Nein, antworten Ch. P. Stetson und mit ihr viele andere, die Lösung ist Staatserziehung. Seht all die schlechten Heime an, wo die Kinder weder die körperlichen noch die geistigen Bedingungen für eine gesunde Entwicklung haben. Kollektiv kann die Erziehung aller Kinder sich sowohl besser wie billiger gestalten. Nur die von den Mühen der Kinderstube und der Küche befreiten Frauen sind wirklich frei. Für die an öffentliche Tätigkeit gewöhnte Frau sind die häuslichen Aufgaben einförmig und langweilig. Als frei gewählte Arbeit kann hingegen die Kinderpflege die dazu Beanlagten befriedigen. Die Mehrzahl der Mütter sind für ihre kleinen Kinder nur Affenmütter, und wenn die Kleinen heranwachsen, dann verwandelt sich die unkluge Zärtlichkeit in hartnäckige Verständnislosigkeit.

So wird nun des weiten und breiten gesprochen. Und je mehr gesprochen wird, desto überzeugter werden die Frauen, dass alle diese Halbwahrheiten – die Wahrheit seien!

Also, in Müttern, die zu schlecht sind, um ihre eigenen Kinder zu erziehen, hofft man neue ausgezeichnete Führerinnen der Gesellschaft zu finden? Eltern, denen selbst Erzieheranlagen und Herzensanlagen fehlen, sollen – mittelbar oder unmittelbar – die Anstalten überwachen und die Personen wählen, die an ihrer Statt die Elternaufgabe erfüllen sollen! Mit andern Worten: sie sollen Fähigkeiten entdecken und bewerten, die ihnen selbst fehlen! Die Mühen, die eine Frau für die Kinder, denen sie selbst das Leben gegeben, nicht erträgt, sollen andere Frauen für 10 – 20 – 30 Kinder ertragen, die nicht ihre eigenen sind!

Es gibt zuweilen noch heute eine Art Urtypen der Weiblichkeit, von so breiter Mütterlichkeit, mit einem solchen Überschuss an Kraft, Zärtlichkeit, Organisationstalent, dass sie für ein einziges Heim zu stark sind; dass sie wirklich den unerhörten Reichtum an geistiger Elastizität, Freudigkeit und Wärme besitzen, der erforderlich ist, dass jedes Kind seinen vollen Teil daran empfange. Aber die meisten Frauen dürften nicht mehr von alledem besitzen, als gerade für ihre eigenen Kinder notwendig war. Und mit solchen bald abgebrauchten »Wahlmüttern« würden 10 – 20 – 30 Kinder geistig ebenso schlecht fahren, wie körperlich, wenn die Muttermilch einer einzigen Frau unter sie alle verteilt würde. Es ist schon ein grosser Verlust für die Gesellschaft, dass so viele Menschen durch unzureichende Ernährung in der Kindheit fürs Leben geschwächt werden. Aber nach dem eben erwähnten, jetzt von so vielen gutgeheissenen Kulturplan, würden alle in ihrer Kindheit in bezug auf Liebe ausgehungert werden. Es ist schon ein grosser Kulturverlust, dass die Schule die Kinder gleichformt. Noch unverbesserlicher wäre der Schade, wenn schon eine durchgeführte Staatserziehung dieses Drechseln beginnen würde!

Die Gefahr der Massenwirkung und der Nivellierung ist unzertrennlich von der jetzigen, immer festeren Organisation der Gesellschaft, bei einem immer notwendigeren Zusammenwirken, einem immer engeren Zusammenhange, einem immer innigeren Gemeingefühl zwischen den Teilen. Die Organisierung muss sich weiter vollziehen, nicht zum geringsten deshalb, weil nur auf diesem Wege der Einzelne jetzt immer mehr Freiheit zur Entwicklung und zum Gebrauch seiner persönlichen Kräfte erringen kann. Aber wenn diese erleichterten Möglichkeiten, individuelle Bedürfnisse zu befriedigen und individuelle Kräfte zu betätigen, von Wert für den einzelnen – und durch ihn für das Ganze – sein sollen, dann müssen auch die Individualitäten erhalten bleiben, die diese Möglichkeiten gebrauchen können!

