Leider sprechen nicht alle Zeichen dafür, dass die Frau Akademien absolvieren und Staatsanstellungen bekleiden kann, ohne Schaden an der Sicherheit des Blicks, der Feinheit der Beobachtung, der Milde der Seele und des Wesens zu nehmen. »Die Resultate der Wissenschaft«, »die Gesetze der Geschichte«, »die Erfordernisse der gesellschaftlichen Sicherheit«, »die Opportunität der Kompromisse«, und all das andere, was die Männer auf dem Wege der Neugestaltung aufstapeln, schüchtern auch den Mut der Frau ein, machen auch sie beweissüchtig anstatt ahnungsstark.

Auch die Frauenseele kann in Universitätssälen, Amtsstuben und Geschäftslokalen Gefahr laufen, amtsmässig trocken, kleinlich formelkrämerisch zu werden, schmiegsam gegenüber öffentlicher Ungerechtigkeit, nüchtern gegenüber dem Enthusiasmus. Solche Amts- und Berufsfrauen fürchten sich ebenso sehr wie die Männer, für Träumer oder Volksaufwiegler gehalten zu werden, sie können ebenso logisch die Unvernünftigkeit der Zukunftsgedanken beweisen. Mit einem Worte: wenn die Frauen die Lasten der Männer tragen, dann bekommen sie auch deren krumme Rücken; wen sie ihr Brot auf den allgemeinen Arbeitsfeldern suchen, wird auch die Haut ihrer Hände härter. Aber man kann hoffen – und alles hängt von dieser Hoffnung ab – dass die Frau ihre Gesellschaftsmacht erreicht, ehe sie noch im grossen Ganzen ihre Eigenart verloren hat, und dass sie dann ihren ganzen Sinn darauf richtet, neue Verhältnisse zu ermöglichen, unter denen sie ihre Hand weich, ihre Haltung aufrecht bewahren kann.

Wenn diese Hoffnung fehlschlägt, dann wird der Eintritt der Frau ins öffentliche Leben es nicht hindern, dass man noch in tausend Jahren die Sicherheit über den Wagemut stellt, die Begeisterung durch Klugheit dämpft, die Inspiration durch Fakten zerstampft und die Ideen durch praktische Rücksichten erstickt. Dann wird man auch weiter die Forderungen seines Menschlichkeitsgefühls durch die mit vielen geteilte Verantwortung beschwichtigen; ja, man wird auch sehen, wie sich die Frauen mit der Mehrheit verbinden, um die idealistischen Tollköpfe klug oder – wenn dies nicht gelingen sollte – unschädlich zu machen!

Man hat in diesem Zusammenhang traurigen Anlass sich zu erinnern, wie die Mehrzahl der französischen Frauen gegen Dreyfus war und die Mehrzahl der Engländerinnen gegen die Buren.

Diese Beispiele – neben unzähligen anderen gleichzeitigen oder früheren – berechtigen wohl kaum zu der Hoffnung, dass die Mehrzahl der Frauen in bezug auf die öffentliche Moral schon jetzt über den Männern steht. Die Hoffnung der Zukunft gründet sich darauf, dass die Frau sich klar bewusst wird, dass sie einen anderen Weg zu gehen, eine andere Wirkung zu erreichen hat.

Manche Leute erhoffen von der Frau in der Öffentlichkeit eine um so viel höhere Moral als die des Mannes, weil sie schon im Privatleben um so viel besser sein soll als er. Man weist z. B. darauf hin, um wie viel grösser die Anzahl der männlichen Verbrecher im Vergleiche mit den weiblichen ist, und vergisst, dass, wenn der Mann aus Not oder Genusssucht zum Diebe wird, die Frau eine eingeschriebene – noch häufiger eine uneingeschriebene – Prostituierte wird. Man vergisst, dass, wenn der Mann im Rausche ein Verbrechen begeht, ihn nicht selten häusliche Vernachlässigung und Zänkerei der Trunksucht in die Arme getrieben haben; man vergisst, dass, wenn der Mann aus Eifersucht mordet, ihn in der Regel eine Frau wahnsinnig gemacht hat; wenn er veruntreut, so haben ihn häufig die Luxusansprüche, die Geldforderungen einer Frau, einer Geliebten dazu getrieben. Es ist ja sprichwörtlich, bei dem Verbrechen eines Mannes nach der Frau zu forschen, und in gleicher Weise ist auch bei dem ihren der Mann selten weit entfernt. Auch das Verbrechen ist in der Regel zweigeschlechtlich, obgleich die erotische Leidenschaft den Mann, die entartete Mütterlichkeit die Frau unmittelbarer zum Verbrechen treibt. Sowie ansteckende Krankheiten selten die werdende oder stillende Mutter angreifen, so halten sich auch die geistigen Seuchen leichter von den mütterlichen Naturen ferne, während die im buchstäblichen oder geistigen Sinne unfruchtbaren eher lasterhaft werden. Aber ihre Laster bleiben – aus Angst vor den Folgen – in unzugänglicheren Gebieten als die des Mannes. So ist die Hand der Frau redlicher als seine, nicht aber ihr Auge und Ohr, nicht ihre Lippen! Es gibt leider keine Verbrecherstatistik von – Ehrendieben!

