Für den Anfang werden also wahrscheinlich einzelne Frauen, nicht die Mehrheit, die zugleich weitblickende und warmherzige Gesellschaftsmütterlichkeit vertreten. Und diese Frauen können ebensowenig wie die einzelnen Männer erwarten, dass sie von Sieg zu Sieg schreiten werden. Diejenigen, welche mit ihren gegen alle Ungerechtigkeit heilig erglühenden Seelen, ihren von Mitgefühl heissen und unruhigen Herzen in die kalte Wirklichkeit treten, müssen gefasst sein, dort das zu erleben, was zahllose männliche Neuerer und Reformatoren schon erlebt haben: nämlich zu erringen, was für sie selbst das Beste ist, das Märtyrertum – aber nicht das, was für die Gesellschaft das Beste ist: den Sieg. Und es ist dann ein schwacher Trost, dass oft die Besten Märtyrer werden, während die Nächstbesten Sieger sind! Die ersteren sind die, die sich auf den Ruf der Gerechtigkeit oder der Menschenliebe oder der Freiheitsleidenschaft in den Kampf stürzen, ohne sich zu fragen, ob sie siegen werden, oder ohne doch wenigstens die Antwort auf diese Frage zu wissen. Die letzteren sind meistens diejenigen, welche diese Frage in ihrem Innern bejaht haben. Denn diese Siegesgewissheit verleiht ihnen die Macht, hinter sich ein Heer aufzustellen, und den Mut, ihm ihren Geist einzuflössen.
Björnson gebrauchte einmal, um die Wege der Ideen zu schildern, das Bild der feinen Striche, die auf den Weltkarten die Dampfschifflinien bezeichnen, Striche, die bei den grossen Häfen in einen einzigen dicken Strich zusammenlaufen. Und mit besonderer Beziehung auf die Linien der Friedens-, Arbeiter- und Frauenfrage ermahnte er zu fleissigem internationalem Verkehr. Aber jeder, der diese drei Linien beobachtet, wird finden, dass auch die »Herzenspolitik« kein sicherer Lotse ist; dass selbst Ozeandampfer, die sie befrachtet, einmal ums andere an – der Goldküste stranden!
Auch die voranschreitenden Frauen werden Zeuginnen solcher Schiffbrüche sein. Sie werden erfahren, wie unsäglich schwer es ist, die Demokratie zu aristokratisieren: denn das bedeutet nicht nur reinere Hände und feinere Gewohnheiten, sondern reinere Handlungen, feinere Gedanken. Und wenn sie ihre Empfindungsfähigkeit behalten – was sie müssen – dann werden die führenden Frauen nicht nur unter ihren eigenen Wunden leiden, oder unter dem Mitgefühl mit all der Qual, in die ihre Gesellschaftsarbeit ihnen Einblick gewährt, sondern auch unter der Beschämung, viele ihrer eigenen Geschlechtsgenossinnen ebenso unfähig wie die Männer zu sehen, eigene Vorteile – oder die eingebildeten Vorteile ihres Landes – zu opfern, wenn Menschlichkeit und Gerechtigkeit es erheischen. Und es wird diesen Frauen so ergehen wie so vielen Männern vor ihnen: der reine Wille, die reiche Persönlichkeit, die sich nicht beugen lässt, muss brechen.
Jeder, der der Politik nahe gestanden hat, wird wohl eines dieser Trauerspiele gesehen haben, wo ein hochgesinntes Herz stückweise gebrochen ward, und weiss darum, wie blutig diese unblutigen Kämpfe tatsächlich sind und in welchem Grade die Gesellschaftsarbeit ein Opferdienst sein kann.
Werden die besten Frauen imstande sein, Zeuge davon zu sein? Werden sie es ertragen zu sehen, wie es Politik und Presse – mittelbar, wenn nicht unmittelbar, von Geldinteressen bestimmt – Jahr für Jahr gelingt, die grösstmögliche Anzahl von halben Massregeln oder den grösstmöglichen Stillstand zu bewirken während der unvermeidlichen Selbstaufopferung von seiten der Besten und der unbedingten Selbstbefriedigung von seiten der Übrigen? Werden sie es ertragen zu sehen, wie in den Kulturfragen, wo der Eigennutz nichts bedeuten kann, die allweise Dummheit über die grossen Lebensinteressen des Volkes entscheidet?
