Biographische Einleitung

Im März 1851 hatte Scheffel noch die »Ziviljustiz für den hinteren Wald« zugeteilt bekommen. In einigen ärmlichen Dörfern bei Herrischried war Hungersnot ausgebrochen. Mehrere hundert Personen waren vom Säckinger Amt auf Staatskosten zur Auswanderung nach Amerika auszurüsten. Josephs Mutter schrieb darüber an Schwanitz, der im Jahre vorher in Karlsruhe und in Säckingen zu Besuch gewesen war, bald nach Josephs Konflikt mit dem Stationskommandanten Schwarz: »Joseph ist in wehmütiger Stimmung nach Rickenbach hinauf auf den Wald, um nun dort in diesen Tagen den Auswanderern fortzuhelfen. Der Pfarrer hat eine Suppenanstalt im Hause, und da holen sie ihre Suppe in Kübeln. Dort, wo Hunger und Elend hausen, amtet jetzt Ihr Freund mit seinem weichen, mitleidigen Herzen! Doch ich will Ihnen nicht auch das Herz schwer machen. Wir könnten durch diese Auswanderung auch noch auf die deutschen Zustände geraten – und das wäre vollends zum Verzweifeln!«

Beim Pfarrer Riesterer in Rickenbach hat unser Dichter die gastlichste Aufnahme gefunden. Das war ein gar jovialer alter Herr, ebenso bewandert in der Geschichte des Hauensteiner Landes wie in den alten Klassikern und in seinem Hebel, bei aller ländlichen Schlichtheit beseelt von edlen humanen Gesinnungen. Das Loblied, das Scheffel später im »Trompeter« zu Ehren des »Pfarrherrn auf dem Lande« angestimmt hat, war der Dank für so manche behagliche Stunde, die er in dem Pfarrhaus zu Rickenbach wie auch in dem von Herrischried verlebt hatte. Im Rickenbacher Pfarrhaus bekam er aber auch die wichtigsten Quellen zur Geschichte der Salpetererkriege zu lesen, nicht nur die gedruckten, sondern auch Handschriftliches in alten Pfarrbüchern. Diese Studien weckten in Scheffel die Lust, in einem geschichtlichen Kulturbild »nach dem Vorbild W. H. Riehl's«, dessen den Zusammenhang zwischen Volkstum und Landesart nachweisende, deutsche Wanderstudien damals in der Beilage der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« Aufsehen erregten, die Geschichte und Art des Hauensteiner Volkstums auf Grund seiner »auf dem Wald« und in der Säckinger Amtsstube gemachten Erfahrungen darzustellen. Nach der Heimkehr fand er im Elternhaus Muße zur Ausarbeitung des farbenfrischen, bisweilen auch von feuchtfröhlichem Humor durchblitzten Aufsatzes »Aus dem Hauensteiner Schwarzwald«, der die Ahnenheimat am Oberrhein feiert, auf Hebel und Wessenberg Bezug nimmt und auch des Malers Kirner in Liebe gedenkt (s. Bd. 3 »Reisebilder«).

Scheffel, der von Säckingen aus auch die Küssachburg, auf der einst sein Ahne Balthasar Krederer Schloßhauptmann war, wiederholt besucht hat, erkannte in den »reinen Alemannen« auf dem Hotzenwald ein noch nicht untergegangenes Stück altdeutschen Volkstums. Jener Aufsatz ist nicht nur die literarische Vorstufe für den »Hauensteiner Rummel« im »Trompeter«, sondern auch für das ethnographische Element im »Ekkehard«. Nach den Modellen der rauhbeinigten, hartstirnigen, und doch im Grunde gutmütigen Kernmenschen auf dem Wald, die ja durchaus nicht alle nach dem Grundsatz des »füürigen Alexander« im Einödgasthaus »zum dürren Ast« bei Hogschür »G'soffe muß doch sy« oder dem des »Streitpeterle« in Hogschür »'s muß usprobyrt sy« lebten, hat der Dichter drei Jahre später die derbsten seiner Mönche im »Ekkehard«, wie den jagdfreudigen Pförtner Romeias, aber auch die reckenhaften alemannischen Landleute, die im 15. Kapitel den siegreichen Überfall des Hunnenlagers im Frikktal unter dem alten Irminger vollführen, gestaltet. In jenem Aufsatz sind auch die Salpetererkriege ausführlich besprochen. Mit großer Freiheit hat sich Scheffel im »Trompeter« des Hauptführers im letzten dieser gegen die Abtei St. Blasien gerichteten Rebellionen des Hans Fridolin Gersbach von Bergalingen im »Bergalinger Fridli« bemächtigt. Er versetzte die Figur in den sogenannten »Rappenkrieg«, den die Hauensteiner im 17. Jahrhundert wegen einer vom Sankt Blasischen Waldpropst ausgeschriebenen Weinsteuer führten und damit ungefähr in die gleiche Zeit, die durch die Grabschrift auf dem Denkstein des Kirchhoferschen Ehepaars für die Handlung des »Trompeter« gegeben war. Es kam Scheffel, als die Dichtung in Fluß geriet, allein darauf an, das dramatische Element eines der »Hauensteiner Rummel« in Gegensatz zu der Liebesidylle zu bringen und den Charakter des Spielmanns Werner mit einem heroischen Zug auszustatten. Im Kampf mit den den Schönauer Hof stürmenden Revoluzzern wird Jung Werner zum wunden Mann, den das Freifräulein Margaretha von Schönau (dieser Vorname paßte besser in das Versmaß der Trochäen als Maria) pflegen und heilen darf. Bei der Erfindung dieses Zugs wird Scheffel an seine eigenen Waffentaten bei der Verteidigung des Karlsruher Zeughauses im Mai 1849 gedacht haben, wie sich ihm manch ein Oberländer Volksaufwiegler jener Zeit als lebendes Modell für den Bergalinger Fridli auch darbot.

