Arbeit ist immer Kraftentwicklung, und je mehr sie eine Ausübung unserer besonderen Kräfte wird, ein desto grösseres Glück wird sie folglich sein. Der Weg jeder lieben und massvollen Arbeit kann mit Meilensteinen bezeichnet werden, in die die guten alten Worte des Katechismus von den Segnungen der Arbeit eingegraben werden sollten: hier »Gesundheit«, dort »Wohlstand«; hier »Trost und Stärke des Gemüts im Unglück«, dort »verhinderte Gelegenheit zur Sünde« – vor allem der, am Werte des Lebens zu zweifeln!
Aber gerade der, dem die Arbeit all dies gegeben, hat um so triftigeren Grund, der Arbeit für jene Frauen zu fluchen, die weder die Arbeit nach ihren Anlagen wählen, noch ihre Arbeitszeit ihren Kräften anpassen können. Grössere und grössere Scharen bewegen sich auf jenem Wege der Mühe, wo die Meilensteine die Inschriften tragen: Ungesundheit, Unsicherheit für den morgigen Tag und für die Zukunft; Freudelosigkeit, seelische Abstumpfung und die Sünden, die im Schatten wuchern, vor allem die, das Leben als bedeutungslos zu schmähen!
Für andere hinwiederum ist die Arbeit Rausch, Laster und Aberglaube geworden. Sie hat Männer und Frauen gewissenlos, leer, hart, rastlos gemacht. Sie hat sie dazu gebracht, anderen die übrigen Werte des Lebens zu zerstören – den Schmerz, die Liebe, das Heim, die Natur, die Schönheit, die Bücher, den Frieden – vor allem den Frieden, weil er die Voraussetzung dafür ist, dass das Leiden wie das Glück seine volle Bedeutung erhalte. Die schönen Worte Arbeitsfreiheit und Arbeitsfreude bedeuten in Wirklichkeit Arbeitssklaverei und Arbeitsleid, das einzige Leid, das unsere Zeit voll erlebt!
Unter gedankenlosen Lobgesängen auf diese massenmordende Arbeit lässt die Gesellschaft einen heiligen Frühling nach dem anderen welken, ohne geblüht zu haben – während schon vor Jahrtausenden die Städte der Antike ihre »heiligen Frühlinge« aussandten, neues Land urbar zu machen und den Menschen neue Wohnstätten zu erbauen!
Ebenso gewiss wie die Verluste der einzelnen zur Armut der Gesamtheit werden, wenn diese Verluste verringerte Gesundheit und Kraftfülle bedeuten; ebenso gewiss wie nichts besser wird ohne die Sehnsucht nach einem Besseren, ist es ein Gesundheitszeichen der Zeit, dass die kleinen Hungerlöhne für die gewissenhafte Fronarbeit die jungen Mädchen nicht mehr mit gerührter Dankbarkeit gegen Gott und die Vorkämpferinnen der Frauenbewegung erfüllen; dass sie sich immer weniger einreden lassen, dass nur »die Freiheit, die in Jesu Fussstapfen tritt, die das von der Gewalt Niedergebeugte und Zertretene erhebt«, die echte Freiheit ist!
Sie wissen, diese jungen Frauen, dass auch ihre eigene Natur vergewaltigt werden kann; dass es im Wesen des Weibes noch andere niedergebeugte Kräfte gibt als nur Wissensdurst und Tätigkeitsdrang, und dass weder Arbeitsrecht, noch Mitbürgerrecht zertretene Glücksmöglichkeiten zu ersetzen vermag!
Und weit davon entfernt, dass irgend ein Denkender diesen Missmut der Jugend einschläfern soll, erweist man im Gegenteil ihnen und dem Leben den besten Dienst, wenn man ihnen die Alltagszufriedenheit und die Ruhe der Resignation raubt. Denn nur das Leiden, das wach erhalten wird, die Sehnsucht, die lebendig bleibt, werden zu Mächten in der Erhebung gegen die Gesellschaftsordnung, die durch sinnlose und lebensfeindliche Qualen die Leiden vermehrt, welche die Gesetze des Lebens und die Entwicklung des Lebens ohnehin noch mit Notwendigkeit auf dem Gebiete des Geschlechtsverhältnisses mit sich bringen.
Alle unterdrückten Kräfte, die nicht gebraucht werden, können ausarten. Und unsere Zeit mit ihrer Hemmung der erotischen Kräfte hat auch unter den Frauen solche Zeichen der Entartung aufzuweisen.
