Freie Scheidung
Der Wille der Jugend, die Prostitution durch die Freiheit der Liebe abzuschaffen, ist schon als einer der Beweise für die höhere Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit hervorgehoben worden. Ein anderer ist der Wille der heutigen Zeit, den Ehebruch durch die freie Scheidung abzuschaffen.
Die Vertreter der Monogamie fürchten, dass dieser Wille einer offenen Polygamie an Stelle der jetzt wenigstens geheimen den Weg ebnen wird. In der Presse und von den Kanzeln, in Schul- und Hörsälen misst man der modernen Literatur die Schuld an dieser »neuen Unsittlichkeit« bei.
Ob diese Prediger wohl die Sitten vor dem »Umschwung«, Ende der siebziger Jahre, vergessen haben oder sie nur vergessen wollen?
Gab es damals im Norden keine Prostitution? Waren alle Kinder ehelich? Alle Ehen glücklich? Keine Frauen verlassen, keine Ehegatten ungetreu?
Wir kennen die Antwort. Das gesellschaftliche Gewissen war damals noch so schlummernd, dass die geschlechtliche Unsittlichkeit für naturnotwendig und unangreifbar gehalten wurde, solange sie nur durch äussere Anständigkeit der monogamen Moral ihren Tribut darbrachte.
Alle wissen, dass die Ehemänner und Söhne auf den Gütern die Frauen und Töchter ihrer Untergebenen ebenso wie die Dienerinnen des Hauses verführten. Den Frauen und Müttern dieser Herren war dies oft nicht unbekannt – aber sie wurden als weise gepriesen, wenn sie taten, als ahnten sie nichts! Alle wissen, dass Ehemänner wie Ehefrauen Geliebte in ihrem eigenen Umgangskreis hatten. Alle wissen auch, dass in den Städten Männer in oder vor der Ehe Nebenfamilien hatten, ja, dass Gatten, Söhne, verlobte Männer oft direkt von Familienfesten weg verrufene Häuser besuchten!
Aber der Geist dieser Zeit war »idealistisch«. Das bedeutet, dass diese selben Männer »das Weib« und die »reine« Liebe besangen, Trinksprüche auf »die Gattin und Mutter« ausbrachten und dass die Literatur nur von der Tagseite des Lebens – am liebsten von der Sonntagsseite – sprach, während die Nachtseite verschwiegen blieb!
An einem Abend Ende der siebziger Jahre wurde in einem hochadeligen Familienkreis eine dort vorgefallene Scheidung mit darauffolgender Wiederverheiratung besprochen. Die Männer wie die Frauen konnten gar nicht genug harte Worte für den Verwandten finden, der seine Frau um eines anderen Weibes willen verlassen hatte. Eine einzige in der Gesellschaft, eine junge, eben verheiratete Gräfin, fragte die männlichen Redner, wie sie sich erkühnen könnten, das offene, alle Folgen tragende »Vergehen« zu verurteilen, das sie selbst – im Geheimen, unter niedrigeren Formen und viel öfter – begangen hätten?
Von den anwesenden Männern wagte es kein einziger, die Anklage zurückzuweisen!
Diese Stunde war eine von jenen, in der sich die Klingen zum ersten Male kreuzen, die sich dann auf allen Schlachtfeldern begegnen, wo der Kampf um neue oder alte Sittlichkeit tobt.
Die letztere hat mit grosser Ruhe die Polygamie ertragen, vom Thron an durch die ganze Gesellschaft hindurch. Aber wenn für einen königlichen oder gewöhnlichen Menschen die Liebe eine Lebensfrage geworden ist – dann hat sich die ganze Gesellschaft in ihrem sittlichen Bewusstsein aufs tiefste gekränkt gefühlt! Diese alte Sittlichkeit hat noch die Macht – folglich auch den Ruhm und die Herrlichkeit – auf ihrer Seite. Sie spricht in Reichstagen und Stadtvertretungen; sie steht ordengeschmückt und breitschulterig als die den »auflösenden Tendenzen der Zeit« zum Trotz gesellschafterhaltende Macht.
Aber dessen ungeachtet sind viele Ehemänner der Oberklasse in den Städten des Landes zuweilen das ganze Jahr regelmässige Kunden irgend eines käuflichen Weibes; dessen ungeachtet teilen nach Übereinkommen die Vorsteherinnen gewisser Häuser es jedesmal gewissen Familienvätern mit, wenn frische Ware eingetroffen ist.
