Ganz besonders wenn ein Mann oder eine Frau sich scheiden lässt, um eine neue Ehe zu schliessen, wird man über die Schlaffheit des Zeitgeistes in dem Ertragen von Leid empört. Ja, man pflegt da überhaupt gar nicht zuzugestehen, dass die Ehe Leid mit sich gebracht hat. Selbst jene, welche früher ein Ehepaar äusserst unzusammengehörig gefunden haben, vergessen diese ihre Meinung sogleich – wenn einer der Teile »einen Dritten dazwischen treten lässt«!
Und sie vergessen nicht nur ihre früheren Urteile, sondern auch die Erfahrung: dass, wenn zwei Gatten ganz eins sind, kein Dritter Raum zwischen der Rinde und dem Stamme findet. Im entgegengesetzten Falle kommt früher oder später der Dritte dazwischen. Zuweilen ist es das Kind, zuweilen die Lebensaufgabe, zuweilen ein neues Gefühl – aber immer kommt etwas, dank dem Grauen der Natur vor dem leeren Räume, der niemals verhängnisvoller wird als in der Ehe. In den Dimensionen der Seele wie des Raumes kann niemand den Platz des anderen einnehmen, sondern nur den Raum, den ein anderer leer gelassen hat oder nicht zu behalten vermochte.
Im letzteren Falle ist es gerecht, den mittelbaren Anteil zuzugeben, den die Literatur an der Rücksichtslosigkeit der erotisch Gewissenlosen hat. Die Rechtsbegriffe auf dem Gebiete der Erotik mussten erweitert werden. Aber bei dieser von der Literatur bewerkstelligten Verschiebung der Grenzpfähle ist eine allgemeine Rechtsunsicherheit eingetreten.
Die Dichtung erfüllt mit vollster Freiheit ihre Pflicht, die Geheimnisse der Liebe zu erforschen, nach denen Seelen und Sinne angezogen und abgestossen werden, von jenem Gesetz der Wahlverwandtschaft bestimmt, das die Gegenwart immer eifriger zu entdecken sucht, um die erotischen Kräfte zu einer höheren Entwicklung hinanzuleiten. Die Literatur ist der vornehmste dieser Entdecker. Und schon dies allein genügt, um die volle Freiheit zu rechtfertigen, ohne die sie überdies nicht so sein kann, wie Brandes die erotischen Dichtungen genannt hat: das feinste Messgerät für die Stärke und Wärme des Gefühlslebens einer Zeit.
Dass die Literatur oft die Macht wird, durch die erotische Unruhe entsteht, ist sonnenklar. Und so wirkt sie immer in irgendwelchem Masse bei dem Unglück mit, das durch Phantasie- oder Verstandesverliebtheiten hervorgerufen wird, und dem die feste und fertige Persönlichkeit entgeht. Die Schwachen sind hingegen jene, die in ihrer Liebe wie in ihrem Glauben die Richtung annehmen, die der Wurf eines anderen ihnen gibt.
Auch das erotische Tennisspiel – das in gewissen Kreisen die Ehen stiftet oder stört – wird von Sommerluft und Müssiggang begünstigt. Aber zu allen Jahreszeiten gibt es Männer und Frauen, für die jeder zum Balle wird, der ihre Phantasie oder Eitelkeit in Bewegung setzt. Keine Selbstbehauptung ist berechtigter als die, seine Willenskraft und seine Würde einem derartigen Gebrauch seiner Persönlichkeit entgegenzustemmen. Was das Spiel antreibt, ist nicht einmal die Macht der Sinne. Nein; dieses Spiel ist die einzige Erfindungsgabe der seelischen Armut, das Kennzeichen der erotischen Unbildung. Nur der Verfeinerte kann sich auf jedem Gebiete an den Lebensreizen freuen, deren Mittel er selbst nicht besitzt. Noch haben wenige Menschen eine Kultur, gleich der des Bettlers in Athen, der Alcibiades dankte, weil er ihm die Juwelen geschenkt hatte, die Alcibiades allerdings trug – aber an denen der Bettler sich frei erfreuen konnte! In bezug auf Menschen wie auf Dinge diesen von allem Besitzwunsch freien freudigen Sinn zu erreichen, ist die Blüte einer feinen Kultur.
