Die neue geschlechtliche Sittlichkeit – bei der das Licht wie in Correggios Nacht vom Kinde ausstrahlen wird – dürfte jedoch als Ideal des höchsten Glückes und der höchsten Entwicklung der Liebenden wie der Kinder noch immer die einheitliche Liebe aufstellen. Es wurde schon dargelegt, dass die Evolution der Liebe sich in dieser Richtung bewegt. Aber man wird zugleich – und zwar immer, um dem Glück der einzelner wie dem der Menschheit zu dienen – zugeben, dass die Liebe sowohl niederere wie höhere Formen annehmen kann, ohne dass darum die ersteren als unsittlich angesehen werden müssen. Wenn der Artveredlungsgesichtspunkt die ethischen Begriffe der Menschen durchdrungen hat, dann werden diese wohl mit jetzt ungeahnter Stärke als unsittlich bezeichnen:
Jede Elternschaft ohne Liebe.
Jede unverantwortliche Elternschaft.
Jede Elternschaft unreifer oder entarteter Menschen.
Alle freiwillige Unfruchtbarkeit von Ehepaaren, welche für die geschlechtliche Aufgabe geeignet sind.
Und schliesslich:
Alle Äusserungen des Geschlechtslebens, die Gewalt oder Verführung voraussetzen oder die Abneigung oder das Unvermögen, die geschlechtliche Aufgabe gut zu erfüllen, zeigen.
Hingegen wird aber die Gesellschaft mit einer ganz anderen Freiheit als jetzt die Vereinigung der Menschen nicht nur in ihrem besten Alter, sondern auch in ihrem besten Gefühle gestatten; sie wird begreifen, dass die jetzigen Hindernisse ein Unrecht sind, das nicht nur die einzelnen, sondern die Gesellschaft selbst trifft – da das eheliche Unglück nicht nur die höchste Kraftentwicklung vieler Menschen zum besten des Ganzen hemmt, sondern auch der Gesellschaft die Kinder raubt, die aus einem neuen Glück ihr Leben empfangen könnten.
Durch ihre Auffassung der gesellschaftlichen Bedeutung der Auswahl der Liebe wird die neue Sittlichkeit neuschaffend werden.
Dass ein im Handeln neuschaffender Mensch ein gefährliches Vorbild ist, ist ausgemacht. Und man kann z. B. von der Zukunft der Flugkunst ganz überzeugt sein, ohne darum die Gefahren der Versuche zu leugnen oder die Menschen zu Fahrten über Kirchtürme anzuspornen, wenn sie nur ein paar Gänseflügel an den Schultern haben!
Keine durchgreifende Umgestaltung von Gefühlen und Sitten vollzieht sich nach Dogmen und Programmen, am allerwenigsten diese. Aber es gibt keine andere Triebkraft, die schliesslich alle – die Kleinen wie die Grossen, die Schwachen wie die Starken – zu höherer Entwicklung führen wird, als die gesteigerte Wahlfreiheit der persönlichen Liebe, zugleich mit einer immer gesteigerten Sicherheit, dass die Wahl eine der Gattung nützliche sei.
Denn bliebe nicht auch weiter die Liebe die Voraussetzung der Sittlichkeit, die Ursache der Auswahl, so würde die neue Menschheit schon erreichte Errungenschaften allmählich wieder einbüssen. Weder »Züchtungsgesetze« noch »Paarungsfreiheit« könnten die geistigen und körperlichen Hilfsquellen der Menschheit konstitutiv steigern. Das vermag nur die Liebe.
Freilich hat man noch nicht bewiesen, dass die Liebe – unter sonst gleichen Bedingungen – die besten Kinder hervorbringt. Aber man wird es einmal beweisen.