Das prozentuale Verhältnis der Frau und des Mannes zum Strafgesetz hat überhaupt nur eine mittelbare Bedeutung für den Wert ihrer Wahlrechtsausübung im Verhältnis zu seiner. Denn weder Verbrecher noch Steuerhinterzieher wählen Reichstagsabgeordnete oder werden zu Reichstagsabgeordneten gewählt! Bedeutungsvoll wird nur ein Vergleich zwischen den Unbescholtenen in beiden Lagern sein, wenn er auch dann so ausfällt, dass man annehmen kann, die Frauen werden weniger bestechlich – von Vorteilen oder Phrasen – sein; weniger leicht zu Konzessionen gegen ihr Gewissen zu veranlassen; weniger zugänglich für Ränke, weniger von Missgunst bestimmt. Aber Frauenkongresse, Frauenpresse, Frauenvereine – sowie auch das Stimmenwerben der Damen in England, Amerika und anderswo – zeigen leider, dass die Frauen männlich rücksichtslos werden, wenn sie den Satz von der Macht des Zweckes, die Mittel zu heiligen, anwenden; männlich bereit, die Wahrheit zum Vorteil der Anhänger, aber zum Nachteil der Widersacher zu drehen und Fakten nach »den Erfordernissen der Verhältnisse« zu beugen. Und während die Frauen so traurig gelehrig in der Aneignung besonderer männlicher Schwächen sind, hat sie noch keine akademische Bildung immun gegen die allgemein menschliche Krankheit der Unbildung gemacht, die eine seelenvolle Frau mit einem einzigen Worte charakterisiert hat: die Schlechtgläubigkeit.

Es hilft nichts, wenn die Frauen beweisen, dass auch Männer Gerüchte verbreiten, Geheimnisse verraten, Beweggründe missdeuten. Denn die Erfahrung, dass Männer in dieser Weise gegenseitig ihren besten Bestrebungen entgegenarbeiten, sollte nur eine heftige Aufrüttelung für das Gewissen der Frau sein. Nicht durch Lobgesänge zum Ruhme ihres Geschlechtes, sondern durch grosse, unerschütterliche Forderungen an sich selbst und an alle anderen Frauen kann jede einzelne Frau am besten an der Erziehung ihres Geschlechtes für das öffentliche Leben mitarbeiten. Nur die seelische Bildung, die jeder sich selbst gibt, wird in der Politik fehlerhafte Bewertungen und irrige Rechtsbegriffe verhindern. Denn das politische Leben gibt in dieser Hinsicht dem, der nichts hat, nichts: dort, im Gegenteil, gilt das Bibelwort, dass dem, der nichts hat, auch noch dieses wenige genommen wird! Die Öffentlichkeit macht an und für sich niemanden weitblickend oder weitherzig; dafür liefern unsere Gemeindeverwaltungen und Landtage, unsere Stadträte und Reichstage den besten Beweis.

Nicht nur die Unbildung hat ihre besonderen Schattenseiten, sondern in ebenso hohem Grade die Halbbildung. Und Halbbildung ist die Bildung, die Schule und Hochschule noch der Mehrheit vermitteln: Examenskenntnisse ohne Persönlichkeitsgestaltung, Fachgelehrsamkeit ohne seelische Kultur. Das Merkmal dieser Halbbildung ist, dass sie das Kleine gross, das Grosse klein macht, Urteile ohne Gründe abgibt, dass sie blind gegen den Zusammenhang der Dinge ist, dass sie die Individualität aufsaugt und den Instinkt entwurzelt.