Und nun ist es ausgemacht, dass das Heim – mit seinen wechselnden Verhältnissen von gut und böse – in erster Linie das beste Mittel ist, um ein sich organisch entwickelndes Solidaritätsgefühl mit dem Ganzen zu schaffen. Das Leben selbst ruft in der Familie eine Zusammengehörigkeit zwischen den einzelnen Mitgliedern derselben hervor, ein Mitgefühl mit dem Schicksal anderer, einen Kontakt mit den Wirklichkeiten des Lebens, mit dem Ernst der Arbeit, wie ihn eine Anstalt nicht erzielen kann. Durch die Mühen von Vater und Mutter werden die Freuden des Heims geschaffen; die Liebe zu allen wägt dort das Recht eines jeden ab; sie gibt jedem in so natürlicher Weise Gewicht und Gegengewicht, dass die methodischen Anordnungen einer Anstalt niemals imstande sind, dasselbe zu leisten. Und zugleich werden die verschiedenen Häuslichkeiten durch die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Eindrücke, die sie bieten, die besten Mittel, verschiedene Temperamente und Eigenarten auszubilden. Wie eng und armselig ein Heim auch in jedem Betracht sein mag – in der Regel bietet es doch mehr persönliche Bewegungsfreiheit und ruft weniger Massenwirkung hervor als die gemeinsame Erziehung.

Wenn dies schon von jenen Häuslichkeiten gilt, wo von Erziehung im tieferen Sinne nicht die Rede sein kann, so werden in den besseren Familien die Wachsamkeit und Wärme der Liebe, das Verständnis und Feingefühl die Mächte sein, die die Eigenart hervorlocken und schirmen, und die am sichersten entdecken, was bekämpft und was in Ruhe gelassen werden soll, um sich selbst zu entwickeln. Dazu kommt noch der Einblick, den die Kenntnis, welche die Eltern von sich selbst und von einander haben, ihnen in die Charaktere der Kinder eröffnet, ein Einblick, den kein Fremder haben kann.

Dagegen wendet man ein, dass wenn jeder Bezirk der Stadt und mindestens jede Quadratmeile auf dem Lande ihre »Staatskinderstube« hätten, die Eltern ja oft nach den Kindern sehen und sie zuweilen nach Hause nehmen könnten und so Gelegenheit hätten, ihren Einfluss auszuüben. Aber abgesehen davon, dass das Verhältnis sich dann in den meisten Fällen so gestalten würde, wie wenn die Kinder »en nourrice« von den französischen kleinbürgerlichen Eltern besucht werden – nämlich, dass die Zärtlichkeit sich in dem Eifer zu amüsieren und zu putzen, zu hätscheln und zu spielen zeigt – so vergisst man das Wesentlichste. Dies ist, dass Zeit, mehr Zeit und noch mehr Zeit die eine Bedingung der Erziehung ist, Ruhe die zweite. Seelen werden nicht wie Krankheiten zu bestimmten Behandlungsstunden gepflegt!

Es gibt – was die Eltern noch allzu leicht vergessen – kein Gebiet, wo der rechte Augenblick bedeutungsvoller ist als bei der Erziehung. Die Handlung, die die Mutter am Morgen sah, darf sie oft erst abends am Bettchen des Kindes zur Sprache bringen; das Geständnis, das im richtigen Augenblick über die Lippen des Kindes gestürzt wäre, erhält der Vater nie, weil der Moment nicht benützt wurde; die Worte, die die Mutter die eine Woche schmerzten, findet sie vielleicht in der folgenden ungesucht Anlass erfolgreich zurückzuweisen. Die Liebkosung, nach der ein kleines Köpfchen sich am Abend glühend sehnt, wird es morgen vielleicht unberührt lassen. Das zärtliche Wort, das im einen Augenblick vielleicht allmächtig gewesen sein könnte, ist ein paar Stunden später machtlos. Und vor allen sind unmittelbare Ratschläge oder Ausstellungen wertlos im Vergleich mit den unabsichtlichen Worten, die die Eltern im Laufe des Tages fallen lassen und die die Wirkung haben, dass das Kind ganz einfach seine Eltern voll menschlich leben sieht!