Diese Gewissheit ist bis auf weiteres nur Intuition. Aber das sind alle neuen Wahrheiten im Anfange. Es fehlen jedoch schon jetzt nicht die Möglichkeiten einer indirekten Beweisführung. Vor allem ist zu beachten, dass die Liebe ihren Ursprung nicht im Menschenleben hat, nicht eine Frucht der Kultur ist, sondern sich schon im Tierleben zeigt. Sie kann da zum Tode aus Kummer über den Tod des Ehegatten führen, sowie zu anderen Gefühlsphänomenen des Menschenlebens. Sie kann auch zur Monogamie führen, obgleich im Leben der Tiere wie in dem der Menschen die Monogamie weder eine unbedingte Folge der Liebe noch eine unentbehrliche Voraussetzung der Entwicklung ist. Denn mehrere hochstehende Tierarten sind polygam, andere, tieferstehende hingegen monogam.
Anmerkung: Man sehe – ausser Darwins Arbeiten – z. B. Geddes' und Thomsons »Evolution of Sex«; Sicard: »L'Evolution sexuelle dans l'espèce humaine«; Bölsche: »Liebesleben in der Natur«; v. Hartmann: »Philosophie des Unbewussten«; Letourneau: »Evolution du Mariage«. Geddes sagt u. a., dass die Liebesauswahl sich bei den Tieren so subtil, so entschlossen individuell äussern kann, dass es nur einem Pedanten einfallen könnte, zu leugnen, dass es sich hier um Liebe im menschlichen Sinne des Wortes handelt.
Würde die Liebe nicht irgend einen grossen Vorteil bergen, so könnte sie wohl entstanden sein, nicht sich aber trotz der Hindernisse erhalten haben, die ihre persönliche Auswahl der Arterhaltung in den Weg zu stellen scheint. Der Mensch hat folglich das Gefühl der Liebe schon von seinem tierischen Stammbaum mitgebracht und es dem der Kultur eingepfropft. Und so hat sie sich allmählich zu einer der höchsten Mächte im Menschenleben veredelt und vergrössert. Und wie wäre diese wachsende Bedeutung der Liebe möglich, wenn sie nur glücksteigernd für die einzelnen, nicht auch lebensteigernd für die Menschheit wäre?!
Die Evolution der menschlichen Liebe hat sich teils durch eine immer bestimmtere Individualisierung bei der Auswahl gezeigt, teils in einer immer vollständigeren Inanspruchnahme und Steigerung der individuellen Eigenschaften.
Mit anderen Worten: die persönliche Eigenart hat immer mehr Liebe eingeflösst, und die Liebe hat die persönliche Eigenart immer mehr entwickelt. Dies hat wieder – wie schon oben zugegeben wurde – zur Folge gehabt, dass immer mehr Individuen nicht dazu gelangt sind, ihre geschlechtliche Aufgabe zu erfüllen, entweder, weil das Gefühl, obgleich erwidert, nicht zur Ehe führen konnte, oder weil das Gefühl in der einen oder anderen Hinsicht getäuscht wurde. Diese leidenschaftliche Auswahl eines einzelnen unter den vielen, durch die – objektiv betrachtet – die geschlechtliche Aufgabe ebensogut hätte gelöst werden können, ist also in einem gewissen Sinne antisozial geworden.
Aber solche aus dem unmittelbaren Gesichtspunkt der Artveredlung vergeudete Leben haben dieser doch mittelbar dienen können. Viele dieser im gewöhnlichen Sinne Kinderlosen haben unsterbliche Nachkommen geboren. Andere liessen das Blut, das sie niemals in dem feinen Adernetz an der Schläfe ihres Kindes bläulich schimmern sahen, auf Schlachtfeldern fliessen, auf denen der Menschheit Siege gewonnen wurden. Durch die Grösse ihrer eigenen idealen Forderungen haben sie die Herzen anderer Menschen grösser gemacht. Und ihr Mut brauchte nicht vor der Möglichkeit zu sinken, dass man ihren eigenen Misserfolg bei der Verwirklichung ihrer Ideale gegen sie ausspielen könnte. Sie haben die Kraft ihrer Verkündigung um den höchsten Preis erkauft: niemals ein Glück besessen zu haben, das sie hätten vergeuden können; und sie tragen ohne Bitterkeit die Armut, die sie reicher an Glauben machte.