Dieses letztere Übel wird vor allem der besonderen Gabe der Frau, der Intuition, gefährlich. Der ganze jetzige Bildungsplan geht darauf aus, die Eigenart des Mannes zu schärfen, und dies hat den Erfolg, dass er in seiner Halbbildung, wenn auch einseitig, so doch stark wird. Die Frau hingegen wird schwach, da sie ihr ihre Eigenart raubt, ohne ihr doch die des Mannes geben zu können. Man findet oft bei einer Frau ohne Schulgelehrsamkeit einen Instinkt für das Wesentliche, den die Halbgebildete verloren hat oder dem sie sich wenigstens nicht mehr anzuvertrauen wagt. Und vor allem gilt dies von den für die Frau selbst wesentlichen Eigenschaften. Gemeinnützig wirkende Frauen zeigen oft ihre Abneigung gegen die freudeschaffende Macht anderer, junger und reizvoller Frauen, die auf demselben Gebiete wirken. Mögen diese Schönheitshasserinnen den Orthodoxen des Christentums oder der Frauensache angehören, so sind sie doch einig darin, dass die einnehmende Frau auch die minderwertige ist und dass die Männer ihre Urteilslosigkeit zeigen, wenn sie sich so leicht von ihr bezaubern lassen. Aber ganz so schlimm steht es doch mit dem Verstande der Männer nicht, wenn sie auch häufig den Schein für das Wesen nehmen! Denn was der Mann vor allem beim Weibe sucht – und am tiefsten liebt, wenn er es findet – ist der Frohsinn der Güte. Er ist es, der in allem echten Reize sichtbar wird und seine berechtigten Siege erringt. Und nur wenn die Frauen diesen Frohsinn der Güte besitzen und dem öffentlichen Leben etwas von seinem Zauber mitzuteilen wissen, wird ihre Mitwirkung es verschönen.

Wenn man augenblicklich die Sachlage beurteilt, muss man sich vergegenwärtigen: dass nicht nur Schwiegermütter, sondern auch Schwiegertöchter, nicht nur Hausfrauen, sondern auch Köchinnen das allgemeine Wahlrecht erhalten würden. Aber keine dieser Gruppen scheint bis auf weiteres geneigt, sich die andere – im Privatleben – mit den denkbar grössten Vollkommenheiten ausgerüstet zu denken! Es dürfte also nicht zu kühn sein, wenn ein Aussenstehender zu zweifeln wagt, dass sie im politischen grössere Vollkommenheiten zeigen werden?!

Mit einem Worte: wir dürfen nicht vergessen, dass die entwickelten Frauen im Verhältnis zu den unentwickelten nicht zahlreicher sind als die entwickelten Männer gegenüber den unentwickelten. Dieselben oder andere Vorurteile, Eigennützigkeiten und Torheiten, die von Seiten der Männer den Fortschritt verzögern, werden ihm auch von weiblicher Seite begegnen. Sowie man jetzt Herden männlicher »Stimmochsen« an unrechter Stelle sieht, wird man auch Scharen von weiblichen »Stimmgänsen« sehen. Und ›an unrechter Stelle‹ bedeutet hier weder die Rechte noch die Linke, sondern ganz einfach den Platz, dem man ohne persönliche Wahl zugetrieben worden ist und auf dem man doch ohne Scham verbleibt.

Die Frau hat jedoch den Vorteil, aus den Irrtümern des Mannes lernen zu können, und sie lernt rascher als er. Aber nur die Macht, dort selbst tätig zu sein, wo man die Verantwortung tragen soll, und das Recht, Entschlüsse zu fassen, wo man handeln muss, wirken erziehlich. Die entwickelten Frauen werden natürlich ebenso ihre Einseitigkeiten aufweisen wie die entwickelten Männer; aber erst wenn sie beide ihre Eigenart entfalten können, wird die Gesetzgebung wie die Verwaltung allseitig werden.