Ernste Sittlichkeitsprediger antworten freilich: dass sie diese geheimen Ehebrüche ebensowenig gutheissen wie die offenen; dass sie in den einen wie in den anderen eine Äusserung der Macht der Sünde sehen, die nur die Religion zu besiegen vermag. Man hat aber dann das Recht zu fragen: ob in ihren eigenen Reihen – unter Geistlichen, Missionaren, Laienpredigern – keine derartigen Sünden vorkommen?
Die Ehrlichen antworten: ja, aber betonen, dass dies Beschämung bei den übrigen Christen erregt, und dass diese Gläubigen selbst einsehen, dass sie gesündigt haben. Dasselbe tun auch die Weltmenschen, die heucheln, um ihr Ansehen zu bewahren. Aber die grosse Gefahr für die Gesellschaft tritt erst dann ein, wenn Freidenker ohne Gewissensbisse die Sünde begehen, Schriftsteller sie ohne sittliche Entrüstung schildern. Das drückt das Sittlichkeitsideal herab.
Hier ist der Scheideweg für die Richtung der alten und der neuen Sittlichkeit.
Die Vertreter der letzteren fahren fort zu fragen, ob wirklich alle Ehebrecher – Weltkinder wie Gotteskinder – sich in ihrem innersten Bewusstsein als Sünder fühlen. Die Forderung, die ihre Triebfeder war, ist vielleicht so gebieterisch gewesen, dass sie sie vor ihrem eigenen Gewissen berechtigt hat, ein kleineres Übel einem grösseren vorzuziehen, da sie in ihrer Ehe – aus dem einen oder anderen Grunde – diese Forderung nicht befriedigen konnten oder durften.
Anmerkung: Ein einziges Beispiel mag angeführt werden. Ein Landpastor bekannte sich von seiner eigenen Kanzel aus des Ehebruchs schuldig. Aber seine Frau war durch eine Missbildung zur Ehe unfähig, und er hatte darum 12 Jahre im Zölibat gelebt, bevor er die Treue brach. Da sie im übrigen glücklich waren, hatte er von seinem gesetzlichen Recht, sich scheiden zu lassen, nicht Gebrauch machen wollen.
Wenn dem so ist, dann werden die Verkünder der neuen Sittlichkeit wohl Grund für ihre Anschauung haben: dass Selbstbeherrschung nicht die einzige Lösung aller Probleme des Geschlechtslebens sein kann und darf, dass die Unzucht – das heisst hier Ehebrüche ohne Liebe – wohl am verwerflichsten bleibt, aber dass auch eine Lösung gesucht werden muss, die allmählich die Männer hindern wird, sei es in Unzucht, sei es in einem durch die Ehe verhüllten Zölibat die Kraft zu vergeuden, die dem Menschengeschlechte gehört. Die Lösung kann nur die sein, dass man nicht nur das Recht der Liebe verficht, ohne äussere Bande zu vereinen, sondern auch das Recht des Menschen, freier als jetzt die Bande zu lösen, wo wirkliche Einheit nicht mehr möglich ist.
Bei der Frage der Auslese der Liebe wurde hervorgehoben: dass eine zunehmende Erkenntnis des Wertes und der Bedingungen der Artveredlung Ausnahmefälle mit sich bringen dürfte, in denen eine Ehe offen gebrochen werden kann, ohne darum aufgelöst zu werden.
Aber die eigentliche Entwicklungslinie wird ganz gewiss nicht diese sein, sondern vielmehr die: dass die Ehescheidung frei wird und nur von dem eine gewisse Zeit lang festgehaltenen Willen eines oder beider Teile abhängt; dass die allgemeine Meinung sich hinsichtlich gelöster Ehen zu jener weiteren Auffassung aufschwingt, die man schon in bezug auf die gelöste Verlobung erreicht hat, die einstens als ebenso herabwürdigend angesehen wurde, wie jetzt eine Scheidung.
Mit immer grösserem Ernst wird der neue Sittlichkeitsbegriff geltend gemacht: dass die Gattung nicht für die Monogamie da ist, sondern diese für die Gattung: dass die Menschheit folglich Herr über die Monogamie ist und sie bewahren oder aufheben kann.