Dass viele Leben – und wertvolle Leben – durch die Liebe zerstört werden, ist nur eine Äusserung des unergründlichen Willens des Lebens, überall zu verschwenden. Er ist eins mit der grossen Notwendigkeit, deren Hand schlägt und verwundet, so lange wir sie verfluchen, aber die kühlend liebkost und stärkend stützt, wenn wir anfangen, zu segnen.
Nicht auf die Opfer – auch nicht, wenn er selbst unter ihnen ist – darf der Mensch blicken, wenn er den Sinn des Lebens im Leben selbst sehen will. Er muss den Blick auf das Emporsteigende heften. Und dann wird es offenbar, dass – weil die Liebe noch immer und trotz allem ihre Macht erweitert – dies bedeuten muss: dass die individuelle Liebe mit all ihren Opfern und all ihren Fehlgriffen doch, im grossen gesehen, die Hebung des Menschengeschlechts fördert.
Der grosse abendländische Verkünder des Pessimismus hat bewiesen, die Liebe sei nur ein vom »Genius der Gattung« dem Individuum gegebener Auftrag, so dass nur Gegensätze einander anziehen und die Nachkommenschaft dann die Ergänzungseigenschaften erbt, die der eine bei dem anderen gesucht hat. Diese Gegensätze – durch deren Feindlichkeit die Eltern einander dann unglücklich machen – verschmelzen und neutralisieren sich bei dem Kinde, so dass dieses auf Kosten der Eltern eine wohl ausgerüstete, reiche oder harmonische Persönlichkeit wird. Auf die Spitze getrieben, wird dieser Satz Schopenhauers, wie so viele andere gedankenreiche, eine Absurdität. Aber jeder, der die Liebe beobachtet hat, muss – lange, bevor er weiss, oder ohne zu wissen, dass diese Erfahrung zum Pessimismus erhoben wurde – gefunden haben, dass alle starke Liebe zwischen entgegengesetzten Naturen entsteht. Die Harmonie, die durch Gleichheit eintritt, ist eintönig, arm und ausserdem gefährlich für die Entwicklung der einzelnen wie der Menschheit. Aber das Entgegengesetzte ist darum gewiss nicht immer das Widerstreitende, obgleich es sich so dokumentieren kann, wenn der Gegensatz sich auf Lebensanschauung und Lebensziel, Lebenswerte und Lebensführung erstreckt. Die widerstreitenden Naturen werden – trotz Schopenhauer – nicht selten ebenso ungünstig für die Anlagen des Kindes wie für dessen Erziehung sein, und der Geschlechtswille verfehlt oft gerade dadurch sein Ziel, indem er diese Naturen durch eine sich rasch in Hass verwandelnde Liebe zusammenzwingt. Die entgegengesetzten Naturen werden andererseits oft nur deshalb widerstreitend, weil sie nach der Heirat die Kehrseite ihrer Eigenschaften gegeneinander wenden, während sie in der ersten Zeit der Liebe sich nur die rechte Seite dieser Eigenschaften zeigten. Dass eine solche Ehe unglücklich wird, beweist nichts gegen die Auswahl der Liebe, wohl aber viel gegen den Mangel der Menschen an Kultur für die Ehe. Dass jede sympathische Verschiedenheit zwischen Menschen eine Grenze hat, deren Überschreiten tiefer und tiefer in antipathische Verschiedenheiten führt, dies ist eine psychische Lehre, die die Ehe gründlich einprägt.
