Es ist wahr, dass die neuen Menschen Unglück in ihrer Ehe weniger ertragen können, als die früherer Zeiten. Dies beweist, dass der eheliche Idealismus anspruchsvoller ist als früher.

Der bewusste Lebenswille unserer Zeit sträubt sich gegen die sinnlosen Leiden, durch die die Menschen früherer Zeiten, vor allem die Frauen, sich erniedrigen, abstumpfen, verbittern liessen. Eine feinere Selbstkenntnis, ein stärkeres Persönlichkeitsbewusstsein, zieht nun dem eigenen Leiden eine Grenze, wenn man die Gefahr fühlt, Schaden an seiner Seele zu nehmen. Diese Entschlossenheit des Individualismus macht es der modernen Frau unmöglich, sich für das Griseldisideal zu begeistern – schon deshalb, weil sie fühlt, dass all die geduldige Sanftmut die Ungerechtigkeit nur mehrt. Die »guten alten«, von der Opferfreude der Frauen getragenen Ehen verschwinden, das ist glücklicherweise wahr! Aber dass die neuen guten an ihre Stellen treten, das merkt man nicht. »Denn die Gesundheit schweigt still.« (Geijer.)

Wenn die, welche jetzt gierig alle Scheidungen zählen, auch alle glücklichen Ehen zählten, würde es sich zeigen, dass die Neugestaltung weiter vorgeschritten ist, als die Auflösung.

Man muss einsehen, dass die Frage der Scheidung die Verfolgung der Entwicklungslinie des Protestantismus ist. Mit der bei der Behandlung eines Kulturproblems gewöhnlichen Einseitigkeit vermochte die Reformationszeit nur das Recht der Sinnlichkeit im Menschenleben zu verfechten. Dass es sich jetzt im tiefsten Grunde um das Recht der Seele auf dem Gebiete des Geschlechtslebens handelt, das will man nicht einsehen. Dem Rechte des Individuums stellt man das Recht der Kinder gegenüber. Sind keine Kinder da, dann geben gewisse Christen zu, dass eine Scheidung zuweilen berechtigt sein mag. Unglückliche Eltern müssen hingegen der Kinder wegen zusammenhalten.

Aber der erotisch verfeinerte Mensch von heute kann nicht – ohne das Gefühl der tiefsten Erniedrigung – jemandem angehören, den er nicht liebt oder von dem er sich nicht geliebt weiss. Für einen oder für beide Ehegatten kann so eine – ohne die Liebe des einen oder beider – fortgesetzte Ehe entweder durch diese Erniederung oder durch ein lebenslängliches heimliches Zölibat ein tiefes Leid werden.

Dies ist der Kernpunkt der Frage, den alle umgehen, die über der Sorge für die Kinder vergessen, dass die Eltern doch auch als Selbstzweck betrachtet werden müssen. Man verlangt nicht, dass Vater oder Mutter um der Kinder willen andere Verbrechen begehen; man würde sie tadeln, wenn sie für den Lebensunterhalt ihrer Kinder Banknoten fälschten. Aber man verurteilt Mütter ruhig dazu, sich »um ihrer Kinder willen« Jahr für Jahr in ihrer Ehe prostituiert zu fühlen!

Dass es Ehepaare gibt, die als Freunde weiterleben, weil beide geringe erotische Forderungen haben; dass andere die Erniedrigung eines Zusammenlebens ohne Liebe nicht empfinden; dass die ersteren wie die letzteren wahrscheinlich am besten für die Kinder handeln, wenn sie ihnen ein Heim erhalten – das alles hindert nicht, dass andere unter solchen Verhältnissen so leiden, dass das Leben jeden Wert für sie verliert. Und diese sind es, welche entweder beim Ehebruch oder bei der Ehescheidung landen.

