Die Mütterlichkeit der Gesellschaft
Auf einem kürzlich abgehaltenen Frauenrechtlerinnenkongress wurde eine Kantate gesungen, die verkündete: dass die Menschheit unter der Herrschaft des Mannes in Dunkelheit und Verbrechen umhergetappt sei. Aber aus der Seele der Frauen würde die Menschheit wieder geboren werden, der Sonnenaufgang würde das nächtliche Dunkel zerstreuen und das Erscheinen des Messias gewiss sein!
Dass die Männer in der Zeit ihrer Gewaltherrschaft doch einige Kleinigkeiten zusammengebracht haben – beispielsweise Religionen und Gesetze, Wissenschaften und Künste, Entdeckungen und Erfindungen – dass ihre Winternacht wenigstens eine Winterstrasse[1] gehabt hat, das geruhte Ihre Majestät die Frau zu vergessen!
Wenn der Mann rachsüchtig genug wäre, nachzuforschen, was denn die Frau im Laufe der Zeiten geleistet habe, das ihr schwindelndes Selbstgefühl berechtigen oder, mit andern Worten, den Vergleich mit den eben genannten Werken des Mannes bestehen könnte, dann fände er nur eines!
Als die Natur den Geschlechtstrieb schuf, da wandelte die Frau ihn in Liebe um; als die Notwendigkeit die Wohnstätte hervorrief, da schuf die Frau daraus das Heim. Ihr grosser Kultureinsatz war also die Zärtlichkeit.
Und dieses Werk ist in Wahrheit bedeutungsvoll genug, um den Einsatz des Mannes aufzuwiegen – nicht aber, um ihn wertlos zu machen!
Glücklicherweise verstummt die Behauptung immer mehr, dass die »Unterdrückung« durch den Mann der Frau die Möglichkeit geraubt habe, auch auf seinen Gebieten ihre Kraft zu erproben. Mehr und mehr sieht man ein, dass im Daseinskampfe die Notwendigkeit der Gesellschaftsarbeit der Frau die Form der häuslichen Arbeit gab. Dieselbe Notwendigkeit hat nun – im grossen gesehen – die an die häusliche Arbeit gebundenen Kräfte freigemacht, obgleich die Frau niemals, zu keiner Zeit, von dem Gebrauch ihrer geistigen Fähigkeiten ausgeschlossen war. Dieser Gebrauch war jedoch selbstverständlich nur ein gelegentlicher, solange die ganze Hauptsumme ihres Kraftverbrauchs einem andern Gebiete angehörte.
Aus dem Gesichtspunkte der nun befreiten weiblichen Persönlichkeit verlangen die Frauen – und viele Männer für sie – das Recht, diese persönlich-menschlichen Kräfte für die Gesellschaftsarbeit einzusetzen. Sie weisen besonders auf die Versäumnisse des Staates in jenem Pflichtenkreise hin, der schon im Heim ihr eigenster ist, nämlich das Dasein der Zarten oder Schwachen zu schützen und zu heben. Und die Männer beginnen einzusehen, dass, je fester die Gesellschaft sich organisiert, desto unentbehrlicher das Zusammenwirken aller ihrer Teile wird, wenn der soziale Organismus wirklich sein Ziel, die Wohlfahrt aller, erreichen soll; sie sehen ein, dass die neuen Formen der Staatshilfe wie der Selbsthilfe, die man nun immer zielbewusster sucht, nicht den wirklichen Bedürfnissen angepasst werden können, wenn nicht die Frau auf allen Gebieten mit dem Manne zusammen arbeiten und an der Gesetzgebung teilnehmen kann, die über ihre eigene Wohlfahrt wie über die ihrer Kinder entscheidet.