Je mehr die Lebenskunst sich entwickelt, desto mehr werden jedoch die Menschen ihre eigene Glückseinbusse durch diese Auswahl der Liebe zum Vorteile der neuen Generation verringern können. Denn es wird dahin kommen, dass die Gatten sich über ihre gegenseitigen Verschiedenheiten immer mehr freuen und dieselben schützen werden; sie werden die antipathischen Gegensätze bei sich selbst immer mehr beherrschen; immer bewusster die sympathischen bei dem anderen zur Ausgleichung ihrer eigenen Einseitigkeit gebrauchen; immer mehr mit dem glücksfeindlichen Streben aufhören, den anderen nach ihrem eigenen Wesen umzuformen. Schon jetzt ist überdies das Sympathiebedürfnis in der Liebe so rege, so empfindlich, dass die durch extreme Gegensätze geweckte blinde Leidenschaft immer weniger imstande ist, das Sympathiebedürfnis zu überstimmen. Dieses ist nun leicht gewarnt, wenn es den unvereinbaren Gegensätzen gegenübersteht, die zeigen, dass jeder sich auf einer anderen Stufe des Daseins befindet, seelisch einem anderen Zeitalter, einem anderen Weltteil, einer anderen Rasse angehört. Diese Empfindung verhindert schon jetzt die Entwicklung der Liebe in vielen Fällen, in denen der Gegensatz wirklich widerstreitende Unvereinbarkeit ist, nicht die naturbestimmte Wahlverwandtschaft, in die sowohl primäre Verschiedenheiten wie sekundäre Ähnlichkeiten fallen und die zur Folge hat, dass die Gegensätze der Liebenden eine reiche Harmonie bilden, sowohl in ihrem Zusammenleben wie in den Persönlichkeiten der Kinder. Hat diese Anziehung der Gegensätze einmal ihr Ziel verfehlt, so sieht man oft, dass es doch ein und derselbe Typus ist, den ein Mensch das zweite, das dritte Mal, ja noch öfters liebt, mit einer Beharrlichkeit der Auswahl, die es zu einer Art Wahrheit macht, dass er eigentlich die ganze Zeit nur ein und dasselbe Wesen geliebt hat!
Der rücksichtslos zusammenzwingende Wille der Natur äussert sich nicht nur darin, dass die Liebe in der Ehe Gegensätze zusammenführt, sondern er zeigt sich auch, wenn Ehen gebrochen werden. Eine gute Frau eines guten Mannes, liebend und geliebt, wird so von einer ihr selbst unfassbaren Leidenschaft zu einem andern Manne ergriffen. Ohne Besinnung gibt sie sich der Leidenschaft hin, um dann zu dem Manne zurückzukehren, den sie nicht aufgehört hat zu lieben, aber der ihr nie das übermächtige Gefühl einflösste, dessen Ziel – nach dem Willen der Natur und des Weibes selbst – ein Kind gewesen wäre.
Anmerkung: Eine Beleuchtung einer solchen Auswahl gibt z. B. H. Driesmans in »Kulturgeschichte der Rasseninstinkte«. Er betont, dass keine Rasse imstande war, ohne Zusatz fremden Blutes eine Kultur zu schaffen, weil keine Rasse anders als durch wirkliche Blutvermischung in die Lebensanschauung einer anderen eindringen und ihre geistige Kultur übernehmen kann. Das Resultat einer solchen Kreuzung hängt von der Beschaffenheit des Blutes der verschiedenen Rassen ab, die auf diese Weise miteinander in Verbindung treten. Der Verfasser betont die Bedeutung der Qualität des weiblichen Teils, die Güte des mütterlichen Bluts. Auch Chamberlain gibt ja zu, dass eine edle Rasse durch vorhergegangene Kreuzung verschiedener Stämme entsteht, aber er sagt, dass der Kreuzung dann eine strenge, lange fortdauernde Inzucht folgen muss, zuweilen durch neues, aber immer verwandtes Blut aufgefrischt. Driesmans legt dar, dass die germanische Rasse ihre Eigenart verliert, vor allem infolge der instinktiven Vorliebe der germanischen Frau für den »interessanteren« romanischen oder slawischen Mann.