Nur das Zusammenleben an Werktagen und Feiertagen macht den unmittelbaren Einfluss der Eltern zu einem tiefen; nur dies ermöglicht es, dass die Eltern lernen, das beim Kinde Zufällige vom Wesen zu unterscheiden, in seinen wechselnden Stimmungen das plötzlich Angeflogene vom Dauernden zu trennen.

Und endlich, wenn man glaubt, herausgefunden zu haben, dass die Kinder zu Hause zu viel Wärme empfangen, dass sie besser für das Leben abgehärtet werden sollten – hat man da niemals solche »Abgehärtete« beobachtet? Hat man nicht gesehen, wie sie sich verschönen, wenn ihnen ein Winkel in einem Heim gegönnt wird, wo sie sich zu Hause fühlen können; hat man nicht entdeckt, wie sie auf dem Gebiete der Intelligenz hoch über ihrer Zeit stehen können, auf dem des Gefühls hingegen auf dem Standpunkt des Wilden?

Weit davon entfernt, dass das Heim zu warm ist, ist es im Gegenteil selten warm genug durch die einzige Liebe, die das Leben hindurch währt, die Liebe des Verstehens. Nie noch wurde ein Mensch zu viel geliebt, nur zu wenig, zu schlecht. Der ganze Zeitgeist arbeitet schon den der blinden Zärtlichkeit der Tiereltern verwandten Vater- und Muttergefühlen früherer Zeiten entgegen. Die Zärtlichkeit, die sich erhalten hat, muss vertieft, nicht geschwächt werden.

Das strahlende, unbewusste Glück des Kindes ist es, zu beglücken, dem Lächeln zu begegnen, das es selbst hervorruft; Zärtlichkeit zu bezeugen und Zärtlichkeit zurückzubekommen; die Sicherheit und den Stolz zu fühlen, seinem Vater, seiner Mutter zu gehören und sie selbst zu besitzen; dieses Entzücken in Spiel und Liebkosungen zu äussern und demselben Entzücken zu begegnen, ohne dass es doch leer wird. Denn in einem Heim, in dem irgend ein Ernst herrscht, lernt das Kind früh begreifen, dass Liebe auch Arbeit und Opfer für einander bedeutet. Aus einer solchen Liebe wird das seelisch-persönliche Blutband geschaffen, während das »natürliche« schwach wird, wenn es nicht von dem scheinbar unbedeutenden, stündlichen, täglichen, jahrelangen Einfluss all der ungreifbaren, unsichtbaren Dinge umsponnen wurde, von denen schon die Edda wusste, dass sie die unzerreissbaren Bande schaffen. Das Elternhaus ist mit einem Worte für die Entwicklung der Menschheitsgefühle das, was die Heimat für die Entwicklung der Vaterlandsgefühle ist. Schon jetzt leidet das Familienleben in beunruhigendem Grade unter dem immer gierigeren Griff der Schule nach den älteren Kindern; unter der Zerstreutheit und Verhältnislosigkeit, die dem Heim gegenüber entsteht, wenn dieses die Kinder nur zu den Mahlzeiten, an Sonntagen und in den Ferien hat. Aber wenn nun auch noch die ganz kleinen Kinder in dieselbe Lage kämen, dann würde das Übel auf die am meisten lebenentscheidenden Jahre ausgedehnt.