Eine Versammlung von Männern kann in den nationalen Weihestunden zusammen grösser fühlen und handeln als jeder einzelne für sich. Aber in der Alltagsstimmung der Völker ist der einzelne häufig besser als im Zusammenwirken mit vielen. Was die Massendummheit, Massenfeigheit, Massenlüge zusammen ohne Scham im öffentlichen Leben zustandebringen, davor würde fast jeder von denen, die die Masse bilden, im Privatleben zurückscheuen. Die Funktionsfähigkeit der einzelnen Gewissen zu retten, und dabei doch für die grossen Augenblicke die Macht des gemeinsamen Gewissens zu bewahren – das wäre die grosse Aufgabe in der politischen Moral!
Man fühlt sich versucht, zu wünschen, dass die männlichen und weiblichen Reichstagsabgeordneten der Zukunft an einem und demselben Tage gewählt würden – durch Einsendung von Stimmzetteln von allen unbescholtenen Männern und Frauen – und dass die so gewählte Kammer unverzüglich in ein als Zellengefängnis gebautes Reichstagsgebäude gesperrt würde, ohne jede Möglichkeit der Verständigung zwischen den Mitgliedern – nicht einmal durch Klopfen an die Wände! So wäre jeder gezwungen, das für sich zu prüfen, was dann an einigen grossen gemeinsamen Rede- und Beschlusstagen entschieden werden würde! Diese Art Reichstag wäre einerseits ein vortrefflicher Prüfstein für die patriotische Opferwilligkeit, andererseits ein Mittel, die Sessionen erheblich abzukürzen! Und man muss in vollem Ernst wünschen, dass Anträge und Gesetzvorlagen nicht von unseren jetzigen Reichstagsausschüssen ausgearbeitet würden, sondern von teils zeitweiligen, teils ständigen Ausschüssen, gewählt von den Korporationen und Gesellschaften, welche alle grossen Hauptberufe und Kulturgebiete vertreten. Sie müssten ausserhalb wie innerhalb des Reichstags unter den in der betreffenden Frage sachverständigen Männern und Frauen gewählt werden. So würden Baufragen von Architekten und nicht von Juristen erörtert werden; Schulfragen von Schulleuten, nicht von Landwirten, während jetzt die alles verlangende Gemeinsamkeit die verantwortungslose Oberflächlichkeit zur Folge hat. Erhielten diese Ausschüsse jeder für sein Teil ein suspendierendes Veto gegen die Beschlüsse der vom Volk gewählten Kammer, dann könnten sie so die einzige notwendige erste Kammer bilden: die der Sachkenntnis, welche jedoch ihre retardierende Macht nicht länger ausüben dürfte, als bis die Volksmeinung – nach einer neuen Wahlperiode, durch den wiederholten Beschluss einer neuen Kammer – in der Meinungsverschiedenheit den Ausschlag geben würde. Denn auch die Sachkenntnis hat ihre Grenzen!
Bis diese und andere schöne Utopien verwirklicht sind, müssen die Frauen jedoch darauf gefasst sein, dass ihre Beteiligung am öffentlichen Leben sie nicht nur verschiedene unberechtigte Vorurteile, sondern auch viele Leiden kosten wird. Sie müssen ausserdem einsehen, dass sie ihrem Heim viel Zeit rauben wird. Denn das Ganze ist nicht so einfach, dass man nur seinen Stimmzettel abgibt, den Leitartikel anstatt des Feuilletons liest und zur Wahlversammlung anstatt zum Souper geht! Gibt man seinen Stimmzettel ab, ohne zu wissen, wie man stimmt, dann bedeutet die Beteiligung wenig. Will man dies jedoch wissen, dann muss man der Sache Zeit opfern. Und hat man einmal begonnen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, dann wird man oft durch die Verhältnisse immer tiefer in seinen Strudel gezogen.