Noch ehe er die poetische Ausgestaltung der Sage vom Säkkinger Trompeter vornahm, hatte er einen anderen Kampf, von seelischer Art, zu bestehen. Als er am 1. September 1851 Säckingen verließ, stand in ihm der Entschluß fest, sich sobald als möglich der Beamtenlaufbahn ganz zu entschlagen. Das war nur möglich unter dem Widerstande der Eltern. Seine Episteln aus Säckingen hatten bei diesen wie bei den Freunden des Hauses wegen ihres Humors freilich viel Beifall gefunden; schon war ihm manches Lied gelungen, das in frohgestimmtem Zecherkreise sich als zündend erwiesen; er hatte den Kopf voll von poetischen Plänen und Entwürfen. Andrerseits war er noch immer des Glaubens, daß er zum Maler berufen sei. Auch nach Säckingen hatten ihn Zeichenmappe und Farbenkasten begleitet. In Breitners Scheffelmuseum zu Mattsee befinden sich größere Zeichnungen Scheffels aus dem Jahr 1850, die den Bergsee bei Säckingen, die alte Holzbrücke bei Rheinfelden, das Harpolinger Schloß darstellen. Mit besonderer Liebe ist eine gleichfalls erhaltene Zeichnung vom Wieladinger »Strahlbrusch« ausgeführt, dem düster umklüfteten Wasserfall, den ein bei Rickenbach entspringender, unfern der Harpolinger Schloßruine in die Murg sich ergießender Bergbach bildet. Hier ließ der Dichter später im »Ekkehard«, Kap. 15, die tapfere Hadumoth auf ihrer kühnen Wanderung ins Hunnenlager kurze Rast halten. Auch den Schönauer Hof, das »Herrenschlößlein«, hat Scheffel vor seinem Weggang von Säckingen gezeichnet.

Zunächst machte er im September mit Ludwig Häusser eine dritte Ferienreise nach Graubünden und ins Engadin. Auch im Sommer 1850 war er mit diesem »engeren« Freunde, der ihm an Jahren und an Welterfahrung weit voraus war, in die Alpenreviere gezogen, welche die Quellgewässer des Rheins durchrauschen. Zum Dichter des Oberrheins zu werden, war wohl schon sein Sehnen. Häusser, dem Scheffel in der freien Luft der rhätischen Alpen seine Kümmernisse und Zweifel anvertraute, schätzte jedoch an dem jungen Freund neben dem Humor und dem treuherzig frischen Naturell vornehmlich den Sinn für sein eigenes Fach, die Erforschung der deutschen Geschichte. Er interessierte sich lebhaft für Josephs Hauensteiner Eindrücke und Studien, deren Resultate sich vielfach mit den Ergebnissen neuerer Forschung über die Geschichte Graubündens berührten. Schon im Jahre vorher hatte Scheffel dem »Engeren« eine humoristische Epistel über die mit Häusser ausgeführte Besteigung des Sankt Gotthard unter Entfaltung originellen Reisehumors geschrieben (s. Bd. 4). Jetzt ward zwischen beiden verabredet, das zwischen den Quellen des Rheins und den Gletschern des Bernina gemeinsam Erlebte für die Beilage der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« zu schildern, Scheffel übernahm die Touren von Dissentis nach Chur, über den Albula ins Engadin und von Samaden zum Roseggiogletscher. Häusser und er arbeiteten, aus reichen, schon vor der Reise gesammelten Kenntnissen über die herrliche, bis dahin noch wenig geschilderte rhätische Alpennatur schöpfend, mit journalistischer Schnelligkeit. Anregend wirkte auf sie auch das Vorbild des Münchners Ludwig Steub, der in seinem 1845 zuerst erschienenen Buche »Drei Sommer in Tirol« für eine poetisch-stimmungsvolle Darstellung wissenschaftlicher Reisebeobachtungen in den Alpen ein Muster aufgestellt hatte. Auch über die »Urbewohner Rhätiens« gab es von Steub ein Buch, und Scheffel nahm das Thema, noch erfüllt von seinem Studium der echten Alemannen auf dem Wald in seiner frischen, humoristisch sich gebenden und doch im Forschen gründlichen Weise auf. Die Rückreise ging über Salzburg und München, wo Steub, gleich ihm ein dichtender Jurist, besucht ward, und dann über Augsburg heim.

Mit den Briefen »Aus den rhätischen Alpen« (s. Bd. 3, Reisebilder), welche den deutschen Alpenfreunden zum erstenmal in so eingehender Besprechung die Alpenherrlichkeit des Engadin empfahlen, trat Scheffel unter die Pioniere, die damals der erst im Aufschwung begriffenen Freude am Besuch der Alpen in der Literatur zum Ausdruck verhalfen und über die er sich bald genug als sprachgewaltigster Verherrlicher der Alpennatur hoch erheben sollte. Die Briefe erschienen in den Nummern vom 10. bis zum 25. Oktober 1851 der genannten Zeitung. »Josephs Feder werden Sie an seinem Humor erkennen,« schrieb seine Mutter, hochbefriedigt von diesem Debüt, an Schwanitz. Gleich im ersten der Briefe schuf die wachsende Gestaltungskraft dieses Humors in der Figur des Kutschers Joseph Anthony von Trons ein Meisterstück. Der komische Grundgedanke des Lieds »Der letzte Postillon« (s. Bd. 6, Gaudeamus) ist hier angeklungen.

Scheffel hatte nach dem Tode der innig betrauerten Großmutter Krederer seinen Eltern versprochen, eine Weile ohne Amt bei ihnen in Karlsruhe zu leben – es gab mancherlei für den rechtskundigen Sohn zu helfen –, und nun arbeitete er auch den Aufsatz »Aus dem Hauensteiner Schwarzwald« aus. Das Erscheinen dieser Arbeit verzögerte sich indes; im Frühjahr 1853 erschien sie in Cottas »Morgenblatt für die gebildeten Stände«. Als er jetzt in Heidelberg im »Engeren« das Ganze vorlas, neckten ihn die Freunde als den »Fahrenden Schüler Josephus vom dürren Ast« nach dem Einödwirtshaus »zum dürren Ast« bei Hogschür, von dessen Betrieb der Aufsatz eine drollige Beschreibung enthält. Am Schluß der Widmung des »Trompeter« ist auf den Namen Bezug genommen. Jene Zeit des Ausruhens und Schriftstellerns im Elternhaus benutzte er aber auch, um mit Schwester und Mutter über seine geheimen Wünsche zu sprechen. Marie hatte jetzt Malstunden beim Meister Frommel und war voll Anerkennung der Fortschritte ihres geliebten Bruders im Zeichnen. Dieser schrieb damals an Eggers, die Zerrissenheit seiner geistigen Interessen beklagend, »mein bester Kern ist immer noch der Zug zur Kunst, den werde ich diesen Winter pflegen und bei Lindemann-Frommel, dessen Skizzen aus Rom Du oder vielmehr Kugler in dem »Kunstblatt« neulich günstig rezensiert habt, in die Lehre gehen.« Auch dem Vater ward zugesetzt, und der widerstrebende Herr Major bewilligte schließlich Josephs Bitte, ihn die größere italienische Reise, die ihm schon längst zugesagt war und für die ein Legat der verstorbenen Großmutter die Mittel bereitgestellt hatte, jetzt antreten zu lassen. Diese Reise, das war Josephs Entschluß, sollte seinen Beruf zur Kunst auf die Probe stellen. Schon war alles für einen »Winter in Rom« vorbereitet, da zwang die kriegerische Lage, in die ganz Europa durch den Staatsstreich Louis Napoleons versetzt ward, zum Aufschub.