Um uns nun von den Eltern und Kindern den neuen Erzieherinnen in den Kinderstuben der Bezirke und Quadratmeilen zuzuwenden, wie will man, dass diese für ihre eigenen Kinder hinreichen, wenn sie Mütter sind, wie – wenn sie mütterlich sind – sollen sie sich mit denen anderer begnügen, die sie ausserdem wieder und wieder verlieren müssen? Haben wohl die Frauen, die »befreit« werden wollen, jemals an die Leiden dieser anderen gedacht?

Die einzige Möglichkeit, dass solche Pflegerinnen es überhaupt aushalten, ist die, dass sie den Kindern nur das allgemeine Wohlwollen schenken, was für die Kinder nicht genug ist. Liebe können sie nicht geben. Kein Wort ist missbrauchter als die Liebe, nicht zum geringsten dadurch, dass die Verkünder des Christentums den Begriff zu einem Dünnbrot für aller Speisung abplatten, zu der sogenannten allgemeinen Menschenliebe. Aber es gibt keine allgemeine Menschenliebe; es kann keine geben; sie wäre ein ebenso grosser Selbstwiderspruch, wie etwa die Vierseitigkeit des Dreiecks. Eine Barmherzigkeit gibt es, die sich gleich Öl über alle Wunden ergiesst; Mitleid und Mitfreude gibt es zwischen einzelnen; gegenseitige Hilfe und gegenseitige Verantwortung innerhalb der Gesellschaft; gemeinsamen Jubel oder gemeinsamen Schmerz mit unserem Volke oder mit der Menschheit in grossen Augenblicken. Aber alle Liebe vom Menschen zum Menschen, die diesen Namen verdient, ist im höchsten Grade persönlich, ist eine Auswahl, eine Unterscheidung. Ist sie das nicht, dann ist sie überhaupt nichts. Eine Frau wählt ihre Kinder schon, wenn sie deren Vater wählt. Und sie trifft oft eine Wahl der Vorliebe unter den Kindern selbst. Eine individuell entwickelte Mutter behauptet oft mit Fug ihr Recht, ihre Kinder nicht gleich zu lieben. Sie lässt ihnen allen die zärtliche Fürsorge zuteil werden, die sie in gleichem Masse brauchen; sie ist derselben weitherzigen Gerechtigkeit gegen sie alle fähig, aber sie hat häufig für eines von ihnen eine persönlichere Liebe als für die übrigen. Die tiefe Tragik im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist gerade die, dass dieses Verhältnis oft leidenschaftlich ist wie die persönliche Liebe, aber ohne das Verständnis derselben; dass sie die Forderungen eines grossen Gefühls hat, aber nicht die Möglichkeit des individuellen Gefühls, sich in demselben Masse zu vertiefen, in dem die Forderungen sich steigern.

Nur persönliche Liebe ist für das Bedürfnis des Kindes genug. Eine »Wahlmutter« wird vielleicht einmal, mehrere Male eine solche Liebe zu einem oder einigen der ihr anvertrauten Kinder empfinden können. Aber sie kann diese Liebe nicht für sie alle hegen, und sie wird selbst ganz zerrissen, wenn die Kinder, die sie liebt, ihr wieder und wieder genommen werden.

Überdies muss es ja Anstaltsmütter zu vielen Tausenden geben, wenn die ganze Gesellschaft auf dieser Grundlage aufgebaut werden soll? Und dann ginge es mit ihnen wohl wie mit den Geistlichen, die in den ersten Gemeinden vom heiligen Geiste berufen wurden, später aber von – der Gemeinde! Immer seltener würde die geprüfte persönliche Begabung, die innere Notwendigkeit entscheidend sein, sondern vielmehr nur die geforderte Berufsausbildung.

Durch solche Berufsmütter, meint man nun, würden für die Kinder bessere Lebensbedingungen geschaffen werden als in ihrem eigenen Heim, wo, trotz aller Mängel, die persönliche Verantwortung und die persönliche Zärtlichkeit die Unvollkommenheiten einer höheren Erziehungsart weniger gefährlich machen, als die Vollkommenheiten einer niedrigeren?!