Familienväter, die »in der Politik stecken«, sind schon jetzt die Verzweiflung ihrer Familien. Und wenn nun die Familienmütter auch anfangen ...?!
Dies ist der Kernpunkt der Frage. Als Familienmutter steht die politisch tätige Frau vor der Wahl zwischen einer für das Heim und die Kinder unheilvollen Nachaussengekehrtheit und einer für sie selbst qualvollen Unselbständigkeit. Ihre privaten Vergnügungen kann sie opfern, ihre privaten Pflichten nicht. Aber gerade vor dieser letzteren Versuchung wird die Frau der unbemittelten Klassen stehen. Die Arbeiterfrau will mit dem Manne zur Wahlversammlung gehen – aber die kleinen Kinder? Dienstleute gibt es keine. Die Nachbarin? Sie will auch zur Wahlversammlung. Die Kinderkrippe? Die ist am Abend geschlossen, denn auch ihre Vorsteherin hat allgemeine Interessen! Es gibt also keinen anderen Ausweg, als dass diese Frau sich mit dem Urteil des Mannes begnügt?!
In der Wahlrechtsfrage – wie stets, wenn es sich um das Recht der Frau gehandelt hat – hat man die Sache zu einseitig aus dem Gesichtspunkte der unverheirateten Frauen der oberen Stände betrachtet. Aber diese sind so weit davon entfernt, die bedeutungsvollsten zu sein, dass man eher im Gegenteil behaupten kann, dass eine Mutter der Arbeiterklasse, die – unter all den Mühen und Entbehrungen, die dies für sie bedingt – ihren Kindern eine gute körperliche und geistige Pflege angedeihen liess, ihnen und dem Mann ein glückliches Heim geschaffen und sich dabei selbst Bildung und Einsicht in die Gesellschaftsfragen angeeignet hat – dass eine solche Mutter eine so ausserordentliche Gesellschaftskraft darstellt, dass es die gerechteste aller proportionalen Wahlmethoden wäre, ihr – wie allen anderen Müttern ausgezeichneter Kinder – zwei Stimmen zu geben!
Man steht hier abermals vor der schon früher betonten Schwierigkeit: dass gerade die besten, die für die Aufgabe unentbehrlichsten Frauen zwischen den Pflichten der Gesellschaftsmütterlichkeit und der Mutterschaft, sowie zwischen diesen und der individuellen Kraftentwicklung wählen müssen. Keine Frau kann in den ersten Lebensjahren der Kinder diese beiden Mutterberufe gut erfüllen. Und sie wird sich genötigt sehen, einzugestehen, dass wenn sie die Kinder über ihrer Gesellschaftsaufgabe vernachlässigen wollte, dies wahrlich hiesse, über den Fluss nach Wasser gehen – und es noch dazu im Fasse der Danaiden tragen.