Joseph bewarb sich um den freigewordenen Posten eines Sekretärs am mittelrheinischen Hofgericht in Bruchsal; der Präsident desselben, der frühere Märzminister Bekk, war den Eltern befreundet. Die Bewerbung fand sofortige Annahme. Kaum aber hatte er sich in Bruchsal und sein neues Amt etwas eingelebt, da überkam ihn die Reue, und als der Frühling seinen Lockruf ertönen ließ, wurde der Ärger über die versäumte Reise ihm zur unerträglichen Qual. Die Nachricht, daß der »lange Braun« jetzt auch in Rom sei, von seiner großen Forschungsreise durch Ägypten und Griechenland zurückgekehrt, steigerte noch seine Sehnsucht. Wohl fand er in dem literarischen Kränzchen des Hofgerichtsrats Preuschen, seines Kollegen als Mitarbeiter der »Fliegenden Blätter«, Aufnahme; aber der einzige bleibende Gewinn aus diesem Verkehr ist wohl nur die Idee zum Kater »Hiddigeigei« gewesen. Hiddigeigei hieß der höchst intelligente Kater des Hofgerichtsrats, und Scheffel, von klein auf an den Verkehr mit den wohlerzogenen Angorakatzen seiner Großmama Krederer gewöhnt, hatte seine Freude an dem klugen Tiere, und wenn ihn jetzt die Stimmung überkam, ans Gestalten der von ihm geplanten Dichtung vom Säkkinger Trompeter zu denken, sann er auch der Möglichkeit nach, den philosophischen Kater in das Schloßidyll des Freiherrn von Schönau zu versetzen. Der Zwerg Perkeo meldete sich auch und bat um Berücksichtigung. Durch öfteres Hinüberfahren nach Heidelberg zu den Sitzungen des »Engeren« entschädigte sich Scheffel für das, was ihn Bruchsal entbehren ließ. Die Anhänglichkeit an die »fröhlichen Gesellen« in Heidelberg, die Häusser, Schmezer, Ludwig Knapp, die, »von Weisheit schwer und Wein«, ihn um seines Humors willen liebten, gab ihm den Schluß des wundersam innigen Lieds »Alt-Heidelberg, du feine« ein:

»Und stechen mich die Dornen,
Und wird mir's drauß zu kahl,
Geb ich dem Roß die Spornen
Und reit' ins Neckartal.«

Ludwig Knapp, auch ein Dichter und Jurist dazu, der 1848 als hessischer Akzessist in Darmstadt den Dienst quittiert hatte und jetzt in Heidelberg als Privatdozent der Rechtsphilosophie an einem Werk über diese Wissenschaft schrieb, hat durch seine Sarkasmen über die bestehende Rechtspflege nicht wenig dazu beigetragen, dem jungen Freund den Justizdienst noch mehr zu verleiden. Jene Sarkasmen fanden in Jung Werners Ergüssen über das römische Recht einen Nachklang. Es fehlt auch sonst nicht an Spuren, daß Scheffel schon in Bruchsal die epische Form für die Dichtung ins Auge faßte. Er hörte viel reden von den großen Erfolgen, die Oskar v. Redwitz und Otto Roquette in den letzten Jahren mit ihren romantischen Epen gefunden hatten; »Amaranth« spielte teils in Italien, teils im Schwarzwald, Roquette ließ in »Waldmeisters Brautfahrt« Blumengeister und Heidelberger Studenten den Rheingau durchziehen, beiden Dichtungen fehlte es an Lokalkolorit und kräftiger Menschendarstellung; nun reizte es ihn, in seiner Dichtung vom Oberrhein bei gleichen poetischen Formen, unter Inanspruchnahme der romantischen Allegorie, gerade das zur Geltung zu bringen, was er in jenen Dichtungen, dem ihm sympathischen Waldmeistermärchen und der ihm unsympathischen »Amaranth« vermißte.

Im »Trompeter von Säkkingen« findet sich das Lied auf Alt Heidelberg dem Spielmann Werner auf die Lippen gelegt, der auf der Fahrt von der Neckarstadt, wo er studiert hat, beim Schwarzwälder Pfarrherrn eingekehrt ist. Wenn Scheffel in dem Lied das geliebte Heidelberg mit einer Braut vergleicht – »Es klingt wie junges Lieben Dein Name mir so traut« –, so war dies aber nicht nur in dem Zurückdenken an Julie v. Schlichtegroll, sondern auch darin begründet, daß jetzt eine junge Liebe ihm wiederum mit frischer Hoffnung das Herz bewegte.

In Säckingen, als er die Grabschrift von Werner Kirchhofer und der Maria von Schönau las, war sein Herz noch frei. Er wird dabei wehmütig an jene nun bereits verheiratete »Giulietta« gedacht haben. Als er auf der letzten Heimreise aus dem Engadin durch München kam, wo er seinen Freund August Eisenhart wieder sah, da ging ihm, wie er diesem dann schrieb, das Lenausche Lied »Weinend muß mein Blick sich senken« immer durch den Sinn und der Gedanke, daß ein anderes Mädchen seines Münchener Tanzstundenkreises, Elise v. Moy, ins Kloster gegangen sei, erfüllte ihn auch mit schmerzlicher Wehmut. (Vgl. Louise von Kobell-Eisenhart in: »I. V. v. Scheffel und seine Familie«, 1901.) Was er für Mimi Esmarch empfunden haben kann, ist oben angedeutet. Das Gedenken an eins dieser Mädchen mag ihm beim ersten Gestalten des Ideals für Werners Margareta geholfen haben; für die Poetische Beseelung einer Liebe, wie sie das »an Liebe unvergleichliche Paar« beglückt haben mußte, reichte diese platonische Gefühlswelt kaum aus. In Karlsruhe aber hatte sich inzwischen seiner eine leidenschaftlichere Liebe bemächtigt.