Es gibt allerdings Ausnahmsverhältnisse, für die bis auf weiteres die Krippe, der Kindergarten, das Kinderheim, die Besserungsanstalt auch da sein muss. Aber anstatt sich zu bestreben, diese Hilfsmittel zu verallgemeinern, sollte man sich bemühen, die Ursachen aufzuheben, die sie notwendig machen. Dies wäre ein Wegbauen in rechter Richtung. Das andere hingegen ist ein Abkürzungsweg, der sich unfehlbar als ein Umweg erweisen wird. Es ist wahr, dass die Armut jetzt vielen Kindern ein ungesundes Heim bereitet. Dann greifet die Ursachen der Armut an, anstatt die Kinder zu nehmen und die Eltern im Elend zurückzulassen. Es ist wahr, dass Elternliebe oft unklug ist. Erzieht doch die Eltern zu Menschen! Es ist wahr, dass Eltern auf Kosten anderer Kinder das Erbteil gewisser Kinder vergrössern. Hindert doch diese Möglichkeit.

Aber raubt nicht allen Kindern ihr rechtmässiges Erbteil: die Heimgefühle und Heimerinnerungen, die Familiensorgen und Familienfreuden, all dies, was dem Naturell jedes Menschen seinen besonderen Ton, Farbe und Duft verleiht.

Hebt nicht die bedeutungsvollste aller Gemeinsamkeitserziehung auf, die der Kinder durch die Eltern, die der Eltern durch die Kinder!

Allerdings wird die Freiheit der Liebe zusammengesetztere Familienverhältnisse mit sich bringen, als es die jetzigen sind. Aus diesem Gesichtspunkt scheint für die Kinder ein Vorteil in den staatlichen Anstalten zu liegen, wo ihr Leben nicht so unmittelbar durch die Erschütterungen im Dasein der Eltern beeinflusst zu werden brauchte. Aber der Mehrzahl der Kinder ihr Heim zu rauben, weil die Minderzahl das ihre vielleicht verlieren kann, dies wäre ein schlechterer Ausweg, als der, das Heim enger mit der Mutter zu verbinden und die Menschen so zu entwickeln, dass sie Freunde bleiben können, auch wenn sie aufgehört haben, Gatten zu sein, und folglich weiter imstande sind, für das Wohl der Kinder zusammenzuwirken.

Es soll, mit einem Worte, nicht die Familie aufgehoben, sondern das Familienrecht umgestaltet werden. Nicht die elterliche Erziehung soll vermieden, sondern die Erziehung der Eltern eingeführt werden; man soll das Heim nicht abschaffen, sondern die Heimlosigkeit soll aufhören.

Die Staatserziehung würde so wirken wie die Aufziehung der Waisenhauskinder mit pasteurisierter Milch: sie erkrankten, als ihnen gewisse unentbehrliche Bazillen entzogen wurden! Die Menschen, die mit der bakterienfreien Milch des allgemeinen Wohlwollens aufgezogen würden, in der keimfreien Luft der gleichförmigen Ordnung; die ihre Nahrung aus den Anstaltsautomaten erhielten, ihre Bildung in der Knopfgiesserei der Schule, ihren Beruf als Wachsfabrikanten im Bienenkorb der Gesellschaft – diese Unglücklichen dürften das Dasein so zahm und so leer finden, dass diejenigen, die sich nicht vor dem zwanzigsten Lebensjahr aus Lebensüberdruss umgebracht hätten, ihren atavistischen Glückswillen wohl darauf wenden würden, die Anstalten zu verbrennen und den Menschen wieder Heime zu bauen!