Doch Allseitigkeit ist noch nicht Zusammenhang. Ob man mit einem Finger oder mit allen zehn auf einem Instrument klimpert, so wird es darum doch keine Musik. Erst wenn jeder Finger seine Sache versteht – und mit den übrigen zusammen spielen kann – entsteht Harmonie, mag es sich nun um instrumentale oder soziale Musik handeln! Was die letztere betrifft, so ist der jetzige politische Zustand – mit seiner Auflösung alter und der Gestaltung neuer Wohlfahrtsbegriffe – so chaotisch, dass man sich bei der Behandlung jeder grossen Frage an Geijers Ausruf erinnert: ein Schimmer von Zusammenhang wäre schon Glückseligkeit!

Bevor dieser inhärente Zusammenhang der Dinge – mit anderen Worten die Sozialpolitik – die Eigeninteressen- und Klasseninstinktpolitik abgelöst hat, werden wohl noch viele Lebenskräfte vergeudet werden, und unter ihnen auch die vieler Frauen, wenn diese inzwischen in die politische Arbeit eintreten. Aber weder der Grund, dass die Frauen zu gut, noch dass sie zu unreif sind, vermag ins Gewicht zu fallen, sie vom politischen Leben ferne zu halten. Denn in dem Masse, in dem sie ihren Wert bewahren, werden sie die Entwicklung beschleunigen; in dem Masse, in dem sie an derselben teilnehmen, werden sie die Reife erlangen, die ihnen noch fehlt. Man darf nicht vergessen, dass nur wirkend ein Werkzeug seiner Aufgabe immer angepasster, immer vollkommener für sie geeignet wird; nur funktionierend entwickelt sich das Organ für seine Zwecke. Und dazu kommt der ebenso wichtige Grund: dass die schon jetzt für die Entwicklung notwendigen Frauen ebenso wenig wie die Männer auf der einen Seite eines Geld- oder Geburts- oder Bildungszensus zu finden sind. Nur der grosse demokratische Grundsatz: – gleiche Möglichkeiten für alle – birgt trotz seiner Mängel die grösste Aussicht, dass der rechte Mann, die rechte Frau schliesslich auf den rechten Posten kommt. Es ist für das Ganze von grösserem Belang, dass ein Mann oder eine Frau durch Wahlrecht und Wählbarkeit zu jener Führerstellung gelangt, die die Natur ihnen zugedacht hat, als ob hundert andere als Wähler Irrtümer begehen. Wenn auch die wahlberechtigten Frauen – und in den meisten Ländern Europas würde dies sicherlich der Fall sein – bis auf weiteres der Reaktion dient, so wäre doch ihr unmittelbarer Einfluss ungefährlicher als ihr jetziger mittelbarer und verantwortungsloser. Denn die Möglichkeit wäre vorhanden, dass das öffentliche Leben sie überzeugte, dass – solange eine soziale und ökonomische Machtbesitzergruppe die Verhältnisse bewahrt, die zahllose andere Gesellschaftsmitglieder zu Opfern des Militarismus und Industrialismus, der Prostitution und des Alkoholismus machen – jede Gesellschaftsarbeit ein Säen in den Schnee genannt werden muss. Aber selbst wenn die Frauen sich nicht überzeugen liessen, sondern nur eine Stütze der jetzigen Machthaber würden, dürfte dies doch kein Hindernis für ihr Wahlrecht bilden. So wie nichts uns ausdauernder macht, als wenn wir für die Gerechtigkeit arbeiten, gibt es auch keinen besseren Beweis für die Reinheit unserer Rechtsforderungen, als wenn wir an ihnen festhalten, obgleich wir Radikalen überzeugt sind, dass ihre Erreichung noch lange Zeit nicht uns selbst, sondern unsern Widersachern zugute kommen wird!

Jeder mit Augen Sehende sieht in unserer Zeit immer klarer ein, dass neue Wege gesucht werden müssen. Auch Frauen sind jetzt immer häufiger unter diesen Sehenden, obgleich die weibliche Mehrheit durch ihre Unwissenheit, ihr Unverständnis, ihre kleinlichen Ziele noch vor denen, die den Boden urbar machen wollen, Dornenhecken auftürmt.