Auch die Verfechter der freien Scheidung wissen wohl, dass sie Missbräuche mit sich bringen wird. Aber sie wissen auch, dass nichts die unglaubliche seelische Trägheit des Menschen besser beweist, als die Unruhe, die bei dem Gedanken an die durch eine neue Gesellschaftsform möglichen Missbräuche entsteht, während uralte Missbräuche mit der stumpfesten Ruhe hingenommen werden!
Welche Missbräuche die freie Scheidung auch bringen kann, schwerere als die, die die Ehe mit sich gebracht hat und noch immer mit sich bringt, dürfte sie wohl kaum herbeiführen können! Die Ehe, die zu den rohesten Geschlechtsgewohnheiten, dem schamlosesten Handel, den qualvollsten Seelenmorden, den grausamsten Misshandlungen und den gröbsten Freiheitsverletzungen herabgewürdigt wird, die irgend ein Gebiet des modernen Lebens aufzuweisen hat! Man braucht nicht zur Kulturgeschichte zurückzugehen, sondern nur zum Arzt und zum Rechtsanwalt, um zu erfahren, wozu »der heilige Ehestand« benützt wird – und zwar nicht selten von denselben Männern und Frauen, die seinen sittlichen Wert preisen!
Anmerkung: Jeder Arzt weiss, dass noch immer keine Übertreibung in J. St. Mills Worten liegt: »The law of servitude in marriage is a monstrous contradiction to all the principles of the modern world and to all the experience, through which these principles have been slowly and painfully worked out ... Marriage is the only actual bondage known to our law: There remain no legal slaves, except the mistress of every house ...«
Neben diesen Ausspruch kann man den Björnsons stellen, der über die Ehen früherer Zeiten gesagt hat, dass sie selten »zur Scheidung führten, aber zu Püffen und Schlägen, oft zu Mord, sehr oft zu Untreue, Trunksucht, Sklavensinn, Heuchelei und schlechtem Beispiel für die Kinder«.
Man mag antworten, dass Missbräuche nichts gegen den Wert einer bestimmten Gesellschaftseinrichtung beweisen, solange nur der richtige Gebrauch derselben dem Zwecke gut entspricht, zu dem sie entstanden ist.
Die Majorität meint, dass dies bei der Ehe noch immer der Fall sei. Die Minorität findet hingegen, dass ihr Zwang nun ihrem eigenen ursprünglichen Zweck, der Erhöhung der geschlechtlichen Sittlichkeit, entgegenwirkt.
Diese Minorität meint, dass, sobald man die Liebe als sittliche Grundlage der Ehe erkannt hat, die unvermeidliche Folge die ist, dass man dem, der zu lieben aufgehört hat, das sittliche und gesetzliche Recht zusprechen muss, seine Ehe zu lösen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch machen will.
Und dieselbe Minorität weiss, dass die Liebe, ganz unabhängig vom Willen des Menschen, aufhören kann und dass darum niemand mit verpflichtender Kraft mehr zu versprechen vermag, als was in das Gebiet des Handelns fällt.
Nichts ist natürlicher, als dass die Ewigkeitssehnsucht der Liebe Liebende zu Gelöbnissen ewiger Treue veranlasst; nichts wahrer, als dass es »eine satanische List der Gesellschaft ist, dieses Gelöbnis zu packen und eine gesetzliche Institution darauf zu gründen« (Carpenter). Nichts ist notwendiger, als die gesetzlichen Rechtsansprüche aufzuheben, die die Menschen, gestützt auf Liebesgelöbnisse und Treueschwüre, aneinander stellen.
Je mehr die Menschen die Gesetze ihres eigenen Wesens begreifen, desto mehr beginnen die Gewissensfeinen zu zaudern, Versprechungen zu geben, die sie vielleicht eines Tages aus einer inneren Notwendigkeit heraus brechen müssen. Immer Zahlreichere finden es unmöglich, eine Ehe einzugehen und sie vom anderen Teile zu verlangen – oder auch die Fortdauer der Ehe, wenn die Liebe erloschen oder für einen anderen erwacht ist. Ein Bräutigam oder eine Braut konnten – noch vor einem Mannesalter – die Bitte des anderen Teiles um Freiheit mit der Antwort abschlagen: dass er oder sie Liebe genug für beide hätte!! Heute wäre dies in den entsprechenden Kreisen undenkbar. Aber damals wurde noch eine öffentliche Verlobung als ein bindendes Band angesehen, und die Trauung fand unwiderruflich statt! Es war nach mehrjähriger Verlobung eine »Ehrensache« für den Mann, das Mädchen nicht der Gefahr auszusetzen, unverheiratet zu bleiben. Und sie gab sich damit zufrieden, wenn er nur seine Ehrenschuld bezahlte!