Aber dass die Organisierung der Gesellschaft nun so weit vorgeschritten ist, dass der Mann sich nach der Hilfe der Frau umsieht, das sollte kein Grund für die Frauen sein, dem Manne die ganze Schuld an der langsamen Entwicklung der Gesellschaft aufzubürden! Die Langsamkeit ist in gleichem Grade der bisherigen Natur der Frau wie der des Mannes zuzuschreiben, der Begrenzung, der Gebundenheit beider durch die Gesetze der Entwicklung. Das Fortschreiten zu höheren Zuständen beruht in gleichem Masse auf Umwandlungen in beider Wesen, beider Idealen, beider Kulturmitteln und Kulturzielen. Diese Umwandlungen nehmen ihren allerersten Anfang mit der Erziehung, die die Frauen der neuen Generation geben, welche dann Gesetze erlassen, die Arbeit ordnen und den Verbrauch nach den Bedürfnissen bestimmen wird, die sie mit ins Leben bringen, nach den Werten, die sie im Heim lieben gelernt haben.
Unsere Zeit ist diejenige, die sich ihrer eigenen Mängel wahrscheinlich am meisten bewusst ist. Aber nichts ist für das Rechtsgefühl empörender, als wenn dieses Bewusstsein die Form des Grössenwahnsinns der Frauen annimmt, die meinen, dass es in ihrer Machtvollkommenheit stehe, den Weltverlauf zu wenden!
Nach der ersten grossen Einteilung der Menschheit durch die Natur haben Natur und Kultur vereint eine feinere getroffen, die des Schöpfers auf der einen Seite, des Stoffes auf der anderen. Nächst dem, selbst ein Schaffender zu sein, ist es gross, edler Stoff in der Hand eines Schaffenden zu werden. Und Kultursteigerung in geistigem wie in materiellem Sinne vollzieht sich dadurch, dass es den Schöpfern gelingt, Macht über den Stoff zu gewinnen. In bezug auf das Menschenmaterial bedeutet dies, dass die Schöpfer – oder Führer – es zustande bringen, die übrigen zu wirklich wollenden und wägenden Mitarbeitern zu machen. Von Hirten vorwärts getriebene Herden oder Massen mit diesen gleichwertigen Köpfen an der Spitze haben nie dauernde Wirkungen im Kulturverlauf hervorgebracht. Diese treten erst dann ein, wenn ein Schöpfer die Vielen für neue Ziele entflammt oder sie lehrt, die Mittel zu veredeln, durch die sie erstrebenswerte Ziele erreichen können.
Ob es den Frauen gelingen wird, der Gesellschaftsentwicklung eine ganz andere Richtung zu geben, als es die Männer bisher getan haben, hängt also davon ab, ob unter den Frauen Führerinnen erstehen werden, die auf höhere Ziele hinweisen und reinere Mittel gebrauchen, als selbst die besten Männer bisher.
Aber was gibt uns die Berechtigung, dies von den Frauen zu erwarten? Die Berechtigung kann nirgends anderswo gesucht werden, als auf dem Gebiete ihrer eigenen Schöpfungen, der Liebe, der Mütterlichkeit, des Heims, des Haushalts. Wenn es sich zeigt, dass die Frauen all diesen Gebieten die Vollendung gegeben haben, deren sie fähig sind, dann ist wirklich vollauf Grund vorhanden, auch an ihre wunderwirkende Macht auf dem Gebiete der Gesellschaftsorganisation zu glauben.
Aber wenn man auch voll die Hindernisse anerkennt, die die Gesellschaftsordnung des Mannes, seine Gesetzgebung, seine Natur den Frauen in den Weg gestellt hat – gibt es eine einzige denkende Frau, die zu behaupten wagt, dass sie selbst, dass die Frauen im allgemeinen doch auf ihrem besonderen Gebiete alles getan haben, was sie konnten; dass sie bis zum äussersten alle Gelegenheiten benützt haben, die ihnen zugänglich waren? Welche gewissenhafte Frau sieht nicht ein, dass die meisten noch die grossen Erfindungen ihres Geschlechtes durch die Art verpfuschen, wie sie als Pflegerinnen und Erzieherinnen der Kinder wirken, als Geliebte, Gattinnen, Heimgründerinnen, Hausmütter! Auf jedem Gebiete lassen sie Kunst und Wissenschaft, Klarblick und Fürsorge vermissen. Sie haben oft nicht die primitivsten Voraussetzungen, ein Liebesglück zu vertiefen und zu verfeinern; wertvolle Kinder zur Welt zu bringen und zu erziehen; mit den geringsten Ausgaben an Kräften und Mitteln die grösste Summe materiellen Wohlbefindens für die Mitglieder der Familie zu erzielen; den geistigen Einkommen- und Ausgabenetat so zu ordnen, dass die höchstmögliche Lebenssteigerung der Reingewinn ist. Ganz so wie die Mehrzahl der Männer nur langsam und teilweise die Gedanken, die Schönheitswerke, die Erfindungen, die ihre Führer ihnen bringen, aufnehmen und umsetzen, so nehmen auch die Frauen nur langsam und teilweise die führenden Ideen auf ihrem Gebiete auf.