Törichte Jungfrauen sprechen davon, dass die natürliche Mutterschaft nur ein Sinnbild der allumfassenden geistigen sein solle! Ebensogut könnte man die Wurzeln des Baumes Symbole seiner Krone nennen. Aber ebenso gewiss wie die schattenspendende Wölbung des Baumes ohne die Wurzel nicht da wäre, ebenso gewiss ist der Baum erst dann vollkommen gewachsen, wenn Wurzel und Stamm die breite Krone tragen. Und eine Frau ist erst dann nach dem Gesetze ihres Wesens vollendet, wenn aus der Naturkraft der Mütterlichkeit sich die Kulturmacht der Gesellschaftsmütterlichkeit erhebt. Dies bedeutet nicht, dass jede Frau eine wirkliche Mutter gewesen sein muss, um eine Gesellschaftsmutter zu werden. Aber es bedeutet, dass sie in ihrem Inneren das besitzen muss, was sie – nach Madame de Girardins Worten – »um die Kinder trauern lässt, die sie nie getragen«. Das bedeutet auch nicht, dass die Mutter, solange die Kinder klein sind, ihre menschliche Persönlichkeit unterdrücken muss. Es bedeutet im Gegenteil, dass sie in ihren häuslichen Aufgaben die Eigenschaften eines Staatsmanns, eines Seelsorgers, eines Feldherrn, eines Gesetzgebers, eines Nationalökonomen, eines Künstlers entfalten muss, um die stille, starke Autorität zu bewahren, durch die alle gelenkt werden, während alle glauben, ihrem eigenen Willen zu folgen; um bei allen die beste Seite hervorzulocken, um so Kinder und Hausgesinde zu erziehen, der Arbeit Schwung und Freude zu verleihen, aber auch die Stille und Schönheit zu schaffen, die alle das Resultat als ein fertiges Kunstwerk geniessen lässt, und um schliesslich das Alltagsleben durch Feststimmungen zu erneuen. Dabei kann sie vom Morgen bis zu Abend ein spannendes Drama erleben, dessen Fäden alle in ihrer Hand zusammenlaufen. Sie wird sehen, wie sich der ganze Verlauf der Entwicklung in dem Tropfen wiederspiegelt, der ihre Welt geworden! Sie wird erfahren, dass der Persönlichkeitseinsatz, den sie hier macht, der unentbehrliche ist, während der öffentliche Einsatz, den sie bis auf weiteres leisten könnte, in den meisten Fällen entbehrlich wäre. Und dabei lernt sie die Kunst, sich über- und unterzuordnen, sowie die Möglichkeit, physische und psychische Kräfte, die sie einstmals im öffentlichen Leben zu betätigen gedenkt, zu sammeln und zu steigern.
So wird sie ruhig aus den Versammlungen wegbleiben können, sich damit begnügen so zu stimmen, wie ihre Gesinnungsgenossen, und sich allgemeinen Aufgaben entziehen, solange das Heim ihrer voll bedarf.
Dabei muss sie jedoch in Fühlung mit allen grossen Bewegungen der Zeit bleiben und sich empfänglich erhalten, um in Zukunft unmittelbar tätig sein zu können. Und sie muss dies auch aus dem Grunde, weil sie nur so für den Mann und die heranwachsenden Kinder in tieferem Sinne lebensteigernd wird.
Ringsum in der Welt begegnet man schon jetzt hier und da der einen oder anderen dieser starken, stolzen und schönen Mütter des zwanzigsten Jahrhunderts, die nichts von ihrer vollblütigen Weiblichkeit verloren, sondern sie nur durch eine persönliche Eigenart verstärkt haben, die sich Jahresring für Jahresring enger um den Kern ihres Wesens schliesst.
Mensch und Weib, Mitbürgerin und Persönlichkeit – weniger darf die Gesellschaftsmutter der Zukunft nicht sein! Sie hat alle Brücken abgebrochen, die sie zu dem Frauenideal früherer Zeiten zurückführen könnten: zu der kräftigen, aber kleinsinnigen Hausmutter, der gedankenlos nachgiebigen Ehefrau. Aber sie hat auch nichts mit der kurzsichtigen Frauenrechtlerin gemein, die ihre Ehre darein setzt, die rastlose Arbeitsmaschine oder das fachgelehrte, aber halbgebildete Examenslumen zu sein.
Sie hat von den älteren wie von den neuen Typen etwas gelernt. Aber sie gleicht keinem von ihnen, denn nur des Lebens Fülle ist für sie des Lebens Sinn.
Manches kleine Mädchen wird wohl, über ihr Geschichtslehrbuch gebeugt, sich über die Art früherer Zeiten, Menschen zu zählen, empört haben: so und so viel Männer, »ausser Frauen und Kindern«!