Begreift man denn nicht, dass die Anstaltserziehung der jungen Generation die letzte und schwerste Erfahrung des Lebens aufzwingen würde: die, keinem am meisten und am nächsten zu sein, und dass diese schwere Frucht – unter der alte Bäume sich biegen können – die jungen für immer zu krümmen vermag? Sieht man nicht ein, dass, wenn auch jetzt manches Heim eine Hölle ist, man erst dann in den untersten Höllenring – den Dantes Phantasie eiskalt machte – versinken würde, wenn die Wärme erlösche, die die Herde der Heime doch jetzt ausstrahlen, wenn die Zentralwärmeapparate der Anstalten sie ersetzten? Wenn das Dasein von Wesen mit ausgehungerten Herzen, erfrorenen Seelen, abgeplatteter Eigenart erfüllt wäre – welchen Baustoff würden diese für das Gemeinwesen abgeben, in das sie einträten? Wer weiss, ob sie überhaupt noch Kinder als Rohmaterial für die Menschenfabriken in die Welt setzen wollten? Oder die Erfordernisse zum Unterhalte des Lebens erzeugen, das bar jeder persönlichen Glücksquelle wäre? Ob sie es wohl überhaupt der Mühe wert fänden, irgend einen Beschluss über eine Gesellschaftsordnung zu fassen, die ihnen die grössten Lebenswerte raubt?

So wunderbar stark ist im Menschen das Bedürfnis, irgend wohin zu gehören, bei den Seinen zu sein, sich in irgend einem armseligen Erdenwinkel, in einem einzigen armen Herzen daheim zu fühlen, dass dieses Gefühl sogar die Macht hat, auf unterirdischen Wegen das Wasser eines Sumpfes zu einer Quelle zu klären.

Auf einer Eisenbahnfahrt im Süden befand sich einmal eine Frau, deren Gesicht, Gestalt und Benehmen den tiefsten Verfall verriet. Und diese Mutter hatte eine schöne sechsjährige Tochter! Nie war es schrecklicher, ein Kind auf dem Schosse seiner Mutter zu sehen; nie schien ein Amulett machtloser als das Heiligenbild, das eine mitleidige Hand dem Kinde um den Hals gehängt hatte. Aber als dieses sich an die Mutter lehnte, wurde es von der betrunkenen Dirne mit einer zärtlichen Bewegung umfangen, die ihr einen Schimmer menschlicher Würde wiedergab. Und als das Kind in den Blicken der Mitreisenden den Abscheu las, den die Mutter einflösste, da flammte in seinen dunklen Augen ein Ausdruck zornigen Schmerzes auf, und es nahm vor seiner Mutter eine zärtlich schützende Stellung ein. Niemand konnte darüber im Zweifel sein, dass das Kind aus diesen unreinen Händen genommen werden sollte. Aber ob wohl eine bessere Pflege das grosse Gefühl hätte schaffen können, das in diesem Augenblicke die Seele des Kindes weitete? Und wenn man sogar in einem Falle wie diesem über die Grenze zwischen Nutzen und Schaden unschlüssig sein muss, so ist man in vielen anderen Fällen überzeugt, dass der Mensch nicht unbedingt dort, wo er die beste Nahrung, das reinste Bett, die gleichmässigste Pflege findet, am besten wächst, sondern dort, wo seine Seele von den wärmsten und grössten Gefühlen erhoben werden kann. Zu den heiligen Geheimnissen des Lebens gehört überdies auch das, dass die meisten Eltern, jeder für sich und gegeneinander, schlechter sind, als die Kinder sie zu sehen bekommen. Denn das Wesen, vor dem ein Elender zuletzt seine verhüllenden Lumpen von Menschenwürde abwirft, ist sein Kind. Gegen die Schlechtigkeit der Eltern und gegen ihre Misshandlungen müssen die Kinder jedoch geschützt werden, und zwar in viel höherem Grade als jetzt, dadurch dass das Recht und die Pflicht der Gesellschaft, in diesen Richtungen einzugreifen, immer weiter ausgedehnt wird. Aber wo es möglich ist, soll den Kindern ebensowenig der Schutz des Heims geraubt werden, wie dem Heim der Schutz, den ihm die Kinder geben, indem sie die Eltern zu einem gewissen Grade der Selbstzucht, Selbstbeherrschung und Selbstaufopferung nötigen, wodurch deren Seele über das eigene Ich hinaus erweitert wird! In dem Augenblick, in dem die »abhärtende« Luft der Anstalten alle Kinder umschlösse, würde der Menschenwert mit noch grösserer Geschwindigkeit sinken als das Menschenglück.