Es muss also, nicht nur in der Natur des Mannes, sondern auch in der des Weibes, etwas geben, das die Vollkommenheit erschwert und den Fortschritt aufhält?!
Wenn dem so ist – und die Annahme dürfte wohl nicht als zu kühn angesehen werden – dann wird man vielleicht auch wagen dürfen, einen leisen Zweifel daran auszusprechen, ob die Menschheit es wirklich so viel weiter gebracht haben würde, wenn in den vergangenen Jahrhunderten die Frauen die Führung innegehabt hätten? Und hat man sich einmal so weit gewagt, dann wird man sich auch erkühnen können, zu fragen: ob diese selben Frauen – die ihre eigenen Werke so wenig vervollkommnet haben – wenn sie nun dahin gelangen, an der Gesellschaftsorganisation teilzunehmen, sogleich das vervollkommnen werden, was der Mann verpfuscht hat: die Schwerter in Pflugscharen umwandeln und das Reich des Messias schaffen, wo Friede und Gerechtigkeit sich den Bruderkuss geben?!
Erst nachdem sie sich von jeder Gemeinschaft mit Frauenüberhebung und Frauenverherrlichung losgesagt hat, kann eine Frau von intellektuellem Anständigkeitsgefühl sich mit der Frage der Gesellschaftsarbeit ihres Geschlechtes befassen.
Die Vertreterinnen der Frauenbewegungen bilden in allen Ländern eine Rechte und eine Linke, jede wieder mit einem äussersten Flügel.
Der eigentliche religiöse Kult der Rechten ist die Frau als Idealwesen. Daneben umfasst ihre Dogmatik das Christentum, die Monogamie und im übrigen die bestehende Gesellschaftsordnung. Innerhalb der alten Formen wollen sie die Frau dem Manne gleichgestellt sehen. Für den äussersten Flügel dieser Gruppe sind die Pflicht, die Arbeit und die Nützlichkeit die grossen Worte des Lebens: das Glück, die Liebe und die Schönheit fallen nicht in den Kreis der Rechte und Pflichten der Frau! Die Flecken des jetzigen Gesellschaftsgebäudes weiss zu übertünchen; den Raum für sich durch einen rechten Flügel zu vergrössern – das ist ihr höchstes Ziel; das Hauptgebäude selbst wollen sie in unveränderter Gestalt bewahren.
Die Linke hat auch ihre Gottheiten – aber »die Frau« gehört nicht zu ihnen. Sie will die jetzige Ehe durch eine neue Sittlichkeit umbilden, die jetzige Gesellschaft durch eine höhere Organisation, die ein tieferes Solidaritätsgefühl ausdrückt. Sie sieht also das Recht und die Freiheit des Weibes wie des Mannes im Zusammenhang mit der Wohlfahrt der Gesamtheit. Aus diesem Gesichtspunkt hält sie die Freiheit der Frau in der Liebe und ihr Recht auf die Mutterschaft für ebenso wichtig, wie das Recht, zu stimmen und die Freiheit, zu arbeiten.
Hier tritt jedoch eine Scheidung von der äussersten Linken ein, die der Frau dadurch volle persönliche Bewegungsfreiheit geben will, dass sie die Kinder der Obhut der Gesellschaft überantwortet.