Es dauerte lange, bis die Frauen überhaupt anfingen, gezählt zu werden, und noch geschieht dies nur zur Hälfte. Kinder sind noch immer »ausser«. Aber wir werden wohl einmal in dem Gefühl für das Werdende so weit kommen, dass wir die Reihenfolge umkehren und »so und so viele Kinder« rechnen – »ausser Frauen und Männern«. Wir werden dann durch unsere Behandlung der Kinder unsere Ehrfurcht vor diesen tief weisen und geheimnisvollen Wesen zeigen, die wir niemals ergründen. Wir werden hinter der Gestalt jedes Kindes die unendlichen Reihen vergangener Geschlechter erblicken, und vor ihr die ebenso unüberschaubaren aller kommenden. Wir werden bei allen unseren Handlungen eingedenk sein, dass das Kind die Summe dieser Toten, die Hoffnung auf diese Ungeborenen ist. Wir werden die Kinder sich selbst offenbaren lassen und diese Offenbarungen mit einer heute ungeahnten Demut empfangen.
Noch harren die Tragödien der Kindesseele ihres Shakespeare, obgleich die Literatur die Kinder schon hervortreten lässt wie nie zuvor.
Anmerkung: Von literarischen Schilderungen der Kinderleiden und der Kinderseele muss in erster Linie Dickens, besonders mit »Dombey und Sohn« und »Oliver Twist«, sowie George Eliot genannt werden. Unter neueren englischen Schriften ist die anonyme »Autobiography of a child« bemerkenswert. Ferner Daudets »Jack« und Mme. Daudets »Kinderskizzen«. Unter den neueren deutschen Wildenbruch: »Kindertränen«; Hauptmann: »Hannele«; Lou Salomé: »Ruth« und »Im Zwischenland«; Wassermann: »Moloch«; Thomas Mann: »Die Buddenbrooks«; Emil Strauss: »Freund Hein« – die Selbstmordgeschichte eines gequälten Schülers; Hartwig: »Schnockelchen«. Einzig steht Robert Saudek mit »Drei Bühnendichtungen der Kinderseele« da. Ferner Schilderungen aus ihrer eigenen Kindheit von Goethe, Hebbel, Rousseau, George Sand, Jean Paul, Goltz (Buch der Kindheit). Und von Neueren Jules Vallès (L'Enfant, erster Teil seiner Selbstbiographie); Strindberg, Tolstoy, George Sand, Daudet, Anatole France, Sonja Kovalewsky, Herman Bang, Georg Brandes, ferner Kielland: »Gift«; K. A. Tavastjerna: »Der kleine Karl«; Gustaf af Geijerstam: »Das Buch vom Brüderchen«; Karin Michaelis: »Das Kind«; Carl Ewald: »Mein kleiner Junge« usw.
Und wie immer ist die Literatur auch hier die Vorläuferin der grossen Freiheitsbewegung, die die Rechtserklärung des Kindes bringen und der geistigen und körperlichen Kindesmisshandlung, die der Zukunft ebenso unerhört erscheinen muss wie uns heute die Negersklaverei, ein Ende bereiten wird.
Anmerkung: In Preussen allein haben sich in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts jährlich durchschnittlich 57 Kinder aus Furcht oder Reue, Scham oder Kummer das Leben genommen! Gewisse Kloster- und Kinderheim-, sowie Lehrer- und Lehrerinnenmisshandlungen haben Formen, die man nur teuflisch nennen kann, und an vielen Orten macht die Kinderarbeit die Kindheit zu einer das ganze Leben zerstörenden Tortur. Der italienische Kriminalist Ferriani hat ein Buch »I drammi dei Fanciulli« herausgegeben, Dramen, in denen besonders die Schulangst eine grosse Rolle spielt. Ausser dieser Arbeit hat er mehrere andere Werke dem Seelenleben der Kinder gewidmet: wie »Minorenni Delinquenti«, »Nel mondo dell' infanzia« und schliesslich »Delinquenza precoce e senile«, wo er mehrere Fälle von kindlicher Grausamkeit anführt, die in unmittelbarem Zusammenhange mit den Roheiten und der körperlichen Züchtigung standen, der man die Kinder selbst unterworfen hatte. An anderer Stelle hat er gezeigt, welchen grossen Prozentsatz grausamer und gesellschaftsfeindlicher Individuen die Kinder stellen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden – eine Erfahrung, die noch zuletzt der Fall Dippold bestätigt hat.