Eine junge Frau, die in missbilligende Worte über eine Ehescheidung ausbrach, bekam von ihrem Oheim, einem alten Naturforscher, eine Antwort, die sie nie vergass und die sich alle mit ihr einprägen sollten:

»Du darfst dich nicht durch Urteile über eine Sache erniedrigen, über die weder du noch sonst jemand ausser den Eheleuten selbst etwas wissen kann! Eine Scheidung wird freilich im Gerichtssaal verkündigt – aber sie fängt immer im Schlafzimmer an.«

Wenn auch ein Feind der Scheidung diese Schwierigkeiten zugesteht, so sagt er doch: dass der einzelne für seine erotischen wie für seine anderen Irrtümer büssen muss, denn nur so werden Menschen dazu erzogen, keine Irrtümer zu begehen.

Aber die Sache dürfte sich anders verhalten: sowie die Morde in früheren Zeiten desto häufiger wurden, je mehr Hinrichtungen das Volk beiwohnte, so entstehen desto mehr unglückliche Ehen, je mehr schon bestehen. Denn es ist vor allem der ganze Geist, der um uns herrscht, der über unser Handeln entscheidet. Ist es die Jugend gewohnt, zu sehen, dass die Älteren sich in hässliche und falsche Verhältnisse finden, so wird sie wohl das gleiche tun. Sieht sie hingegen rings um sich das Streben nach idealen Liebesverhältnissen – einen Idealismus, der sich einmal durch ein schönes Zusammenleben offenbart, ein anderes Mal durch die Aufhebung eines unschönen – dann wird auch sie ihre Ideale hoch stellen.

Diejenigen hingegen, welche selbst einmal fehlgegriffen haben, werden vielleicht klarer sehen, wenn sie ein zweites Mal wählen.

Aber weder die, welche die Irrtümer begehen, noch die, welche sie mit angesehen haben, können durch das Unglück anderer vor dem grossen Anlass der Irrtümer bewahrt werden, vor der erotischen Verblendung. Und ehe sich nicht die erotische Sympathie verfeinert hat, sind diese Irrtümer die allerunschuldigsten. Jeder Liebende wähnt sich von dem Trug der Illusion ausgenommen, und die Erfahrung, dass die erotischen Irrtümer anderer unwiderruflich waren, haben noch nie einen Liebesberauschten klarsehend gemacht!

Wenn man der Ansicht ist, dass die Gesellschaft das Leben aller so wertvoll als möglich machen soll, so bedingt dies auch die Forderung, dass unschuldige Irrtümer so wenig verhängnisvoll als möglich werden.

Auch auf dem Gebiete der Ehe muss man Ernst mit dem modernen Grundsatze machen: dass die Strafe die Fehlenden bessern und einen höheren Rechtsbegriff vorbereiten soll. Aber dies bedeutet, dass die Ehe unter immer besseren Voraussetzungen geschlossen werden, nicht unter immer schlechteren Wirkungen fortdauern soll!

Die Zwangsehe nötigt die Menschen, ihr Zusammenleben fortzusetzen, Kindern unter einem Seelenaufruhr das Leben zu schenken, der Spuren in ihrem Wesen und folglich auch in ihren zukünftigen Schicksalen hinterlassen muss. Aber dies ist nicht eine »wohlverdiente Strafe« für einen Irrtum: es ist die tiefste Verletzung der Heiligkeit der Persönlichkeit und der neuen Generation.

Man muss mit Georg Brandes fragen, »wozu die Völker eigentlich ihre grossen Dichter brauchen?«, wenn man fast ein Mannesalter nach »Nora« und den »Gespenstern« noch an der unbedingten Pflicht der Gatten festhält, die Ehe um der schon geborenen Kinder willen fortzusetzen. An die möglichen Kinder denkt man nicht!

Hier weiss niemand eine Antwort, der »die persönliche Liebe für die Grundlage der Ehe« ansieht, aber »die unbedingte Treue für den wirklichen Ausdruck der Persönlichkeit«!

Folgerichtig ist hier wie immer nur die volle individuelle Freiheit oder die unbedingte Unterwerfung.