Doch die Nevrose der Gegenwart stachelt die erotische Kleptomanie an. Menschen stehlen Menschen bald aus derselben Art von Hysterie, die die Pariser Damen zu Diebinnen der stilvollen Neuigkeiten der Modemagazine macht; bald aus derselben Roheit, die das Kind veranlasst, alle Blumen auszureissen, die es sieht; bald aus derselben Begierde, die den Sammler anreizt, stets neue Nummern zu erwerben.
Wenn man Menschen gegenüber allgemein zu der Freude des Kunstfreundes, nicht zu der des Kunstsammlers vorgedrungen ist, dann wird die höchste aller Freuden – die des Menschen durch den Menschen – nicht so oft durch erotische Verwicklungen gestört werden. Sich bei leichtsinnigen Zugeständnissen an solche auf die Freiheit der Persönlichkeit zu berufen, ist derselbe grobe Missbrauch des Begriffes, als wollte man im Namen dieser Freiheit im Sturm mit einem Leck im Boote eine Segellustfahrt unternehmen!
Die Freiheit der Persönlichkeit veranlasst zu dem grossen Wagestück, den grossen Lebensinhalt zu erringen. Aber nicht dazu, sich in Gefahren zu stürzen, in denen man um einer Bagatelle willen sein eigenes und andrer Leben aufs Spiel setzt. In Verhältnisse zu gleiten, in denen man nicht ein Hundertstel seines innersten Ichs einsetzt, dies heisst seine Persönlichkeit nicht beweisen, sondern sie vergeuden. Denn alle Handlungen, die geringer sind als wir selbst, erniedrigen unsere Persönlichkeit.
Vernichtend kann es auch werden, Handlungen zu vollführen, die grösser und stärker sind als wir selbst. Wer sich in ein Ausnahmeschicksal wagt, muss – gleich dem Bergsteiger – ein Übermass von Kräften und das daraus entstehende Sicherheitsgefühl haben. Denn sonst wird, in beiden Fällen, das Wagestück nur gelingen, wenn alles nach der günstigsten Berechnung geht. Bei einem unvorhergesehenen Missgeschick sind die Unzulänglichen verloren. Und darum hat, im einen wie im anderen Falle, die allgemeine Meinung unbewusst recht, wenn sie das Wagestück, das gelingt, verherrlicht, aber das, welches missglückt, verurteilt.
Die meisten Menschen sind den Folgen ihrer Entschlüsse nicht gewachsen. Wie abgeworfene Reiter werden sie im Gegenteil von ihrer Handlung durch niedrige Verhältnisse geschleift, mit denen sie nicht gerechnet haben. So wurde so manches Liebespaar, das frühere Bande zerrissen hatte, nur ein warnendes Beispiel, weil die Tat lebenverheerend, nicht lebensteigernd wurde.
Der Untergang kann der Höhepunkt des Lebens sein. Aber die Unzulänglichkeit ist immer ein Niedergang. Und von allem Unfertigen in diesem Leben ist der unfertige Entwurf zu einem Ausnahmeschicksal das Wehmütigste.
Darum ist – wenn ein neues Gefühl einen Menschen ergreift, der nicht allein Herr über sein Schicksal ist – nichts weiser, als dieses Gefühl ebensoviel erdulden zu lassen, wie den Schwan in dem Andersenschen Märchen – bis seine Schwannatur offenbar ist!
Und dazu kommt noch, dass wenige Menschen, die über die Jugend hinaus sind, den Mut oder die Kraft zu solchen neuen Erlebnissen haben, die eine wirkliche Lebenssteigerung bedeuten. Die meisten werden besser daran tun, ihre Persönlichkeit für die Aufgabe einzusetzen, ihr Schicksal mit Würde zu tragen und das Beste daraus zu machen.
Und – trotzdem so häufig das Gegenteil behauptet wird – das tun auch die meisten Menschen und werden es immer tun!