Es war die jüngere der Zeller Cousinen, Emma Heim, die, in schlanker Anmut frisch herangeblüht, aus dem Pensionat des protestantischen Pfarrers Pauli zu Kettenheim bei Alzey heimkehrend, beim Onkel Major in Karlsruhe zu Besuch erschien, an die er sein Herz verlor. Der plötzliche, unerwartete Anblick des schönen sechzehnjährigen Mädchens, dessen dunkle Augen unter den braunen Flechten warm aufleuchteten, wirkte so bezaubernd auf Joseph, daß er jählings erlebte, was seine Dichtung von Jung Werner berichtet, als er die holde Margareta am Fridolinstag in der Prozession gewahr wird. Daß die bezaubernde Wirkung, die Emma in Karlsruhe auf den Vetter ausgeübt hatte, ihr nicht unklar blieb, dafür sorgten seine Huldigungen in jener Woche des Zusammenseins bei Spaziergängen, Theaterbesuchen u. s. w. Noch vor seiner Übersiedelung nach Bruchsal, vier Wochen nach Emmas Vorsprechen in Karlsruhe bei Scheffels, erschien Joseph zwischen den Schwarzwaldbergen in Zell. Es war keine große oder ihm ungewohnte Reise. Schon manchen Ferientag hatte er in dem waldumhegten Städtlein und im dortigen Apothekerhaus bei Heims verbracht. Was der junge Dichter bei diesem Besuche in Zell und dessen Umgebung mit Emma erlebt und seinerseits hinzugeträumt hat, das spiegelt in märchenduftiger Anmut eine Meister Schwinds zarte Weise etwas unbeholfen nachahmende Zeichnung, die er dem Bäsle bald danach als Vielliebchen mit der Unterschrift »J'y pense« sandte. Zwei Hirtenkinder sind auf einem Bergabhang gelagert; das Mädchen, auf einem Stein sitzend, mit einem Kranz im Haar, sticht einen zweiten; ihr zu Füßen im Gras schaut treuherzig und erwartungsvoll der Bub zu ihr auf, und hinter diesen reckt aus der Tiefe kampflustig ein Ziegenbock das Gehörn empor – dieser Bock sollte den hessischen Rechtspraktikanten Pauli, den Sohn des Pfarrers von Kettenheim, vorstellen, seinen Rivalen, von dessen Existenz er in Zell erfahren hatte. Mit dem Bilde erkor er sich die geliebte Base zur Schutzpatronin für die ersehnte Laufbahn als Künstler. (Vgl. die Briefe in E. Boerschels sonst viel Falsches enthaltendem Buch »I. V. v. Scheffel und Emma Heim.« 1905.)

Es scheint aber, daß die Sechzehnjährige die Symbolik des Bildes nicht verstanden hat, wie sie auch nicht imstande war, das humoristische Versteckspiel ihres Vetters mit seinem Gefühl verständnisvoll zu durchschauen. Die in Scheffel damals bereits zur Entwicklung gelangte Melancholie machte ihn vorsichtig in der Äußerung seines Empfindens für Emma. Selbst in der köstlichen Epistel vom 14. Februar des nächsten Jahres aus Bruchsal, »Wie der Vetter Joseph einen rechtsgelehrten hofgerichtlichen Vortrag anfertigen wollte und wie daraus schließlich dieser Brief an seine Cousine Emma geworden ist«, findet sich ein Zwiespalt des Empfindens. Denn die Mitteilung, er habe beim Gedenken an sie immer wieder Geibels »Spielmanns Lied« vor sich hin gepfiffen – singen könne er nicht, sonst hätt' er's wahrscheinlich gesungen, enthielt außer dem Bekenntnis seiner Liebe ja auch das Geständnis seiner Sehnsucht ins Weite, um selbst als Spielmann in die Welt zu ziehen. Ein Wiedersehen, durch Emmas Erscheinen in Bruchsal herbeigeführt, das von Scheffel konventionellen Gesellschaftston forderte, endete für beide mit einer ernstlichen Verstimmung. Ohne von ihr in Zell Abschied zu nehmen, reiste er am 23. Mai nach Süden. Er mußte fort! Der Boden brannte ihm unter den Füßen! Er wanderte über den Gemmi, den Simplon, zum Comer See, da und dort ein jauchzend Wanderlied anstimmend oder sich niederlassend zum Zeichnen. »Mag lauern und trauern Wer will hinter Mauern – Ich fahr in die Welt!« Es drängte ihn, wie er an Schwanitz schrieb, »auf italischem Boden einen Schluck Lethe zu trinken, in dem alle Erinnerungen seit 1848 ausgetilgt würden.« »Lethe,« Vergessenheit, hat er auch in Bezug auf seine Liebe zu Emma in Italien gesucht, und vom Mai bis in den November hinein sich den neuen großen Eindrücken, dem Genuß der Kunstschätze von Florenz und Rom, und dann in den Albaner und Sabiner Bergen dem ernsten Studium und frohen Künstlertreiben als Schüler des Landschaftsmalers Willers, als guter Kamerad von Wilhelm Klose, Eduard Engerth, Otto Donner, Cäsar Metz, Julius Zielcke, Varoni und anderen jüngeren Künstlern so hingegeben, daß das Vergessen ihm auch gelang. Sein von Schönheitsfreude und Lebenslust glühendes Gedicht »Abschied von Olevano« im »Gaudeamus« (s. Bd. 6), seine »römischen Episteln« an den »Engeren« (s. Bd. 4) quellen über von Gegenwartsfreude. Erst als die Söhne des Malers Frommel, die Theologen Emil und Max Frommel mit Grüßen aus Karlsruhe in Olevano eintrafen, als der Winter in Rom manch trüben Tag brachte, als dort Briefe aus der Heimat ihn zur Selbstprüfung mahnten, und der Verkehr mit dem jugendlichen Dichter Paul Heyse aus München, dem schwäbischen Archivforscher Wilhelm Heyd sein Interesse wieder den Fragen des poetischen Schaffens zuwandte, da vollzog sich in seinem Geiste der Prozeß, den die Zueignung des Trompeters so reizvoll geschildert hat... »Da stieg wie ein Traum der Schwarzwald Vor mir auf und die Geschichte Von dem jungen Spielmann Werner Und der schönen Margareta.« In engeren Verkehr mit Paul Heyse, der damals auch seine für die eigene Laufbahn als Dichter so bedeutsame erste Reise durch Italien machte, hatte ihn die gemeinsame Beziehung zu Eggers gebracht.

Mit dem Malen in Öl, wie überhaupt mit dem Versuche, unter Meister Willers zu studieren, hatte sich Scheffel auf die Dauer nicht befreunden können. Er hat später 8 Blatt seiner besten in Italien gefertigten Zeichnungen photographieren lassen und in einer Mappe unter dem Titel »Landschaftsstudien von I. V. Scheffel, Erinnerungsblätter für Freunde« erscheinen lassen. Sie lassen die fein stilisierende Führung des Stifts erkennen, die ihm unter Willers Leitung zu eigen wurde, ermangeln aber eines persönlichen, an seine poetische kraftvolle Art gemahnenden Zuges. Die Lust, Kräftiges und Zartes in Harmonie zu setzen, aus verblüffenden Kontrasten lichtheitere oder düstere Stimmungsbilder zu erzeugen, hat keinen Anteil an ihnen.