Die katholische Kirche sagt – und von ihrem Gesichtspunkt aus mit vollem Recht – dass, weil auch Ehen, die unter den besten Voraussetzungen, aus innigster Neigung geschlossen wurden, unglücklich werden können, es unmöglich ist, die Sittlichkeit der Ehe auf dem Liebesgefühl aufzubauen. Nichts, was auf Gefühlen aufgebaut ist, hat Bestand. Ja, je reicher, je eigenartiger und vielseitiger entwickelt eine Persönlichkeit ist, desto weniger verbleibt ihr Seelenzustand unverändert. Folglich brauchen auch die Höchststehenden ein unverrückbares Gesetz, ein unzerreissbares Band, damit ihre Seelenregungen sie nicht durch Wind und Wellen treiben, so wie die niedriger Stehenden dessen bedürfen, um nicht durch ihre Begierden in die Irre geführt zu werden. Die Zugeständnisse des Protestantismus führen daher zur Auflösung der Ehe, denn mit dem Augenblick, wo die Liebe zu ihrer Grundlage gemacht wird, ist sie auf Sand gebaut.

Die Ehe, die die Kirche darum zum Sakrament und unauflöslich machte, war schon durch das Gesetz der Ausdruck für das private Eigentumsrecht des Mannes an Frau und Kindern geworden. Der Entwicklungsverlauf hat in einer unablässigen Umgestaltung dieser religiös-ökonomischen Anschauung bestanden. Und die Entwicklung kann nicht eher Halt machen, als bis das letzte Überbleibsel dieser Rechtsauffassung ausgetilgt ist.

Darum verwerfen die Lebensgläubigen sowohl die halben Konzessionen des Protestantismus wie den folgerichtigen Zwang des Katholizismus. Sie fordern, dass der Schritt von der Autorität zur Freiheit ganz gemacht werde, weil sie wissen, dass die lebenvereinfachende äussere Gewalt keine tiefere Sittlichkeit schaffen kann. Der Zwang fesselt die gesetzliche Handlungsfreiheit, macht aber die geheimen Übertretungen zu einer Gesellschaftsinstitution.

Und selbst wenn ein Mann oder eine Frau in äusserer Hinsicht eine Versuchung überwunden hat, wird dies sie nicht hindern können, in den Armen des legitimen Gatten von Gefühlen für einen anderen erfüllt zu sein. Sind sie dann dem Ehebruch entgangen? Nach ihrem eigenen feinsten Bewusstsein nicht – dem Bewusstsein, das Goethe durch seine grosse Dichtung von den Wahlverwandtschaften erweckte. Erfüllte Pflichten können ebenso gewiss wie unerfüllte Pflichten unberechenbare und tragische Folgen nach sich ziehen. Ein Tor, der glaubt, eine andere Seele über die haarfeine, messerscharfe Brücke geleiten zu können, wo jeder seinen einsamen Weg über den Abgrund zur Seligkeit geht: den Weg der persönlichen Gewissenswahl!

Wenn Sitte und Gesetz auf den tiefst-persönlichen Gebieten – dem Glauben, der Arbeit, der Liebe – einem Menschen die volle Wahlfreiheit rauben, dann wird das Dasein um grössere Werte geplündert, als die erzwungene Pflichterfüllung bieten kann.

In der Liebe hat der Persönlichkeitsbegriff dahin geführt, dass »Eigentum Diebstahl ist«; dass nur freiwillige Gaben etwas schenken; dass die Begriffe »eheliche Pflichten« und »Rechte« dem grossen neuschaffenden Gedanken gewichen sind: dass Treue niemals versprochen, wohl aber jeden Tag errungen werden kann.

Damit ist die Triebkraft zu immer höheren erotischen Organisationsformen gegeben, eine Kraft, die die Buddharuhe der unlösbaren Ehe mit ihrem gesetzlichen Besitzrecht brach liegen gelassen hat.

Es ist traurig, dass diese Wahrheit – die schon den adeligen Sinnen der Liebesgerichtshöfe klar war – noch verkündet werden muss. Einer der Gründe dieser Gerichtshöfe, warum die Liebe in der Ehe unmöglich sei, war nämlich: »dass die Frau vom Ehemanne niemals das feine Betragen erwarten kann, das der Geliebte zeigen muss, weil dieser nur aus Gnade empfängt, was der Mann als sein Recht nimmt!«

Wenn die Scheidung frei wird, dann wird man in der Ehe die Aufmerksamkeit der Verlobungszeit für die Seelenbewegungen des anderen bewahren, die Feinfühligkeit des Betragens, das Bestreben sich zu erneuern, um zu fesseln. Jeder wird – wie in der ersten Zeit der Liebe – dem anderen volle Freiheit in allen wesentlichen Lebensäusserungen gewähren, aber seine eigenen vorübergehenden Stimmungen beherrschen, während die Ehe jetzt in der Regel dieses glückfördernde Verhältnis umkehrt.