In diesem Zusammenhang seien zwei Schriftchen (Verlag der Frauenrundschau, Leipzig) empfohlen: Adele Schreiber: »Kinderwelt und Prostitution« und »Prügelkinder«; und Dr. jur. Frieda Duensing: »Die Verletzung der elterlichen Fürsorgepflicht«.
Was die Kinderarbeit auch in den Ländern, wo man glaubt, in der Humanisierung der Arbeit am weitesten vorgeschritten zu sein, noch bedeuten kann, das ist unter anderem aus einem amerikanischen Aufsatz über die Kindersklaverei in Amerika zu ersehen. Man hat konstatiert, dass in den Webereien des Südens mindestens 20 000 Kinder unter 14 Jahren arbeiten. In Alabama allein werden 12 000 Kinder beschäftigt, über 7% sämtlicher Arbeiter sind Kinder. In Georgia beträgt die Anzahl der in Fabriken arbeitenden Kinder unter 12 Jahren 12% der erwachsenen Arbeiter und in Südcarolina über 9%. Ein grosser Teil dieser Ärmsten ist nur 5–6 Jahre alt, obgleich sie unter der Rubrik »unter 12 Jahre« gehen. So werden kleine Kinder zu Tausenden in die Fabriken des Südens gesandt, um dort 12–12½ Stunden für einen Taglohn zu arbeiten, der zwischen 45–50 Pfennig schwankt! Und ringsum in der ganzen Welt gibt es ähnliche und schlimmere Verhältnisse, gegen die nur das absolute Verbot aller Fabrikarbeit für Kinder unter 18 Jahren helfen könnte.
Die Erziehungsmethode, durch die Eltern und Lehrer Kinder zu Tode misshandeln können, wird nicht früher aufhören, bis nicht die Gesellschaft jede von Eltern und Lehrern erteilte körperliche Züchtigung eines Kindes von über drei Jahren bestraft – und auch die eines solchen von unter drei Jahren, sobald Misshandlung bewiesen werden kann. Diese Forderung, die man heut einen Wahnwitz nennen wird, wird – in hundert oder ein paar hundert Jahren – Gesetz sein, wenn die Menschen einmal eingesehen haben werden, dass jede Anwendung physischer Gewalt eine Schwäche des Erziehers ist und dass die Furcht nach Kants inhaltsreichen Worten »nur pathologische, niemals moralische Wirkungen hat.«
Auch die Kinder werden wohl ihr Stimmrecht erhalten ebenso wie ihre Repräsentanten und ihren Justizvertreter!
Es werden wohl die Gesellschaftsmütter sein, die schliesslich die Gesellschaftskinder befreien werden. Dann wird es sich zeigen, dass die Oktave der Kinderseele ebenso unentbehrlich war wie die der Frau und des Mannes, damit das grosse Saitenspiel, die Menschheit, volltönig erklinge.
Wenn dies geschieht, dann ist das dritte Reich angebrochen, dessen Messias die Zeit nun erwartet. Aber nicht der Schoss der Gesellschaftsmütterlichkeit wird ihn tragen.
Wieder und wieder werden der Menschheit Erlöser geboren werden. Aber stets von einem jungen Weibe mit lilienreiner Stirn und tiefen Augen. Und Bethlehem bleibt immer dort, wo eine junge Mutter in Andacht vor dem Bette des Kindes auf die Kniee sinkt.
Viele nennen diese Überzeugung reaktionär. Worte sind jedoch ungefährlich. Es hat wenig zu bedeuten, ob man eine Meinung grau oder schwarz nennt, wenn sie nur in Wirklichkeit rot ist.
Und diese wird nicht nur von dem Blute purpurn gefärbt, das durch das eigene Herz der Überzeugten geflossen ist. Dies brauchte nichts zu beweisen – hat doch schon viel rotes Blut grosse Irrtümer lebendig erhalten!
Aber die hier ausgesprochene Überzeugung empfängt ihre Farbe aus der Quelle, die für die ganze Menschheit die Quelle des Lebens ist und bleibt.