Er hat sich dann in Rom auch kein Atelier gemietet; er bewohnte Via quattro fontane in dem Hause, wo Klose und Cäsar Metz ihre Ateliers hatten, ein hübsches sonniges Zimmer nach der Straße. Hier schilderte er für den »Engeren«, wie er es auf der Herreise in Mailand (2. Juni 1852) mit Bezug auf seine Reiseerlebnisse in der Schweiz getan, seine Abenteuer in Florenz, auf der Reise nach Rom, im Albaner und Sabinergebirge (s. Bd. 4), studierte aber auch Gibbons großes Werk vom Zerfall des römischen Weltreichs, las viel im Dante, Tasso und was deutsche Dichter über Italien geschrieben, Goethe, Platen, Waiblinger, Reinick und Kopisch. Oft strich er allein durch die trümmerreiche Campagna. Selbst beim perlenden Orvieto im »Facchino«, in der »Palombella«, im »Ponte Molle« sowie in der heiteren Geselligkeit, welche die Häuslichkeit des Ehepaars Engerth darbot, konnte er oft in auffallendes Schweigen verfallen. Die traulichen Eindrücke einer jungen glücklichen Künstlerehe, dann auch die Tatsache, daß sich seine Schwester inzwischen zu seiner Überraschung verlobt hatte, all dies hatte die alten Träume von einem mit Emma Heim zu erobernden gemeinsamen Glück in ihm belebt. Wenn er in der Einsamkeit diesen Träumen nachhing, da überkam ihn die Sehnsucht mit leidenschaftlicher Allgewalt, bis sie ausgeklungen war im Lied. Und wie er jetzt der Phantasiegestalt des Spielmanns Werner die eigenen Charakterzüge verlieh, so legte er ihr auch die Lieder, die das eigene Schwarzwaldlieb besangen, auf die Lippen. Die Dichtung, die beim Abschied von Säckingen nach seinem Ausdruck »im Blei« war, kam in Fluß. Im Spielmann Werner, der in Heidelberg das Corpus juris an den Nagel hängt und auf der Fahrt durch den Schwarzwald nach Säckingen gerät, spiegelte er sein eignes Wanderleben. Nicht nach Wien, gleich sich selber ließ er seinen Helden nach Rom ziehen, und die Vereinigung Werners mit der Geliebten in Rom träumte er sich als Trost für das eigene Liebesleid – ein heiteres Zukunftsbild – zurecht! Die Margareta der Dichtung ließ er denn auch sich grämen und sehnen nach dem »frischen Spielmann«, der »keinen Abschied genommen«, und als ihr Vater sie mit dem Sohn seines alten Kriegskameraden verloben will, schickt sie den unwillkommenen Freier heim.

Seinen letzten Brief aus Bruchsal hatte ihm Emma sehr freundlich beantwortet. Am 3. Dezember schrieb er ihr nun aus Rom: »Rom und Bruchsal sind in vieler Beziehung verschieden; ich glaube sogar, daß ich der einzige Mensch bin, der eine Ähnlichkeit zwischen beiden gefunden hat. Die Ähnlichkeit besteht aber darin, daß man, d. h. dein Vetter Josephus, zu Bruchsal wie zu Rom vielfach, ohne zu wissen warum, ernst und heiter, bitter und süß, gescheiter und dummer Weise an seine Cousine Emma denkt.« In dem an dieses Bekenntnis geknüpften Bericht über seine bisherige Reise verschwieg er nicht, wie er »gemeinsam mit einer deutschen Künstlerin« (das war Amalie Bensinger, die zur Künstlerkolonie in Albano gehörte) manches erlebt und »zu Olevano durch Vermittlung einiger ländlicher Damen« (das waren die Wirtinnen in der urgemütlichen Casa Baldi) den »sonderbaren italienischen Tanz saltarello« tanzen gelernt habe.

Auch der zweite Brief, den Emma von dem Vetter aus Rom erhielt, zeigte den Ernst seines Empfindens in humoristischer Verbrämung. Emma hatte ihm die erste Epistel, wie er in diesem Brief bestätigt, »liebenswürdig« beantwortet. Jetzt im Februar 1853 bot er ihr und Ida eine heitere Schilderung des Karnevals, an dem er mit seinen Freunden herzhaft teilgenommen hatte. Am Schluß scherzte er: »Viel tausend Grüße an die Eltern und Ida – den Kuß an des Papsts Pantoffel habe ich in feierlicher Audienz abgegeben; der heilige Vater sprach: ›Gib ihr zwei zurück und ihrer holden Schwester auch zwei, aber nicht auf den Pantoffel, und zittre nicht, mein Sohn.‹ Ich werde trotz meines Unglaubens dem Papste hierin treuen Gehorsam leisten.«

Anfang März reiste er nach Neapel und von hier ging es sehr bald hinüber nach Capri. Auf der einzig schönen, vom blauen Südmeer umbrandeten Insel schrieb er im Palmenschatten von Don Paganos Albergo in sechs Wochen die Dichtung nieder, in die er die schönsten Erinnerungen an seine Heidelberger und Säckinger Zeit verwob, während die in ihm wieder erstarkte Liebe zu Emma ihm die Farben für die Stimmungen lieh, die er seinen Spielmann Werner und die blonde Margareta bis zur glücklichen Vereinigung durch den Segen des guten Papstes Innozenz durchleben ließ. Wie der Humor jetzt in ihm wieder vorherrschte, das bezeugen verschiedene Neckereien, die er in die Dichtung hineingeheimnißte. (Vgl. die beiden Ausgaben meiner größeren Scheffel-Biographie.)