Die Sicherheit des Besitzrechtes schläfert jetzt den Eifer, zu erringen, ein; der Zwang, zu erwerben, wird auf diesem wie auf allen anderen Gebieten die Energie anspannen.

Nur eine so errungene Treue wird man in Zukunft des Besitzes wert finden. Eine feinfühligere Glücksforderung wird wohl einstmals ebenso erstaunt der gesetzversicherten Treue unserer Zeit gegenüberstehen, wie ihrem erbrechtlich versicherten Reichtum. In beiden Fällen wird man dann eingesehen haben, dass nur die eigene Kraftentwicklung Glück schafft und die Siegesseligkeit gibt, vor der unredlich ausgestreckte Hände sich beschämt zurückziehen.

Ein dänischer Denker hat unsere Übergangszeit treffend so gezeichnet: dass die Menschen jetzt auch auf erotischem Gebiete reicher und empfindungsvoller sind und dass dies mehr Möglichkeiten zu neuen Erlebnissen mit sich bringt, während andrerseits die tiefere Sensibilität der Zeit die Macht der Erinnerung grösser macht. Man kann das verflossene nicht in dem späteren Glück vergessen: die Pflichten gegen die Vergangenheit bedrücken, während das Neue alle Kräfte heischt. Gleichgewicht ist nur für jene möglich, die entweder fortfahren dort zu lieben, wo die Erinnerungen sind, oder die vergessen können, was sie nicht mehr lieben. Der moderne Mensch kann nicht mehr dem Ideal der unbedingten Treue huldigen, er hat es in die neue ideale Forderung umgewandelt: alle Verhältnisse voll auszuleben, was gleichbedeutend mit der Treue gegen uns selbst ist. Daraus folgt, dass wir Lebensverhältnisse weder übereilt knüpfen, noch zerreissen sollen – aber auch zur rechten Zeit nicht versäumen, beides zu tun.

Dieser Ausspruch ist doppelt beachtenswert, weil er den neuen Ernst der feinfühligsten Jugend ausdrückt. Eine Jugend, die mit der Liebe getändelt hat, hat es zu allen Zeiten gegeben, folglich auch in unserer, wenn auch der Leichtsinn mit den Zeiten Namen und Gestalt ändert. Aber die Jugend, die die Liebe als den grossen Inhalt des Lebens auffasst, die ist in unserer Zeit zahlreicher als in irgend einer anderen.

Überall sind die Lebenbejahenden durch den Willen charakterisiert, jedem Verhältnis den Wert des einzig Dastehenden, das Gepräge des Besonderen, des niemals früher Gewesenen, niemals Wiederkehrenden zu geben. Wie die Lebensanbeter der Renaissance haben auch die unserer Zeit begonnen, die Macht wiederzuerlangen, stark zu geniessen und stark zu leiden, die Macht, die stets eine zunehmende geistige Einheitlichkeit, eine neue Kraftkonzentration durch ein neues religiöses Gefühl beweist.

Die neue Art, das Leben aus dem »Gesichtspunkt der Ewigkeit« zu sehen, bringt auch die Möglichkeit, eine Lebenszeit in ein Jahr zusammenzupressen, ein Jahr in einen Tag und so »den Augenblick zu einer seligen Summe von Ewigkeiten« zu machen.

Für diese Lebensanschauung ist die Dauer des Glücks weniger wesentlich als seine Fülle, solange es währt.

Spinoza, der die Eifersucht geschildert hat wie kein anderer, hat auch von der Liebe das tiefe Wort gesagt: eine je grössere Seelenbewegung wir hoffen, dass der Geliebte durch uns erfährt, je mehr das geliebte Wesen in seinem Verhältnis zu uns von Freude bestimmt ist, desto grösser ist auch unser eigenes Liebesglück.