Es ist darum eine notwendige Selbstbehauptung, dass die von der Liebe Ausgeschlossenen suchen, ihre Gesundheit zu bewahren und ihr Leben durch die Freudequellen zu bereichern, die jedem Lebenden zu Gebote stehen. Auch der von einer interesselosen Arbeit Gebundene kann einige Stunden finden, um auf einem Pfade weiter zu schreiten, der zu einem Einblick in den unendlichen Raum des Wissens führt. Fast jede Arbeit kann eine Steigerung der eigenen Tüchtigkeit herbeiführen und damit auch die Freude, seinen Wert als Arbeitender und seine Würde als Persönlichkeit gesteigert zu fühlen. Es gibt keinen Tag, der nicht einen Funken von Schönheitsfreude zu spenden vermag. Keine Stunde endlich – ausser den schwersten des Schmerzes – in der nicht ein Mensch die Stärke und Grösse seiner eigenen Seele fühlen kann; ihre Unabhängigkeit von allen äusseren Schicksalen; ihre Macht, sich selbst zu suchen, sich selbst zu finden, sich selbst zu steigern, durch alles und trotz allem. Für alle vom Leben Benachteiligten gelten die Worte, die Viktor Hugo an eine junge trauernde Frau richtete:
N'avez-vous pas votre âme?
Und zu welchem Glauben oder Unglauben ein Mensch sich auch bekennt, im Innersten ist es dieses Bewusstsein vom Werte seiner eigenen Seele, das ihn rettet, wenn es keine andere Hilfe gibt. Und es gibt keine andere Hilfe!
In diesem Sinne ist es allerdings wahr, dass der Mensch, Weib wie Mann, Selbstzweck ist; dass er seine Aufgabe erfüllt hat, wenn er nicht Schaden genommen hat an seiner Seele, selbst wenn er vom Leben nichts anderes erlangte; wenn er seine seelische Macht vergrössert, seine Eigenart entdeckt und betätigt hat. Denn nur dies heisst, seine Seele erlösen. In diesem Sinne ist es wahr, dass die »Aufgabe« des Weibes wie des Mannes nicht die von unserem eigenen Willen allein nicht abhängige Geschlechtsaufgabe sein kann. Und so kann man auch von dem, der diese nicht erfüllt hat, nicht sagen, dass er sein Dasein verfehlt habe. In diesem Sinne besteht auch im innersten eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Gefühl der eben geschilderten Selbstherrlichkeit und der Empfindung derer, die meinen, dass die höchste Bestimmung des Weibes wie des Mannes nicht die Liebe sein kann, sondern nur das Leben als Ewigkeitswesen über allen irdischen und gesellschaftlichen Werten; dass die höchste Wirklichkeit jedes Menschen in ihm selbst ist und sein grösstes Glück nur das sein kann, in Heiligkeit und Gottesgemeinschaft zu erstarken.
Aber für die Lebensgestaltung wird der Unterschied unermesslich gross. Da steht man wieder vor der dualistischen und der monistischen Lebensanschauung; dem Glauben, dass die Seele ihre höchste Entwicklung und Seligkeit unabhängig von ihren irdischen Voraussetzungen – anstatt durch dieselben – erreichen kann.
Für die letztere Anschauung wird der Mann wie das Weib selbst in ihren grössten Seelenbewegungen von ihrem Geschlechtsleben bestimmt. Geschlechtsgefühle pulsieren in den Träumen des Übergangsalters von Heldentaten und Märtyrertum; sie sind der warme Unterstrom des in dieser Zeit erwachenden religiösen Bedürfnisses. Jede Frau, die später ein strahlendes Liebeswerk vollbracht hat, die ein grosser christlicher Charakter geworden ist, hat – wie die schwedische Heilige Birgitta, wie Katharina von Siena, wie die heilige Teresa – das Feuer der grossen Liebe in ihrer Seele gehabt; in ihrem Blut hat die heisse Sehnsucht gebrannt, mit Körper und Seele dem Geschlechte zu dienen. Und darum wurde auch ihre Menschenliebe wärmend, während die Opfer so mancher anderer Wohltätigkeit frieren wie geschorene Schafe. Vom Weibe gilt in noch höherem Grade als vom Mann das Wort Schillers: Wer keinen Menschen machen kann, der kann auch keinen lieben.
Das wesentliche Ich eines Weibes muss hervorgeliebt werden, ehe sie in grosser Weise etwas für andere oder für sich selbst bedeuten kann. Wer in seinem Leben aller Erotik entbehrt hat, findet selten den Weg zu dem im grossen Sinne Menschlichen, während der, dem das Leben es versagt hat, sein erotisches Wesen im gewöhnlichen Sinne auszudrücken, dieses in einen das All-Leben umschliessenden Eros umwandelt, den Eros, den Plato ahnte und den er von Diotima verkünden liess: ein Zug von unendlicher Feinheit. Denn vielleicht kann nur die Frau – weil ihr ganzes Wesen Erotik ist – so ihrerseits selbst ihre Liebessehnsucht aus dem ganzen Dasein stillen?