Es gibt keine andere Dichtung modernen Ursprungs, welche dem Stoffe nach einen so romantischen Charakter hat, dem Wesen nach aber so unmittelbar aus dem persönlichen Erleben des Dichters erwachsen ist, und die in ihrer Ausführung so realistisch wäre. Die Besonderheit von Scheffels Gemüt machte, daß ihm vergangene Zeiten sympathischer und der poetischen Darstellung würdiger erschienen als die eigne Zeit. Aber es trieb ihn zugleich, in seiner Dichtung sich und die eigne Zeit zu spiegeln. Und seine Phantasie erschaute das Vergangene so farbenecht und lebensfrisch, so frei von jeder nebelhaften Unklarheit und Verschwommenheit, als sei es Wirklichkeit. Noch verschmäht er als echter Sohn seiner Mutter das Allegorische nicht. Der Rhein wird ihm zum menschlichen Wesen, sein Kater Hiddigeigei und das Erdmännlein denken und sprechen wie kluge Menschen. Aber die Darstellungsweise dieser Romantik ist streng realistisch, verletzt nirgends die Natürlichkeit und innere Wahrheit; sinnenfällig und charakterecht sind auch diese allegorischen Gestalten. Das war der Segen jener Kraft, die er für Talent zur Malerei gehalten hatte, der Segen seines auf gestaltende, bildende Tätigkeit gerichteten Wirtlichkeitssinns. Der Schweizer Dichter Gottfried Keller unterlag fast um die gleiche Zeit dem gleichen Irrtum. Auch jetzt wurde sich Scheffel noch nicht seines Irrtums bewußt. Doch als er den »Trompeter« nach der Vollendung auf Capri in Sorrent dem in Rom gewonnenen Freunde Paul Heyse, der dort sein Fischeridyll »L'Arrabiata« schrieb, vorlas, als er die schöne »Zueignung« der Dichtung an die Eltern schrieb, da war er sich der realistischen Vorzüge derselben voll bewußt. Auf Heines hohnlächelnde Satire in den epischen Gedichten »Atta Troll« und »Deutschland, ein Wintermärchen« wie auf Redwitz' »Amaranth« und Lenaus melancholische Epik anspielend, schrieb er von seinem Sang: »Fehlt ihm der Tendenz Verpfeff'rung, Fehlt ihm auch der amaranthne Weihrauchduft der frommen Seele Und die anspruchsvolle Blässe, Nehmt ihn, wie er ist, rotwangig Ungeschliffner Sohn der Berge, Tannzweig auf dem schlichten Strohhut.«

Die Nachricht von der schweren Erkrankung seiner Schwester, die ihre Verlobung kurz vor der Hochzeit aufgelöst hatte, rief ihn, als er in Sorrent das schöne, in den Liedern »Der Hut im Meer«, »Der Delphin«, »Graziella« (s. Bd. 6, Gaudeamus) von ihm besungene Poetenidyll genoß, dringend nach Hause. (Vgl. mein Buch »Deutsch Capri in Kunst, Dichtung, Leben.« 1902.) Konnte er unter solchen Umständen daheim nicht gleich für seinen »Sang am Oberrhein« das Echo finden, auf das er während des Dichtens gespannt hatte, so ward für die Eltern diese Schöpfung des Sohns zum Preise der geliebten Ahnenheimat doch sogleich, als sie sie kennen lernten, zur Quelle großer Freude und Genugtuung. Nachdem das Werk in Adolf Bonz, dem Chef der Metzlerschen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart, einen Verleger gefunden hatte, schrieb Frau Scheffel voll Stolz an Schwanitz, der inzwischen zweiter Bürgermeister in Eisenach geworden war: »Auf die Wartburg und ins Bürgermeisterhaus wird ein Büchlein kommen, – heißt ›Der Trompeter von Säkkingen‹ ... sollte eher heißen ›Schwarzwald und Italien‹, glüht von Lebensfrische und Humor.«

Der geliebten Cousine hatte der Dichter aus Italien einen silbernen Pfeil »in ihre kastanienbraunen Haarflechten« mitgebracht und diesen ihr am 11. Juni aus Karlsruhe übersandt, wobei er die Hoffnung aussprach, »womöglich noch im Sommer persönlich die Aufträge, die ihm der Papst für Zell am Harmersbach mitgab, zu überbringen«. Die Enttäuschung, die sein Herz dann im darauffolgenden Monat traf, mußte daher alles Maß übersteigen. Von einer gutmütigen Tante in Offenburg, die um Josephs Liebe wußte, dorthin eingeladen, traf er Emma Heim. Er fand sie sehr zurückhaltend, so daß er erst bei einem gemeinsamen Spaziergang in den Wald den Mut fand, Worte für seine Werbung zu suchen. Ein ausbrechendes Gewitter setzte dem Gestammel ein Ende. Emma ihrerseits hatte nicht den Mut, zu bekennen, daß sie schon heimlich verlobt sei, »Willst du auf mich warten?« fragte Joseph vor dem Abschied. Keine Antwort. Die öffentliche Verlobung von Emma Heim mit Hektor Mackenrodt, einem energischen, weltgewandten, jüngeren Kaufmann, der die Lenz & Schnitzlersche Porzellanfabrik in Zell im Ausland vertrat, erfolgte wenige Wochen später. Bald nach der Heimkehr hat Scheffel der abtrünnigen Geliebten ein Gedicht gesandt, das mit bitterem Humor über den in Offenburg erhaltenen Korb quittierte und seinem verwundeten Selbstgefühl eine Genugtuung gab (s. Nachgelassene Dichtungen). Aber damit war der Schlag noch lange nicht verwunden. Scheffel war bald nach seiner Heimkehr schwer erkrankt. Eine starke Blutkongestion nach dem Kopf, die ihn niederwarf, führte zu einer Augenentzündung, die sich lange hinzog und ihn erst gegen Ende des Jahres nach einer sehr schmerzhaften Kur verließ. Er war nach Heidelberg gegangen, um im Einverständnis mit seinem Vater sich für die Laufbahn eines Dozenten der Rechtswissenschaft an der dortigen Universität vorzubereiten. Aber es kam anders. Der »Ekkehard« entstand.

Wie und wo der »Ekkehard« von Scheffel ersonnen und geschrieben wurde, hat er in Kürze selber in der bekenntnisfrohen Vorrede sowie im Schlußkapitel dieses poesiereichsten aller historischen Romane berichtet. In der Vorrede ist erzählt, daß er bei Gelegenheit »andrer Studien« mit den Casus Sancti Galli, den sanktgallischen Klostergeschichten, vertraut worden sei, welche der Mönch Ratpert begonnen und Ekkehard der Vierte bis ans Ende des zehnten Jahrhunderts fortgeführt hat; in der großen Sammlung älterer deutscher Geschichtsquellen, der von G. Pertz herausgegebenen Monumenta Germaniae historica, waren sie längst der Forschung leicht zugänglich. Welcher Art diese Studien waren, geht aus einem Briefe Scheffels an Otto Müller, den Verfasser des historischen Romans »Charlotte Ackermann«, hervor, mit dem er während dieser Zeit in Heidelberg durch Ludwig Knapp, dessen engeren Landsmann, näher bekannt geworden war. Müller hatte für den Meidingerschen Verlag in Frankfurt a. M. die Herausgabe einer »Sammlung auserlesener Originalromane« mit dem Titel »Deutsche Bibliothek« übernommen und Scheffel um einen Beitrag zu derselben ersucht, nachdem er sich mit dem »Trompeter« als Kritiker freundlich befaßt hatte.