Der moderne Mensch hat angefangen, den Begriff dieser »grössten Freude« von dem lebenslänglichen Besitzrecht zu trennen. Und damit beginnt auch die Eifersucht in ihrer niedrigeren Form zu verschwinden.

Eifersucht gehört wie andere Schatten zu dem auf- und untergehenden Licht und schwindet in der vollen Mittagsklarheit. Aber ihre Gefühlsbetonung ist eine ganz andere geworden, seit der Mensch weiss, dass es ein Wunder – und kein Recht – ist, wenn die Sonne für ihn auf ihrer Höhe stille steht. Die höchstentwickelten Menschen von heute sagen mit derselben Einfachheit »ich bin geliebt« oder »ich bin nicht geliebt«, wie sie sagen, die Sonne scheint oder die Sonne scheint nicht. Der Unterschied ist in beiden Fällen unermesslich, aber die Notwendigkeit lässt – im einen wie im anderen Fall – das Gefühl der Demütigung nicht aufkommen. Der Schmerz, der entsteht, wenn ein liebendes Wesen nicht mehr die Freude des geliebten bildet oder sieht, wie ein anderer es tut, ist naturnotwendig und ehrfurchtgebietend. Er hört auf es zu sein, wenn er sich als gieriger Besitzrechtswille äussert, als brutaler Instinkt, der oft nicht nur das Gefühl des anderen, sondern auch das eigene überlebt.

Aber obgleich die seelische Differenzierung unserer Zeit grössere Möglichkeit bietet, jemanden zu finden, der irgend eine Seite der erotischen Sehnsucht stillt – während man immer schwerer das Wesen findet, das diese immer zusammengesetztere Sehnsucht ganz zu stillen vermag – so wird diese Gefahr der Zersplitterung gerade durch den zunehmenden Willen, seine Sehnsucht ganz zu stillen, aufgewogen. Dadurch, dass die Liebe immer mehrverlangend wird, wird sie auch immer treuer.

Wer die Auflösung der Gesellschaft durch die Betonung des Rechtes der Liebe fürchtet, der bedenkt nicht, dass das Recht, eine Ehe zu brechen, nur dem Gefühle zuerkannt wird, das nicht nur die rote Glut der Leidenschaft hat, sondern auch die Klarheit, durch die zwei Menschen einander als eine Offenbarung des ganzen ungeahnten Reichtums des Lebens empfunden haben. Eine Offenbarung, die alle Fülle des Verstehens, allen Frieden des Vertrauens barg; wo beide ebenso anspruchsvoll wie anspruchslos gegeben haben – nicht kärglich und zögernd, nein, so, dass jedes ohne Vorbehalt dem anderen entgegenströmte. Nur dieses Glück wollen die erotischen Adelsmenschen erleben. Und es wird immer schwerer und schwerer werden, es auch nur einmal zu erleben – geschweige denn mehrere Male!

Eine grosse Liebe gleicht nie den erotischen Gewittern, die gegen den Wind gehen – das heisst gegen die ganze Lebensrichtung der übrigen Persönlichkeit.

Alle wertvollen Gefühle – für einen Menschen wie für einen Glauben, eine Scholle, ein Land – sind konservativ. Und wie kann die Freiheit von Jemandem missbraucht werden, der weiss, was es kostet, ein Herz von dem zu lösen, woran es sich einmal gehängt?!

Für die flüchtige Natur ist das Glück, das eine festhaltende durch die Liebe erfährt, ebenso verborgen, wie dem Polytheisten die Seligkeit des Mystikers, der in die Fülle der Gottheit versinkt!

Hier wie überall ist das Glück für den Lebensgläubigen eins mit der Sittlichkeit. Weil das Glück in den grössten Seelenbewegungen besteht, ist es seine erste Voraussetzung, alle Gefühle zu verinnerlichen und zu vergrössern, vor allem die ehebegründenden.