Der äusserste Flügel des alten Feminismus begegnet so dem äussersten Flügel des neuen Feminismus darin, dass beiden die Kraftentwicklung der Frau in dem Masse Selbstzweck ist, dass ihr Recht ihnen ganz unabhängig davon erscheint, ob die Kraftentwicklung die Lebenstauglichkeit des ganzen Organismus verringert oder steigert.
In allem übrigen ist der Gegensatz diametral, ausser auf dem Felde, wo alle Gruppen sich begegnen: in der Forderung der juridischen und politischen Gleichstellung der Frau mit dem Manne.
Diejenigen, welche für die Frau politische Rechte als Äquivalent für ihre Steuerpflicht und ihre Muttermühen verlangen, haben gute Gründe für ihre Forderungen.
Anmerkung: Eine in diesem Falle sprechende Ziffer ist, dass – während auf den Schlachtfeldern Hunderttausende von preussischen Männern geopfert wurden – in den Jahren 1816–1875 nicht weniger als 363 624 preussische Frauen im Kindbett gestorben sind.
Noch stärker wird jedoch die Position, wenn der Anspruch sich auf das Bedürfnis der Gesellschaft stützt, dass jedes Mitglied innerhalb derselben mitwirke, die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse zu fördern. Denn die moderne Gesellschaft entspricht immer mehr dem Begriffe eines immer höheren Organismus, wo jeder Teil mehr und mehr wesentlich für das Ganze wird, mit seinen Forderungen und Kräften immer mehr die Wohlfahrt oder das Unheil des Organismus bestimmt, und selbst seinerseits immer mehr Nutzen oder Schaden durch den Zustand des ganzen Organismus hat.
Die Gesellschaft, das sind die Menschen – Männer, Frauen und Kinder, Tote, Lebende und Ungeborene – nicht mehr, aber auch nicht weniger; die Menschen, zusammengeschlossen, um so das Leben des einzelnen und das Leben aller immer höher zu steigern. Dieser Zusammenschluss nimmt zuerst einfache, dann immer zusammengesetztere Organisationsformen an: einfache, solange die Bedürfnisse es sind, da nur die Bedürfnisse den Menschen in Bewegung setzen, um zu organisieren. Eine steigende Kultur bedeutet eine immer vollkommenere Befriedigung immer zusammengesetzterer und veredelterer Bedürfnisse. Aber da die Bedürfnisse uns in Bewegung setzen, ruft auch jede Hemmung der Bewegung unmittelbare Leiden hervor, dadurch dass wir die Ursache unserer Unlust nicht aufheben können; mittelbare, weil wir das Lustgefühl einbüssen, das die Bewegung uns gebracht haben könnte.
Wenn man einsieht, dass es das Ziel des Staates ist, dass jedes seiner Mitglieder seine Kräfte im höchstmöglichen Grade für die höchstmöglichen Ziele gebrauche und entwickle, dann wird man nicht mehr in abstrakten staatsrechtlichen Konstruktionen, sondern in den Gesetzen des Menschenlebens die Kriterien der Gesundheit eines Gemeinwesens suchen.
Die Gesellschaftsordnung muss die Lebenssteigerung der einzelnen begünstigen; die Freiheitseinschränkung des einzelnen muss der Lebenssteigerung des Ganzen zugute kommen – dies ist der Grund, warum der Evolutionist das eine Mal die Bewegungsfreiheit des Individuums erweitern, das andere Mal sie einschränken will.
Der Parallelismus mit dem menschlichen Organismus ist ein greifbarer. Die Gestaltung und die Tätigkeit der einzelnen Zellen entscheiden über den Bau des Organismus; der Grad, in dem ihre Bedürfnisse befriedigt werden, über die Gesundheit des Organismus. Sämtliche Lebensforderungen des Organismus begrenzen die »Machterweiterung« und »Selbstbestimmung« der Zellen, denn ohne die Gesundheit des ganzen Organismus würden auch die Zellen verkümmern.