Das Faktum, dass eine starke Leidenschaft zwischen nach Herkunft oder Gesellschaftsstellung weit getrennten Personen entsteht, schliesst es jedoch schon in sich, dass dies der Entwicklung der Gattung zugute kommt, wenn auch nicht der »Reinheit« der Rasse oder der monogamischen Ehe. Die ehebrecherische Liebesauswahl kann aus diesem Gesichtspunkt zuweilen unbewusster Geschlechtsveredlungsinstinkt sein.
Derselbe Wille der Natur äussert sich in einer Menge für andere unfassbaren Erscheinungen. Ein geistvoller Mann oder eine solche Frau wird von Leidenschaft für ein in hohem Grade inferiores Wesen ergriffen. Wie oft hat nicht ein »schöner Kerl« den seelenvollsten Mann bei einem solchen Weibe ausgestochen; wie oft hat nicht gedankenloser Reiz und leere Heiterkeit bei einem überlegenen Manne das erreicht, was die Persönlichkeit eines Ausnahmeweibes nicht erreichen konnte! das ganze Geheimnis war der Wille der Natur, zum Vorteile der Gattung die cerebrale und nervöse Genialität durch gesunde sinnliche Stärke auszugleichen. Da die Geschlechtsliebe ihren Ursprung darin hat, dass die Geschlechtscharaktere, die biologisch für die Gattung günstig waren, die anziehendsten wurden, wirkt noch immer diese allgemeine Anziehung neben der individuellen. Und am stärksten gerade in jener Art von Liebe, die man mit Recht »blinde Leidenschaft« nennt und die die widerstreitenden Gegensätze zu ihrem Unglück zusammenführt.
Aber es liegt kein Grund vor zu zweifeln, dass die Auswahl der Liebe in diesem Falle ihre instinktive Sicherheit behalten kann, wenn auch die Liebe zugleich immer weiter auch ihre seelisch sympathischen Instinkte steigert. Die Folge davon wird die sein, dass die Anzahl Gegensätze, die anziehen können, geringer wird, aber die geringere Anzahl von Möglichkeiten dafür feiner angepasst; dass die Auswahl unter den Gegensätzen so immer schwerer, aber auch immer wertvoller wird. Die Auswahl der Liebe hat nun nicht selten zur Folge, dass von zwei entgegengesetzten Naturen, die die Wahlverwandtschaft der Seelen unwiderstehlich vereint, eine oder beide nicht die besten physischen Bedingungen für die Kinder bietet. Aber die Auswahl kann dafür vortrefflich hinsichtlich der Steigerung einer gewissen Anlage ausfallen: die Gestaltung eines harmonischen Temperaments, die Entstehung einer grossen Seeleneigenschaft. Denn nicht nur mit Kilogewichten und Metermassen muss die Veredlung der Gattung geprüft werden.
Eine solche, die Art hebende Auswahl der Liebe kann zum Beispiel dadurch stattfinden, dass die jungen Mädchen immer weniger Liebe für einen erotisch zersplitterten Mann empfinden, während hingegen die Männer, die für die Liebe ihre Einheit bewahrt haben, immer mehr Aussicht besitzen, die für die Frauen Anziehenden zu sein. Generation für Generation kann so die erotische Einheit immer mehr auch die Natur des Mannes werden, wie sie es auf demselben Wege die der Frau geworden ist. Dass der Mann die Reinheit des Weibes wünschte, hat seine Auswahl bestimmt, und diese Auswahl hat dann durch Vererbung die Gefühle der nächsten Generation wieder gesteigert, bis sie zu den stärksten in seinem erotischen Instinkt wurden. Das klarste Bewusstsein der Ungerechtigkeit der verschiedenen sittlichen Anforderungen an Mann und Frau; die »freisinnigste« Anschauung vom Rechte der Frau auf dieselbe Freiheit, wie der Mann sie geniesst, kann in diesem Falle seine Instinkte nicht besiegen. Wenn der Mann erfährt, dass die Geliebte sich vor ihm einem anderen hingegeben hat oder dass er sie mit einem anderen teilt, erkrankt sein Gefühl oft an seiner Wurzel: dem ihm durch die Liebeswahl von Jahrtausenden einorganisierten Willen zum alleinigen Besitzrecht, der nun durch den Einheitswillen der individuellen Liebe noch weiter gesteigert worden ist.