Aber selbst unter jenen Frauen, die sich des Gewichts der sozialen Fragen voll bewusst sind, findet man nur ein geringes Erfassen ihres Inhalts. Es gilt, ihre Einsicht zu erhöhen, aber vor allem den Begriff der Mütterlichkeit der Gesellschaft zu vertiefen, indem man ihn klipp und klar von dem der Wohltätigkeit scheidet. Diese mag im einzelnen Falle ihr Recht haben. Aber alle Gesellschaftsarbeit, die auf das Ganze gerichtet ist, muss als Ziel vor Augen haben, es im Recht-Denken so weit zu bringen, dass alles Wohl-Tun verschwinden kann. Die Mütterlichkeit der Gesellschaft muss mehr als ewiges, unterirdisches Feuer wirken, weniger als hoch emporlodernde, aber bald ausgebrannte Opferflamme. Es genügt nicht, dass der Trieb des Mitgefühls und der gegenseitigen Hilfe beim Weibe unmittelbarer ist als beim Manne. So wie die Zärtlichkeit allein bei der Pflege des Kindes nicht genügt, wenn die Kenntnisse der Lebensgesetze des Körpers und der Seele fehlen, so müssen die Frauen auch Einblick in die Biologie und Psychologie der Gesellschaft haben, um ihre Aufgaben im Volkshaushalte zu erfüllen und die Probleme zu verstehen, die man mit einem Worte die der Gesellschaftsorganisation nennt.

Anmerkung: Es ist in dieser Richtung ein erfreuliches Zeichen, dass – auf Vorschlag der Vorsteherin von Stockholms neuer Gemeinsamkeitsschule, Anna Whitlock – die meisten Mädchen- und Gemeinsamkeitsschulen Stockholms sich nun zusammengeschlossen haben, um für die achte Klasse der Schulen und für die gymnasiale Abteilung soziale Vorlesungskurse zu veranstalten. In Holland existiert schon eine soziale Hochschule für Frauen mit einem einjährigen theoretischen und einem einjährigen praktischen Kurs. Auch in England und Amerika wird an weiblichen Lehranstalten Gesellschaftslehre unterrichtet.

Nur so kann das Mitgefühl mit den Opfern der Gesellschaft die Frauen zu einem immer kräftigeren Widerstände gegen das Opferwesen der Gesellschaft führen. Sie werden so für den Anfang – und zwar sehr bald – die Macht erlangen, dieses wenigstens dort einzuschränken, wo Kinder und Jugend erzogen werden; wo Kinder und Frauen arbeiten oder verurteilt werden; wo man Alte und Kranke pflegt; wo für alle diese Gesetze gegeben werden. Die Mehrzahl der Frauen – die noch auf christlichem Boden stehen – predigen im besten Falle Barmherzigkeit als Pflicht der Begünstigten, Geduld als Pflicht der nicht Begünstigten. Aber ebensowenig wie die einzelne Mutter sich für ihr eigenes Kind mit Barmherzigkeit begnügt, sondern volle Gerechtigkeit will – das heisst volle Entwicklungsmöglichkeiten, volle Befriedigung gesunder Bedürfnisse, vollen Gebrauch persönlicher Kräfte – ebensowenig kann sich die Mütterlichkeit der Gesellschaft für irgend ein Kind der Gesellschaft mit weniger begnügen.

Erst wenn der Begriff Armenpflege gesellschaftsgeförderter, aber stolzbewahrender Selbsthilfe Platz gemacht hat, die Barmherzigkeit der Gerechtigkeit, die Geduld dem Rechte, zu fordern, erst dann wird man sich einem menschenwürdigen Dasein für die Vielen nähern. Wir brauchen nicht zu befürchten, dass darum die Tugend der Barmherzigkeit und der Geduld aussterben wird: jeder wird täglich genug und übergenug Verwendung dafür haben – sowohl Gott, wie sich selbst und seinem Nächsten gegenüber!

Aber auf dem Gebiete des Gesellschaftslebens ist ihre Zeit abgelaufen – oder wird es wenigstens sein, je mehr der Glaube an eine überirdische väterliche Vorsehung der Überzeugung von der Macht der menschlichen Vorsehung auf Erden weicht. Wenn weibliche Gehirne und Herzen anfangen, diese Vorsehung in solcher Weise zu üben, dass ihre Lebensanschauung und ihr Gesellschaftswerk einander nicht mehr widersprechen, erst dann werden ihre Gehirne und ihre Herzen eine umbildende Macht werden.