Jede starke Volksbewegung – und die Wahlrechtsforderung der Frauen ist schon eine solche – wird durch den Willen vieler einzelner hervorgerufen, die Gesellschaft nach einer gewissen Richtung hin zu modifizieren, um ihre besonderen Bedürfnisse und damit die der Gesamtheit besser zu befriedigen. Eine solche Bewegung wird anfangs stets aus dem Gesichtspunkte des Zusammenhalts, des Gleichgewichts und der Gesundheit der Gesamtheit zurückgewiesen. Und da sich eine Umwandlung in einem Gemeinwesen niemals gleichzeitig oder gleichmässig vollzieht, da das Bedürfnis nach neuen Formen lange von geringer Ausbreitung ist, haben die Konservativen in der Regel im Anfang mit ihrem Widerstand recht; recht, bis die Umwandlung so weit vorgeschritten ist, dass die Gesundheit des ganzen Organismus es erheischt, dass die betreffende Gesellschaftsklasse, Glaubensgenossenschaft oder Meinungsgruppe jene Freiheit der Kraftausübung erhalte, ohne die sie sich schlecht befindet. Denn das schlechte Befinden vieler schadet dem Ganzen. Der Konservatismus hat folglich schliesslich Unrecht durch die sich stets wiederholende Erfahrung: dass, wenn die Lebenskraft irgend eines bedeutungsvollen Organs sich erhöht, zugleich die Lebenskraft des ganzen Organismus sich steigert. Und das Wahlrecht der Frau muss also vor allem aus dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Wertes der Frauenkräfte gefordert werden, aus dem sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit ergibt.
»Es fällt uns nicht ein,« antworten die Gegner, »irgend etwas davon zu bestreiten. Die Frau hat schon, zwar nicht der Art, jedoch dem Grade nach, dieselbe Macht wie der Mann, ebenso gewiss wie das Herz ein ebenso lebenswichtiges Organ ist wie das Hirn. Aber der ganze Organismus ginge unter, wollte sich das Herz die Funktionen des Gehirns anmassen. Die Frau ist das Organ des Gefühls im Menschenleben geworden – aber die Gefühle können keine leitende Aufgabe in der Öffentlichkeit haben. Die Frau muss dort entweder sich selbst untreu werden, oder sie kann nicht zu Bedeutung gelangen. Es wäre ein unerhörter Kulturverlust, wenn sie in die Bahnen des männlichen Egoismus gedrängt würde, anstatt ihre ganze Kraft für die Erziehung der künftigen Männer einzusetzen. So würden neue Geschlechter gross gesinnter und gross sehender Männer die Gesellschaft nach den Idealen der Frau umgestalten, anstatt dass sie selbst die Ideale in Parteistreitigkeiten verliert, bei denen Sieg mit allen Mitteln, nicht das Ziel zur Hauptsache wird.« »Wenn,« bemerkte so eine denkende junge Arbeiterin, »der Knabe Mutter wie Vater als Machtstreber sähe, mit all der Härte und Rücksichtslosigkeit, die dies im Gefolge hat, dann wäre der Idealismus in der Welt bald ausgestorben, während hingegen die Frauen, wenn sie rücksichtslos an Väter und Brüder, Männer und Söhne die höchsten idealen Anforderungen stellen, allmählich mittelbar idealere Zustände hervorrufen können.«
Diese Anschauung, die innerhalb des Gesellschaftsorganismus der Frau die Aufgabe des einen Zentralorgans, dem Manne die des anderen zuweist, entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Sowie das Individuum vom Wirbel bis zur Sohle von seinem Geschlecht bestimmt ist, so ist auch die Gesellschaft vom Gipfel bis zum Grunde durchwegs zweigeschlechtlich; jede Funktion der Leitung beeinflusst daher alle Frauen ebenso wie alle Männer. Doch nur die letzteren haben jetzt die Möglichkeit, unmittelbar ihrer Lebenshemmung abzuhelfen und ihre Lebenssteigerung zu fördern, indem sie ebenfalls Teil an den Funktionen nehmen, durch die sie beeinflusst werden.