An Otto Müller schrieb Scheffel am 20. April 1854 aus dem schwäbischen Schulzenhof am Abhang des Hohen Twiel bei Singen: »Ich habe vergangenen Winter Studien gemacht aus den Anfängen deutscher Geschichte, es hat eine rechtshistorische Abhandlung geben sollen ... Was draus hervorgeht – kann ich des Näheren selbst noch nicht bestimmen, der Bodenseeluft, den Alpen im Hintergrund, dem Wehen des Frühlings muß überlassen werden, was aus dem Ei herausschlüpft. Wenn's ein genießbarer Vogel wird, so bin ich im Verlauf des Sommers bei Ihnen, um ihn unter annehmbaren Bedingungen der Einschlachtung im Hans Meidinger zu überliefern. Das zehnte Jahrhundert liegt freilich etwas seitab von den Pfaden unsrer Novellen, Romane u. s. w., aber ich gedenke aus jener rohen, werdenden, starken Zeit ein paar Bursche herauszufischen, die sich ganz natürlich und wohlkonserviert ausnehmen sollen. Romantik wird jedenfalls nicht getrieben, dafür ist mein gegenwärtiges Leben in der Atmosphäre des Kuhstalls Garantie.«

Der Gegenstand der erst geplanten rechtshistorischen Abhandlung, auf Grund welcher sich Scheffel gewiß um die Zulassung als Privatdozent für Rechtsgeschichte in Heidelberg, dem Wunsch seines Vaters gemäß, bewerben wollte, war natürlich das altalemannische Volksrecht, das ihn schon in seinem Aufsatz über die Hauensteiner beschäftigt hatte. Der Kampf, den Ekkehard im Roman zwischen Pflicht und Neigung führt, ist aufs engste mit den Rechts- und Machtverhältnissen in Altalemannien verknüpft. Wo nur immer die künstlerische Ökonomie es gestattet, ist im Roman Bezug genommen auf die feineren Unterschiede zwischen dem alemannischen Landrecht und den andern deutschen Volksrechten wie den Sonderrechten, die am Fürstenhof und in den Abteien Schwabens im zehnten Jahrhundert bestanden.

Die Lektüre der sanktgallischen Klosterchroniken hatte aber auch in Scheffel sein von der Schulzeit her in ihm reges, dann von Gervinus stark gefördertes Interesse für die altdeutsche Dichtung frisch belebt. Kritisches Nachdenken über das Wesen der epischen Dichtung und seinen »Trompeter« wandte zudem sein Interesse dem altdeutschen Epos zu. Gerade in jener Zeit war der Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur in Heidelberg durch einen Forscher neu besetzt, der ihm als Freund seiner Eltern längst nahestand, den Germanisten Adolf Holtzmann. Dieser hatte neuerdings durch seine »Untersuchungen über das Nibelungenlied« die germanistische Welt durch die Hypothese erregt, das uns erhaltene deutsche Nibelungenlied sei die Bearbeitung eines älteren, zusammenhängenden, uns aber verloren gegangenen lateinischen Epos, das der »Schreiber Konrad von Alzey« für den Bischof Pilgrim von Passau verfaßt haben müsse. Als das schönste Beispiel eines alten germanischen Heldengedichts, das in lateinischer Sprache gedichtet wurde, gilt das Waltharilied, das Epos vom Waltharius manu fortis, das zuerst Jakob Grimm 1838 zum Druck brachte. Dies Gedicht nun, in Hexametern verfaßt, hatte eben durch San Marte eine recht ungenügende Übersetzung erfahren; der Franzose M. Fauriel hatte es ferner in seiner Geschichte der provenzalischen Literatur seinem Ursprung nach für diese in Anspruch genommen. Wie es vorliegt, ist es das Werk eines der Ekkeharde von St. Gallen. Ekkehard IV., der 1036 starb, bemerkt in den Casus Sancti Galli, daß er Ekkehards I. Jugendgedicht über Waltharius verbessert habe. Dieses Waltharilied, das den Kampf Walthers von Aquitainen am Wasgenstein schildert, wo der mit Hiltgund von Etzels Hof unter Mitnahme reicher Schätze Entflohene, vom Burgunderkönig Günther und seinen Recken überfallen, sich dieser Angreifer erwehrt, ist ein Muster jener mittelalterlichen lateinischen Poesie deutscher Herkunft, in der sich ein durchaus deutsches Fühlen und Denken in das Gewand eines keineswegs immer klassisch reinen Lateins im Stile Virgils verbirgt. Die geistlichen Dichter standen noch zu sehr im Banne naiver Verehrung ihrer lateinischen Muster, um sich der poetischen Vorzüge ihrer eignen Sprache, die sie barbarisch nannten, zu freuen.

In Scheffel weckte der Eindruck dieser Poesie die Frage: wie kam ein gelehrter Mönch des zehnten Jahrhunderts dazu, für die Schilderung des rauhen germanischen Heldentums, wie es im Zeitalter der Völkerwanderung waltete, so entsprechende kraftvolle Bilder und Worte zu finden? Die Antwort auf diese Frage war eine Dichtervision: jener Ekkehard, der auf Geheiß der Herzogin Hadwig aus dem St. Galler Klosterfrieden auf den Hohentwiel kam und ihr in Virgils »Aneïde« Latein lesen lehrte, verschmolz sich in seinem Geist mit dem andern, der im Latein des Virgil das Waltharilied dichtete, zu einer Person. Gerade diesem Mönch, der, dem Kloster entrückt, zum Burggenossen der noch jugendlichen Witwe des Schwabenherzogs Burkhard wird, der ihr die lateinische Heldendichtung erklärt, während das Schwabenland ringsum Heldenkraft zur Abwehr der wilden Ungarn, der »Hunnen«, fordert, diesem jungen Gelehrten, der mit in den Kampf zieht gleich den andern Mönchen von Sankt Gallen und Reichenau, war die Abfassung eines solchen Heldengedichts zuzutrauen. Die Phantasie des Dichters trat in ihre Rechte und mit ihr sein Empfindungsleben. Es flutete hinüber in die Gestalt dieses Ekkehard, und sie wurde Fleisch von seinem Fleisch, füllte sich mit Blut von seinem Blut, fing an zu fühlen und zu denken wie er.