Aber diese Empfindung der Einheit mit dem All – die der Theosoph, der Mystiker, der Pantheist, der Evolutionist, jeder in seiner Weise ausdrückt, aber die alle in gleicher Weise fühlen – ist das, was ein grosses erotisches Glück vor allem schenkt. Von dieser Art zu lieben gilt es ganz besonders, dass nur, wer liebt, Gott fühlt, jenes grosse Wort von der Einheit mit dem All, in dem wir leben, uns bewegen und unser Wesen haben. Nicht weil Gott die Menschen schuf, auf dass sie sich vermehren und die Erde erfüllen, sondern weil sie fruchtbar waren und die Erde mit Wesen und Werken erfüllten, gaben sie dem Leben den Namen des Schöpfers und verehrten in der Gestalt von Göttern ihre eigene Schaffensmacht, für die sie auch Ewigkeiten träumten.
Weil die Fruchtbarkeit, die Zeugungskraft in allen ihren Formen das Göttliche im Menschen ist, kann niemand ohne sie »Heiligkeit und Gottesgemeinschaft« im Sinne des Lebensglaubens erreichen oder, mit anderen Worten, volles Menschentum. Schon in ihrer begrenzten Form, als familienbildend, ist sie das untrügliche Mittel, das Ich über seine eigene Grenze auszudehnen, die einfachste Voraussetzung der Humanisierung. Sie kann den Egoisten zu einem Gebenden umwandeln, nur indem sie ihm etwas gibt, wofür er leben kann. Darum hat die Liebe unzähligen Menschen den Glauben ersetzt, weil sie dieselbe Macht hat, sie gut und gross zu machen, aber eine hundertfache, sie zu beglücken. Darum ist alle grosse und schöne – von Milde und Mildtätigkeit überquellende – Resignation ein Weinberg auf dem Abhang eines Kraters.
Aber darum gilt es auch von allen, die die Wärme der Fruchtbarkeit in sich gelöscht haben, dass sie die einzige unverzeihliche Sünde begangen haben, die gegen des Lebens heiligen Geist. Diese Frauen finden ihre Verurteilung in Lessings Fabel von Hera, die Iris zur Erde sandte, um dort drei tugendstrenge, vollkommen keusche, von keinerlei Liebesträumen besudelte Jungfrauen zu finden. Und Iris fand sie wohl, aber brachte sie nicht in den Olymp. Denn der Hades hatte sie schon von Hermes holen lassen, in der Unterwelt – die gealterten Furien zu ersetzen!
Weil die Mittel des Lebens nie seinen Zweck verdecken dürfen, – der darin besteht, mit unserem ganzen Wesen zu leben und so eine immer grössere Fülle von Leben mitzuteilen – ist es unsittlich, ausschliesslich für die Heiligung oder die Arbeit, das Vaterland oder die Menschheit zu leben, ja sogar für die Liebe, denn der Mensch soll durch all dies leben. Seine Abschliessung von einem dieser Mittel zu vollem Menschentum kann nie durch seine Teilnahme an einem der anderen ersetzt werden, ebenso wenig wie einer seiner Sinne durch einen anderen, selbst wenn dieser letztere durch den Zwang, an Stelle des verlorenen zu dienen, vervollkommnet wird. Und die Resignation, die sich vorzeitig mit einem Teil des Rechtes ihrer Menschennatur begnügt, anstatt das Ganze anzustreben, diese Resignation ist ein Schlummer im Schnee. Es ist unleugbar ein ruhigerer Zustand, als seine Seele spannkräftig für neue Erlebnisse zu bewahren. Denn dann muss man auch neuer Wunden gewärtig sein; und wer seine Leidensfähigkeit wach erhält, kann überzeugt sein, mehr erdulden zu müssen, als der, welcher sie mit einem Opiat eingeschläfert hat. Aber kein Wertmesser ist schlechter, als der, ob man leidet oder nicht leidet. Die Frage ist nur, wodurch man leidet und was man – für sich selbst und andere – durch seine Schmerzen wird oder nicht wird.
Das Leben hält in seiner einen Hand den goldenen Königsreif des Glücks, in der anderen die Dornenkrone des Leids. Seinen Lieblingen reicht es beide. Aber nur der geht leer aus, dessen Schläfen von keiner berührt werden.