Solche Gefühlsroheiten werden glücklicherweise immer seltener, obwohl sie noch durchaus nicht ausgestorben sind. Immer mehr sehen die Menschen ein, dass man ebensowenig das Recht hat, eine Ehe nur zu schliessen, um Treupflichten zu erfüllen, wie das Recht, zu stehlen, um Versorgungspflichten zu erfüllen; dass man nicht mehr die Pflicht hat, in einer Ehe zu verharren, in der man fühlt, dass man untergeht, als die Pflicht, sich einem anderen zu Liebe umzubringen!
Dies werden einmal allgemeine Wahrheiten sein, ebenso gewiss wie es jetzt verkannte Wahrheiten sind – wenigstens wenn man danach lebt!
Sie brauchen eigentlich nicht einmal mehr ausgesprochen zu werden – weil schon lange danach gelebt wurde – in jedem Kreise erotisch verfeinerter Menschen. So geschah es in der Zeit Goethes und der Romantik in Deutschland; so ist es in Frankreich geschehen, so geschieht es nun überall in Europa. Die höchst entwickelte Jugend erkennt keine andere Treue als die der Liebe, keine andere Ehe als die in Freiheit geschlossene.
Es fällt heutzutage Freunden nicht mehr ein, sich den Bruderschwur zu leisten, ebensowenig wie es je Eltern und Kindern oder Geschwistern in den Sinn gekommen ist, gegenseitig öffentlich bindende Gelöbnisse ewiger Gefühle abzulegen. Auf allen diesen Gebieten weiss man, dass keine Gelöbnisse die Gefühle sichern können, die ebenso gut ohne sie bestehen und durch sie nicht bewahrt werden können.
Die neuen Menschen meinen, dass das erotische Gefühl in gleicher Weise der Obhut der Individuen selbst überlassen werden kann. Selbst wenn diese Menschen aus Gesellschaftsrücksichten ihrem Bunde die Form der Gesetzlichkeit geben, so schliessen sie doch das Übereinkommen: dass jeder die volle Freiheit hat, den anderen zu verlassen, wenn er oder sie es so wünscht.
Jeder ist so ebensowohl auf die Möglichkeit des Glücks, wie auf die des Leids gefasst.
Die Liebe früherer Zeiten fürchtete vor allem, der andere Teil könnte sich nicht genügend gebunden fühlen. Das feinste erotische Gefühl der Gegenwart bebt davor, eine Fessel zu werden; es schaudert vor der Zärtlichkeit des Mitleids, es scheut vor der Möglichkeit zurück, ein Hindernis zu werden. Dieser Seelenzustand weiss von keinem anderen Rechte, als dem der vollen Ehrlichkeit. Die Freiheit des einzelnen gesetzlich zu begrenzen, damit keiner dem anderen Leiden zufüge, ist unter diesen Verhältnissen sinnlos. Denn beide würden unter einer ohne volle gegenseitige Neigung fortgesetzten Vereinigung gleich tief leiden.
So stellt sich für die neuen Seelen die Scheidungsfrage, wenn keine Kinder da sind. Wo dies der Fall ist – und das ist ja die Regel – meinen auch sie, dass der Irrtum der Eltern sie nicht von der Pflicht lösen kann, für die Erziehung der Kinder, denen sie das Leben gegeben haben, zusammenzuwirken.
Aber sie sind der Meinung, dass dies nicht immer durch ein fortgesetztes Zusammenleben geschehen muss. Oft kann dies jedoch notwendig sein, und dann müssen sie ihre persönlichen Glücksforderungen denen des neuen Geschlechtes unterordnen. Ein so Denkender hält jemanden, der ein für allemal dieselbe Antwort gibt – mag diese nun »Freiheit um jeden Preis« oder »Verzicht um jeden Preis« lauten – für nichts anderes als einen Moralautomaten.