Aber ausserdem hängt der ganze Gehalt der Persönlichkeit in wesentlichem Grade davon ab, ob die Treue für uns ein Lebenswert ist. Wer Treue will, schliesst seine Stimmungen um die Wesentlichkeit zusammen, konzentriert seine Kräfte auf sie, schützt sie vor den Windstössen des Zufalls. Nur dies verleiht dem Dasein Stil und Grösse. Der Wille zur Treue wird darum eins mit dem Gefühle eines Menschen für seine eigene Integrität, seinen inneren Zusammenhang, die Haltung und Würde seines geistigen Wesens.

Wenn die Treue aus diesen tiefen Gründen bewahrt wird, wird sie auch nur aus diesen Gründen gebrochen werden. Die Treue, die auf überkommenen Pflichtbegriffen ruht, wird hingegen im Feuer eine Rettungsleiter aus Stroh sein.

Man vergisst überdies, wenn man so viel von den Gefahren der freien Scheidung spricht, dass unter dem Einfluss der Liebe der ganze Seelenzustand sich in der Richtung der Treue bewegt. Die grosse Liebe saugt alle Ideenassoziationen auf, und ohne bewusste Mühe verinnerlicht und vertieft sie so die Persönlichkeit. Die Treue wird ein naturnotwendiger Zustand der Liebe, aber ein Zustand, dem die Zwangsehe ungünstig ist.

Die Treue gegen sich selbst – auch im neuen Sinne des Wortes – bedeutet folglich nicht allein, dass man im Notfall die Brücke zwischen sich selbst und seiner Vergangenheit abbrechen kann. Sie bedeutet auch eine bessere Brückenbaukunst, um den Zusammenhang zwischen unserer Persönlichkeit und der Mitwelt zu befestigen. Sie bedeutet nicht allein die Fähigkeit, mit einem Schicksal fertig zu werden. Sie bedeutet auch, mit einem Menschen nicht zu rasch fertig zu sein. Sie kann freilich die Notwendigkeit eines neuen Lebensversuchs mit sich bringen. Aber sie bringt noch sicherer die Forderung mit sich, sich nicht durch eine vorübergehende Ermattung des Gefühls zu neuen »Erlebnissen« verleiten zu lassen. Dieser Ausdruck – der an Stelle des alten Wortes »Abenteuer« getreten ist – birgt jedoch eine Vertiefung des Gefühls: wo man früher nur die Spannung des »Abenteuerlichen« fand, sucht man nun einen reicheren Lebensinhalt. Aber es ist oft ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, dass er in neuen Verhältnissen errungen werden kann, während man ihn vielleicht durch Vertiefung des ersten hätte erringen können. Durch grössere Empfänglichkeit und Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des anderen entdeckt man in ihm oft mehr, als man erwartet hat. Denn manche Menschen sind wie manche Landschaften oder Kunstwerke: sie fangen erst dann an etwas zu geben, wenn man wähnt, mit ihnen fertig zu sein. Aber es bedarf der Frömmigkeit, um von einer Seele und von einem Werke Offenbarungen zu erwarten. Frömmigkeit ist Versinken. Und dies verlangt Frieden. Aber unsere Zeit ist dem Frieden nicht günstig, ihr Wesen ist gerade ihre Zerstreutheit und Zerstreuung.

Dass unsere Zeit wie jede andere ihre besonderen Seuchen auf erotischem Gebiete hat, steht fest. Und gerade die Zerstreutheit ist das Erdreich, in dem die gefährlichsten derselben ihre Nahrung finden. Es gehört darum zur erotischen Lebenskunst, dass Eheleute sich hier und da eine Zeit des ungestörten Beisammenseins miteinander – oder eine Zeit der Einsamkeit jeder für sich – schaffen, um so die Gesundheit ihres Gefühls zu stärken. Auf diesem wie auf allen übrigen Gebieten sind äussere Schutzmassregeln gegen die Ansteckung bedeutungslos im Vergleich mit der Gesundheitspflege im ganzen.

Nur wer sich nach unablässigem Streben, nach anhaltender Selbstprüfung sagen kann: dass er alle seine Hilfsquellen an Güte und Verständnis gebraucht, seinen ganzen Glückswillen, seine ganze Empfänglichkeit im Zusammenleben betätigt, jede Möglichkeit gesucht hat, die Natur des anderen zu vertiefen, und doch gescheitert ist – nur der kann mit Gewissensruhe die Ehe aufgeben.

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