Anmerkung: Unter den zahllosen Schilderungen dieses Konflikts steht noch immer »Ein Besuch« von E. Brandes unübertroffen da, durch die zugleich individuelle und klar typische Behandlung des Gegenstandes.
Diese Andeutungen dürften genügen, um die Oberflächlichkeit jener Schlussfolgerungen über die Auswahl der Liebe zu zeigen, die sich ausschliesslich an die physische Steigerung halten, obgleich natürlich auch diese von grossem Werte ist. Dass ein paar Liebende ein körperlich schwächliches Kind haben können, darf an und für sich ebensowenig als Beweis gegen die Auswahl der Liebe gebraucht werden, wie die physisch prächtigen Kinder eines unglücklichen Ehepaars.
Wenn so auch die erotische Anziehungskraft der Verschiedenheiten der stärkste Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Bedeutung der Liebe aus dem Gesichtspunkt der Artveredlung ist, so ist er darum doch durchaus nicht der einzige. Ein anderer solcher ist, dass eine erstaunlich grosse Anzahl von bedeutenden Persönlichkeiten auf allen Gebieten erstgeborene oder einzige Kinder waren. Ein dritter ist die sprichwörtlich gewordene Begabung der sogenannten »Kinder der Liebe«. Ein vierter sind die für die Anlagen der Kinder oft sehr günstigen Folgen der Heiraten zwischen Angehörigen verschiedener Völker, wenn der Rassenunterschied kein allzu grosser ist. In den beiden ersten erwähnten Fällen kann man annehmen, dass das Liebesglück der Eltern – oder zum mindesten ihre sinnliche Leidenschaft – bei der Entstehung des Kindes ihre volle Frische und grösste Stärke hatte. Bei den »Kindern der Liebe« ist es nicht selten eine gesunde Frau aus dem Volke, die mit echter Hingebung dem sinnlichen Verlangen eines Mannes begegnet, der ihr geistig überlegen ist. Im letzten Falle wieder hat im allgemeinen eine starke Liebe die Hindernisse besiegt, die Vaterlandsliebe und überkommene Anschauungen der Anziehung entgegenstellen, durch die die Volksgegensätze dann in dem Kinde zu glücklicher Einheit verschmelzen.
Die Beobachtungen auf diesem Gebiete werden durch zahllose Nebeneinflüsse, Gegenwirkungen und noch ungelöste Widersprüche irregeleitet. Solange man jedwedem menschlichen Wrack erlaubt, mit dem »Rechte der Liebe« die Gattung fortzupflanzen, werden die Schlussfolgerungslinien in dieser Materie sich immer kreuzen. Erst in jenen Fällen, wo die Voraussetzungen in allem übrigen vergleichbar sind, kann man anfangen, sich einem objektiven Beweis dafür zu nähern, dass die physisch-psychische Vitalität der Kinder abnimmt, wenn sie in Abneigung oder Gleichgültigkeit erzeugt wurden, hingegen aber zunimmt, wenn sie in Liebe erzeugt wurden. Und nicht im zarten Alter der Kinder, sondern erst wenn sie ihr Leben gelebt haben, kann diese Frage endgültig beantwortet werden.