In all dem oben Gesagten liegt durchaus keine Blindheit dagegen, dass auch die besten Heime heute Strafanstalten sind gegen das, was sie werden können, wenn die Gestaltung eines Heims Wissenschaft und Kunst geworden ist. Bis auf weiteres werden die Heime glücklicherweise – oder unglücklicherweise – weder rezensiert noch preisgekrönt! Aber diese Zeit kommt vielleicht noch – sowie man schon jetzt in Frankreich das siebente Kind auf Staatskosten erzieht und Orden für die Frauen beantragt, die die grösste Anzahl tüchtiger Kinder geboren und erzogen haben! Und dann, wenn nicht früher, werden vielleicht die »befreiten« Frauen wieder einiges Interesse für eine Kraftentwicklung in der Richtung des Heims empfinden?!

Was jetzt den Wert selbst der guten Heime in äusserer Beziehung vermindert, ist, dass sie danach eingerichtet sind, ein gewisses »Aufwärtsstreben« zu fördern, das der gerade Gegensatz zu wirklicher Lebenssteigerung ist, deren erste Bedingung darin besteht, dass das Heim in materieller Richtung das Behagen und die Gesundheit seiner eigenen Mitglieder anstrebt, nicht die Lebensgewohnheiten Aussenstehender. Was wieder in geistiger Beziehung die Heime, selbst die allerbesten, geringer macht, ist, dass man in ihnen noch die Familienrücksichtslosigkeit früherer Zeiten bewahrt, eine Rücksichtslosigkeit, die – durch die neue Feinfühligkeit, die Stärke des tieferen Persönlichkeitsbewusstseins – schon von Kindesbeinen an tägliche Qualen verursacht, die ebenso unfehlbar Luft und Nahrung vergiften, wie die schwereren Fehler der schlechten Häuslichkeiten.

Man gestattet sich noch in der Familie eine Ironie gegen die Eigenart des anderen, ein Niederstimmen der Meinungen, ein gegenseitiges Ausforschen von Geheimnissen, eine Auslieferung der vertraulichen Mitteilungen, die die Mitglieder der Familie für den Alltag auf den Fuss der bewaffneten Neutralität stellt. In den guten Familien hindert die Zuneigung, aber in den weniger guten die Furcht, dass man zu offenem Kriege übergeht. Denn in beiden Fällen kennen alle gegenseitig ihre verwundbaren Stellen so gut, dass sie sehr wohl wissen, wie blutig der Kampf für sie selbst wie für die anderen wäre!

Aber solange selbst die besten Häuslichkeiten diese Fehler haben, müssen die Anstalten sehr ähnliche aufweisen, da beide aus demselben Menschenmaterial gebildet sein würden. Die Anstalten hätten hingegen nicht die Vorteile, durch die die Häuslichkeiten die Fehler aufwiegen. Diese letzteren können durch höhere Seelenkultur immer mehr gemildert werden. Aber nichts vermöchte das zu ersetzen, was die Menschheit durch die Aufhebung des Heims verlieren müsste.

Der Schlusssatz wird also sein, dass – wie verschieden auch der Konflikt zwischen den Persönlichkeitsforderungen und dem Mütterlichkeitsgefühl der Frau in Ausnahmefällen gelöst werden muss – sich doch, im allgemeinen gesehen, die Frauen, die sich, um der Menschheit zu dienen, der Mutterschaft oder deren Mühen entziehen, handeln wie ein Krieger, der sich auf die Schlacht des folgenden Tages dadurch vorbereitet, dass er am Abend vorher seine Adern öffnet.

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