Weil jede »Zelle«, die mittelbar oder unmittelbar den Gesellschaftsorganismus aufbaut, eine männliche oder weibliche ist, ist es undenkbar, dass nicht eine höhere Organisation der Gesellschaft schliesslich mit Notwendigkeit diesen ihren zweigeschlechtlichen Charakter ausdrücken muss. So wie die Familie – der erste »Staat« – muss sich auch der endliche Staat als eine Einheit des männlichen und des weiblichen Prinzips darstellen. Oder mit anderen Worten, er muss eine »Staatsehe« werden, nicht wie bisher nur ein »Staatszölibat!« Nur indem sie selbst funktionieren, nicht die männlichen Zellen es für sich tun lassen, können die weiblichen als Gesellschaftsmitglieder ihre höchstmögliche Lebensteigerung erfahren. Solange die Frauen sich damit begnügten, sich von den Männern vertreten zu lassen, störte die Rechtlosigkeit der Frauen nicht das Wohlbefinden des Organismus. Nun ist jedoch die Störung eingetreten und kann nur durch eine Umwandlung behoben werden. Aber was die Gesundheit des Organismus im höchsten Grad erfordert, das ist, dass die weiblichen Zellen, wenn sie sozial zu funktionieren beginnen, ihren Geschlechtscharakter beibehalten, denn sonst wäre keine höhere Entwicklungsform erreicht. Nicht das männliche Geschlecht, wohl aber die Leitung der Gesellschaft kann in Wahrheit mit deren Hirn verglichen werden, sowie die Repräsentation mit ihrem Nervensystem. Die jetzige Gesellschaft leidet an einseitiger Lähmung, solange die eine Hälfte von der Möglichkeit ausgeschlossen ist, durch das Nervensystem dem Hirn von ihren Forderungen Kunde zu bringen. Und die Gesellschaft leidet unter diesem Zustand ebenso sehr, wie der Körper unter einem ähnlichen leiden würde. Man kann dies am besten einsehen, wenn man den Staat beobachtet, wo der ganze Körper gelähmt ist und nur das Hirn arbeitet, nämlich Russland. Da sprechen nur die Wunden davon, dass der Organismus in seiner Gesamtheit lebt. Aber alle Staaten Europas tragen noch ein Russland in sich, jenen Teil der Gesellschaft, den Camilla Collet mit Recht »das Lager der Stummen« genannt hat. Mit derselben inneren Notwendigkeit, mit der eine Anzahl Männer in den Ländern, wo der Zustand einstmals dem Russlands glich, die landesväterliche Fürsorge abschüttelten und sich die Freiheit nahmen, selbst ihre Bedürfnisse zu erkennen zu geben, selbst über die Voraussetzungen ihres Wohlbefindens zu entscheiden, müssen auch die Frauen – und die Arbeiter – dieses Recht erlangen. Dies bedeutet nicht, dass die weibliche Hälfte vollkommener oder unter geringeren Fährnissen arbeiten wird als die männliche. Aber es bedeutet, dass der ganze Organismus mehr arbeiten, sich besser befinden und sich zu einem höheren Zustand entwickeln wird. Die jetzigen Rechtsinhaber werden von den Frauen wie von den Arbeitern Lügen gestraft, wenn sie behaupten, dass sie die Bedürfnisse der Unrepräsentierten voll berücksichtigen und ihre Kräfte richtig leiten. Und nicht den mit sich selbst und ihrer Macht Zufriedenen, sondern den Missvergnügten muss man Gehör schenken, wenn höhere Zustände erreicht werden sollen!
Zu diesen allgemeinen Gesichtspunkten kommt – für die kleinen Völker – noch der, dass je lebendiger und durch und durch aktiver der ganze Gesellschaftskörper ist, desto mehr Widerstandskraft er im Kampfe um sein Dasein besitzt. Die Völker, bei denen jeder Mensch zugleich mit den Interessen der Gesellschaft seine eigenen wahrnehmen kann, werden – unter im übrigen gleichen Bedingungen – die anderen ebenso weit übertreffen, wie ein Heer von Sportsmännern ein Heer von Invaliden.
__________________Anmerkungen:
- ↑ Die schwedische Benennung der Milchstrasse.