Lorber auf dem Schloßberge in Graz ein und wählten zu dem erwähnten Zwecke den hinter dem Winzerhause aufsteigenden Fels, auf dessen Höhe die Westseite des Gebäudes steht, auf welchem damals die Feuerlärmkanonen ihren Standort hatten. Lorber stellte sich dem Felsen gegenüber und diktierte uns, die wir ihm alle nachschrieben, etwa eine Viertelstunde lang. Dann wurden wir durch eine zufällige Störung veranlaßt, diese Stelle zu verlassen und unser Geschäft in meiner Wohnung fortzusetzen. Lorber hatte, während wir auf dem Berge waren, seinen Blick auf den bezeichneten Fels gerichtet; in meiner Wohnung aber sah er wie träumend vor sich hin und diktierte da ohne Unterbrechung und nur selten ein Wort verbessernd mit ziemlich mäßiger Schnelligkeit, so daß ein gewandter Schreiber ihm wohl mit dem Stifte folgen konnte. Nur manchmal beschleunigte er etwas seine Rede. Diese enthielt eine kurze Geschichte der Schöpfung und Entwicklung der Erde, der Erhebung der Berge und insbesondere des bezeichneten Felsen, sowie der Urbewohner des Landes. Als wir gegen 12 Uhr mittags damit zum Schlusse gelangt waren, gestand uns Lorber, er sei anfangs etwas in Besorgnis darüber gewesen, ob dieser Versuch wohl gelingen werde, aber seine innere Stimme habe ihn immer von neuem ermutigt. Auch fügte er bei, er habe beim Diktieren die Stimme nicht wie sonst in seinem Traum vernommen, sondern es sei ihm gewesen, als lese er alles, was er kundzugeben habe, aus dem Felsen heraus, welchen er im Zimmer lebhaft vor sich gesehen, indem der ihn geistig ganz in sich aufgenommen habe.

Vier Tage danach fuhren wir zum Ursprung der Andritz, eines reinen Forellenbaches, dessen Quellen in der nordöstlich von Graz, damals noch in romantischer Einsamkeit gelegenen Talbucht am Fuße des Schöckelgebirges aus dem Felsengrunde still emporsteigt und zunächst einen von einer halbverfallenen Mauer eingeschlossenen, damals noch von uralten Lindenbäumen beschatteten kleinen, klaren Wassertümpel bildet. Lorber diktierte uns dort, während er mit heiterer Miene auf den ruhigen Spiegel des Gewässers hinblickte, zwei Stunden lang tiefsinnige Eröffnungen über das Entstehen und die Herkunft dieser reinen Quelle und über deren Mitwirkung zu Zwecken der physischen und geistigen Welt. - Und während der Rückfahrt zur Stadt machte er uns dann noch die Mitteilung: die Naturgegenstände, mit welchen er sich in Verbindung setze, stellten sich ihm stets personifiziert dar. - So letzthin der Fels auf dem Schloßberge in der Gestalt eines düsteren, ernsten Greises und soeben an diesem Tage die Quelle als eine ruhige, ernste Jungfrau.

Auf diese Art diktierte er uns eine Reihe von Erörterungen über verschiedene Gegenstände, wie Wald, Weinstock, Perlmuschel, Taube u. dergl., deren Behandlung wir ihm ganz willkürlich im Augenblicke zur Aufgabe machten und welche er auch stets ohne alle Vorbereitung in Angriff nahm. Hierbei stellte sich merkwürdigerweise heraus, daß diese Kundgebungen, so zufällig die Wahl der ihnen zugrunde gelegten Gegenstände auch war, doch zuletzt eine fast systematische Darstellung enthielten, wie das Geistige sich allmählich aus der totscheinenden Materie bis zum Höhepunkt seiner Entwicklung, im Menschen, stetig emporringt. Den Schluß fast jeder diese Aufsätze machte eine sittliche Lehre, welche in dem voraus behandelten Naturgegenstand gleichsam parabolisch versinnbildlicht erschien, daher Lorber diese Reihe von Kundgebungen in der Folge "Evangelien der Natur" zu nennen pflegte.

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