Jetzt zum Beispiel fürchten die meisten Frauen den Sozialismus, über den doch nur eine Meinung herrschen sollte: dass er als Parteipolitik in nächster Zukunft die unentbehrlichste Triebkraft der Entwicklung ist, während er als Anschauung – von den einander widerstreitenden Sätzen verschiedener Schulen befreit – in seiner weitesten Bedeutung den immer festeren Zusammenschluss der Gesellschaft zu einer immer innigeren Einheit ausdrückt. Wenn das schöne Bild, dass durch das Leiden des einen Gliedes alle Glieder leiden, Wahrheit geworden ist – dann ist der soziale Staat erreicht!

Die Furcht vor dem Sozialismus hindert jetzt die führenden Frauen der oberen Klassen, den übrigen in dem Kampfe beizustehen, der allein den Sieg des Guten herbeiführen kann, das diese Frauen fördern wollen. Sie haben Angst vor dem blossen Worte Forderungen – hinter dem sie die grossen Arbeiterscharen mit ihren roten Fahnen heranziehen sehen! Sie sprechen darum lieber von Wahlpflicht als von Wahlrecht. Sie hoffen, dass die Politik sich ebenso friedlich behandeln lassen wird wie ein Lehrerinnenkollegium, dass eine Volksversammlung ebenso leicht zu disziplinieren sei wie eine Schulklasse! Aber dieser Mangel an Proportionsgefühl verfehlt den Zweck wie die Mittel.

Die Frauen wollen so – und mit vollem Rechte – die Prostitution abschaffen. Aber die erste Voraussetzung ist eine durchgehende Erhöhung – für mindestens 50 Prozent eine Verdoppelung – der jetzigen Löhne der Fabrikarbeiterinnen und Handlungsgehilfinnen. Diese Erhöhung kann nur durch Fachvereine erreicht werden und, wenn es nötig ist, durch Streiks. Aber vor beiden Mitteln schrecken die christlichen Frauenrechtlerinnen zurück.

Diese wollen – und mit vollem Recht – den Missbrauch berauschender Getränke verhindern. Aber sie sehen nicht ein, dass dies nicht durch Verbote und Tea meetings geschehen kann; dass nur durch reichlicheren Anteil an den Freudequellen des häuslichen Behagens, der Bildung, der Schönheit, der Natur und durch erhöhte Genussfähigkeit die Lebensberauschung den Alkoholrausch zu verdrängen vermag. Doch diese erhöhten Lehensmöglichkeiten gehen erst aus dem ausdauernd geführten Klassenkampfe hervor, den die christlichen Frauen im allgemeinen missbilligen!

Eine Anzahl von Frauen will den Krieg abschaffen. Aber dieselben Frauen sind nicht imstande, sich auf dem Gebiete der Erziehung jene Machtmittel zu versagen, die rohe Leidenschaften züchten und niedrige Rechtsbegriffe hervorrufen; sie glauben noch immer, dass man Kinderseelen so reinigt wie Teppiche: durch Ausklopfen. Vergebens verdammen alle hervorragendsten Pädagogen unserer Zeit, sowie die modernen Kinderpsychologen und mehrere der bedeutendsten Kriminalisten wieder und wieder die Körperstrafen – die einer der ersten Rechtsgelehrten unserer Zeit die »zwecklose Blutarbeit« der Jahrhunderte nannte – weil die Erfahrung untrüglich gezeigt hat: dass physische Furcht niemals Sittlichkeit im wahren Sinne des Wortes schafft. Aber die Frauen machen sich doch noch immer die Arbeit in der Kinderstube durch Schreckmittel leicht. Mit anderen Worten: sie üben selbst Gewalttaten aus – und den Kindern ein – denen im Leben der Völker die Kriege entsprechen, die diese selben Frauen abschaffen wollen!

Diese Beispiele könnten beliebig fortgesetzt werden. Sie beweisen nicht, dass die Frau in ihrer Gesellschaftsarbeit unwissender, zusammenhangsloser ist als der Mann. Aber sie beweisen, dass Frauen und Männer durch ihre öffentliche Tätigkeit sehr wenig bedeuten werden, solange sie nicht im Dienste des Zusammenhangs, sondern nur in dem des Stückwerks arbeiten.

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