Was er im letzten Jahre durchlebt, die Resignation einer Liebe, die er erwidert geglaubt hatte, wurde nun das Schicksal seines Helden. Was er selbst unternehmen wollte, um die in ihm noch immer fortglimmende Leidenschaft für ein Weib, das jetzt zu begehren Frevel war, kraftvoll zu überwinden, eine Tat der Selbstbefreiung vermittelst der Dichtkunst, das sollte sein Ekkehard vollbringen. Auch für die besondere Art dieses geistigen Heldentums, daß den Ekkehard die Reue, in kriegerischer Zeit kein Kriegsmann zu sein, zum Sänger vorzeitlichen Heldentums macht, hatte er – wir erinnern an Scheffels Klagen über den Frieden von Malmö, bei der Katastrophe von Schleswig! – verwandte Empfindungen in der eignen Brust. Und so kam es, daß der angesammelte Stoff kulturhistorischen Wissens sich nunmehr zum Hintergrund eines Seelengemäldes gruppierte, das uns einen jungen, gelehrtem Studium in edlem Streben zugewandten Mann zeigt, der durch eine verschwiegene, langverhaltene, zur Unzeit hervorbrechende Leidenschaft schier um Glück und Seelenheil gebracht wird, darüber aber zu einem Dichter reift, der erlöst von sich sagen kann: »Selig der Mann, der die Prüfung bestanden!«

Zunächst übersetzte er in seiner Freude an der markigen urdeutschen Poesie des Waltharius »an langen Winterabenden« dies Lied von kühner Reckenkraft und »ehrlicher, frommer, schweigender Liebe«, wobei er die virgilianischen Flitter, die Ekkehard IV. in den Text seines Vorgängers gefügt, mit keckem Griff abstreifte und als Versmaß die gereimte Nibelungenstrophe benutzte. Mit dieser Arbeit konnte er sich, wie er nunmehr plante, die Zulassung zu einem Lehrstuhl für deutsche Literaturgeschichte erwirken. Denn was ihm im »Engeren« Ludwig Knapp von seinen eignen Erfahrungen und Aussichten als Privatdozent der Rechtswissenschaft mit sarkastischem Hohn auf das gesamte Rechtsleben der Zeit erzählte, hatte ihm das Projekt, in ähnlicher Form sich die Zukunft zu gestalten, gründlich verleidet. Zum Dozenten der Literaturgeschichte hatte er weit mehr Neigung, und als er sich dann im November dieses Jahres, nach der Vollendung des »Ekkehard«, um den Lehrstuhl in Zürich bewarb, reichte er seine Übersetzung des Waltharilieds bei der Schweizer Oberschulbehörde ein, wohl mit einer Einleitung versehen, wie er eine solche viel später (1874) bei der mit Dr. Alfred Holder veranstalteten Ausgabe des »Waltharius, mit deutscher Übertragung und Erläuterungen« eingehender geschrieben hat, (Vgl. »Briefe J. V. v. Scheffels an Schweizer Freunde«, herausgegeben von Adolf Frey, 1898.)

Damals aber, als er die Übersetzung beendet hatte, während ihm der Plan zum »Ekkehard« in Kopf und Herzen wuchs und wuchs, da trieb es ihn fort nach Sankt Gallen, um die Örtlichkeiten mit eignen Augen zu sehen, die seines Helden Jugendheimat gewesen, und in der noch bestehenden weltberühmten Bibliothek der damals schon seit einem halben Jahrhundert säkularisierten Abtei mit eignen Augen die alten Urkunden, Chroniken, Gedichte und Gebete zu lesen, von denen ihm die Quellenwerke von Pertz, Hattemer, Ildefons v. Arx, und Wiedemanns Geschichte der Bibliothek Kunde gegeben hatten.

Es war noch März, als er zunächst nach Karlsruhe reiste, um den Eltern sein Vorhaben anzuvertrauen und sich von seiner Mutter die alten Geschichten der seligen Großmutter aus dem Sagenschatze des Hegau auffrischen zu lassen. In Sankt Gallen focht es ihn nicht an, daß seit den Tagen Cralos und Notker Labeos das Bild der Abtei ein ganz andres geworden war. Die umfangreichen Gebäude, die sich um den großen Klosterhof ziehen, gemahnten nur wenig an die kastellartige Abtei in Rundbogenstil, in der die Ekkeharde gelebt und geschrieben hatten, und die zur Zeit Abt Cralos von den »Hunnen« gestürmt worden war. Die jetzigen Gebäude stammten aus dem achtzehnten Jahrhundert und dienten zum Teil ganz weltlichen Zwecken. Nur das Stiftsarchiv und die Stiftsbibliothek vermittelten einen direkten Zusammenhang mit der altehrwürdigen Kulturwelt, die der junge Forscher, der jetzt dort über den Pergamenten saß, zu neuem Leben heraufbeschwören wollte. Poetische Anschauung von dem Zustand der alten Abtei, zu deren Turmwächter sich Scheffels Phantasie den lied- und jagdkundigen Romeias erfand, schöpfte er aus dem auch noch vorhandenen großen Bauriß, den der Architekt Gerung in der Zeit Ludwigs des Frommen auf geglätteter Tierhaut angefertigt hat. Daß er diese Bauten, Höfe und Gärten aber mit so leibhaftig geschauten Mönchen und Klosterschülern jener alten Zeit beleben konnte, hatte er dem Zusammenwirken der alten Gengenbacher Familienerinnerungen, der ihm ureignen Vorstellungsgabe für altgermanisches Wesen und dem in langer geistiger Arbeit erworbenen freien Verhältnis zu den ihm doch innig vertrauten Einrichtungen und Anschauungen der katholischen Kirche zu danken.

Wie seine Dichterphantasie auch jetzt wieder darauf ausging, Selbsterlebtem den Reiz des Lebens für seine Dichtung abzugewinnen, dafür ist besonders bezeichnend, was mir der Frankfurter Maler Otto Donner in bezug auf die Szene im 2. Kapitel des Romans, wo der jugendschöne Ekkehard als Pförtner der Abtei die stolze Herzogin Hadwig über die Schwelle des Eingangs trägt, erzählt hat. Das lustige Begegnis, das Scheffel, als er in Albano war, mit der Malerin Amalie Bensinger vor dem Augustinerkloster Ara coeli bei Palazzuola am Monte Cavo erlebte, gab – ich muß den Leser für das Nähere auf meine Scheffelbiographie verweisen – dem Dichter das Motiv für den glücklichen Einfall, der jene Umgehung des Gesetzes, das Frauen den Eintritt in Mönchsklöster verbietet, zur Folge hat.

In reichster Fülle strömte ihm dann das eigene Erleben die Motive für seine Dichtung zu, als er Mitte April von Sankt Gallen aufbrach und auf der Höhe des Freudenbergs, von der Stätte seiner Studien Abschied nehmend, hinausblickte in die Landschaft, die er zu schildern vorhatte, rückwärts auf das Alpsteingebirge mit der lichten Spitze des Säntis, vorwärts auf den blinkenden Spiegel des Bodensees und die fernen Berge des Hegau.

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