Dass die Entwicklung der ererbten Anlagen der Kinder, ihr Kindheitsglück, ihr zukünftiger Lebensinhalt zum grossen Teile von ihrer Erziehung in einem glückstrahlenden Heime abhängt, von Eltern, die in sympathischem Verständnis zusammenwirken, das braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Jeder weiss, dass Kinder aus solchen Familien einen Lebensglauben und eine Lebenssicherheit, einen Lebensmut und Lebensjubel als Angebinde erhalten haben, den keine späteren Leiden ganz ertöten können. Die Sonnenwärme, die sie aufgespeichert haben, macht es ihnen unmöglich, selbst in der härtesten Winterzeit ganz zu erfrieren. Wer hingegen mit der Winterszeit angefangen hat, friert zuweilen noch mitten in der Sommersonne.
Ein zum Tode verurteilter Verbrecher wurde von seiner Mutter gefragt: Was haben dir deine Eltern Böses getan, dass du uns dies antust? Sie bekam eine Antwort, die kein Elternpaar je vergessen sollte:
Was habt ihr mir eigentlich Gutes getan?
Diese Frage steigt nun von Millionen Lippen empor. Wenn sie einmal verstummt ist – wenn die Liebe sie verstummen machte – dann wird man auch eingesehen haben, dass die Liebe nicht die Stütze anderer Offenbarungen braucht, als die, welche sie aus einer religiösen Ehrfurcht vor der Gewissheit schöpft: dass das Leben selbst der Sinn des Lebens werden muss.
Ebensowenig wie auf irgend einem anderen Gebiete steht auch auf dem der Liebeswahl die Leidenschaft diametral entgegengesetzt der Pflicht gegenüber, es sei denn auf einem Zwischenstadium der Entwicklung. Im Zustande der Unschuld gibt es keinen Zwiespalt, denn da gibt es keine andere Pflicht, als die, blind dem Triebe zu folgen. Wenn die Entwicklung vollzogen und die »zweite Unschuld« erreicht ist, dann ist die Pflicht aufgehoben, weil sie eins mit dem Triebe geworden ist.
Man wird dann einsehen, dass diejenigen im Irrtum waren, die nun meinen, dass – während Gott im Paradies umherging und die Ehe stiftete – der Teufel in der Wüste umherging und die Liebe erfand! Der erotische Dualismus wird vom erotischen Monismus besiegt werden, wenn der Kreislauf der Entwicklung den Ausgangspunkt dem Schlusspunkt genähert hat; wenn der natürliche Geschlechtstrieb dem kulturgeborenen Geschlechtsveredlungswillen begegnet; wenn der goldene Ring von allen Seiten die Gemme mit dem heiligen Lebenszeichen, dem Kinde, umschliesst. Aber das Kleinod, das man heut als das kostbarste ansieht, die Monogamie, dürfte erst nach vielen neuen Spiralwindungen von dem goldenen Ringe umschlossen werden. Das wird dann sein, wenn die Auslese der Liebe schliesslich jeden Mann und jedes Weib dazu geeignet gemacht hat, die Gattung fortzupflanzen. Erst dann wird der ideale Wunsch – ein Mann für ein Weib, ein Weib für einen Mann – allgemein die für die einzelnen, sowie für die Gattung besten Lebensbedingungen einschliessen können. Und wenn man es so weit gebracht hat, dürfte auch der Wille der erotischen Wahl so fein und fest mit jeder Fiber des physisch-psychischen Stoffs der Persönlichkeit verwoben sein, dass der Mann nur ein einziges Weib finden, gewinnen und bewahren kann, das Weib nur einen einzigen Mann. Dann werden viele Menschen durch ihre Liebeswahl das erleben, was eine Minderzahl schon jetzt erlebt: die höchste Steigerung ihrer individuellen Persönlichkeit, ihre höchste Lebensform als Geschlechtswesen und ihre höchste Empfindung des Ewigkeitsseins.