Die, welche es nur dem Zügel des Zwanges zuschreiben, dass der Mann seine Frau nicht verlässt, vergessen, in wie hohem Grade seelische Einflüsse schon jetzt die Scheidung leicht gemacht haben, trotz aller Zwangsgesetze. Es gibt in unserer Zeit selten einen hochsinnigen Mann oder eine solche Frau, die den anderen gegen seinen Willen zurückhalten, falls nicht der eine Teil die Überzeugung hat, dass die Scheidung, in die er willigte, den anderen ins sichere Verderben stürzen würde. In der Regel machen jetzt nur die Beschränkten und niedrig Gesinnten von dem Rechte Gebrauch, die Scheidung zu verweigern. Wenn dieses Recht aufgehoben würde, so wären damit ja nicht die Einflüsse aufgehoben, die schon jetzt Gatten zusammenhalten, obgleich sie in den meisten Fällen frei werden könnten, wenn sie es nur wünschten?!
Die sich leichtsinnig trennten, wenn es ihnen leichter gemacht würde, wären dieselben Menschen, die einander jetzt in der Zwangsehe im Geheimen betrügen. Für die Ernsten ist eine Scheidung immer ernst. Ehe ein Mensch mit Gefühlen und Gedanken wissentlich einem Menschen, der ihn geliebt hat oder noch liebt, wehe tut, hat er selbst Unerhörtes gelitten. Die Dankbarkeit für eine grosse Liebe hat sich oft in einem freien Verhältnis mächtiger bindend erwiesen, als das Gesetz hätte sein können. Ja, für einen gewissensfeinen Menschen sind die Bande, die das freie Verhältnis knüpft, stärker als die gesetzlichen, weil er im ersteren Falle eine seine eigene und die Persönlichkeit des anderen entscheidendere Wahl getroffen hat, als wenn er Gesetz und Herkommen befolgt hätte.
Und auch wenn keine zärtlichen Gefühle ihre zurückhaltende Macht ausüben, so ziehen es viele Menschen doch vor, als Wracks am selben Strande zu bleiben, anstatt jeder einzeln neuen ungewissen Schicksalen entgegenzutreiben.
Man hält die Menschennatur für gar zu einfach und widerstandsfähig, wenn man annimmt, dass ein Lebensversuch den anderen ablösen würde, sowie man die Scheidung freigäbe. Das Leben selbst, nicht das Gesetz, zieht in diesem Falle die unübersteiglichen Grenzen. Für tiefere Naturen, die sich aus einem Lebensverhältnis losgerissen haben, ist das Leid dabei oft so gross gewesen, dass es für immer die Farben des Lebens gebleicht hat.
Im Zusammenhang mit der modernen Forderung der Befreiung von der Mutterschaft wurde schon der Ausweg zurückgewiesen, der Liebe durch Staatserziehung der Kinder Freiheit zu bereiten. Die Bedeutung und der Wert des Elternhauses wurde gleichzeitig so stark als nur möglich betont.
Hier ist es hingegen am Platz, die Einseitigkeit der Vorstellung hervorzuheben, dass nichts wichtiger sei, als dass die Eltern um der Kinder willen zusammenhalten – während es doch im letzten Grunde immer darauf ankommen muss, wie die Eltern zusammenhalten und was sie selbst durch dieses Zusammenhalten werden.
Je erniedrigender das Zusammenleben für ihre Persönlichkeit ist, desto weniger bedeutet es auch für die Kinder, wenn diese heranwachsen.
Nur wer in der Ehe eine unmittelbar von Gott gegebene Einrichtung sieht, eine Form der Verwirklichung der göttlichen Vernunft, kann den Satz aufrechterhalten, dass in einer solchen Ordnung das Gute die menschlichen Mängel überwiegen muss. Die, welche meinen, dass der Zusammenhalt der Ehe immer das Gesunde und Sittliche ist, müssen auch den Beweis auf sich nehmen, dass die stumpfen ehelichen Gewohnheiten innerlich zerfallener Gatten eine reine Quelle für den Ursprung neuer Wesen sind; dass ihre einander widerstreitenden Einflüsse das Wohl der Kinder besser fördern, als eine ruhige Erziehung durch einen der beiden; dass das Glück des einen in einer neuen Verbindung gefährlicher für die Kinder wird als sein Unglück in der früheren.
Für den Lebensgläubigen wird das Problem der Kinder bei jeder neuen Scheidung neu sein. Auch hier muss man zu dem bedingten Urteil gelangen und die Schachbrettmoral mit ihren gleichmassig in Schwarz und Weiss geteilten Feldern verlassen. Von allem Vorhergehenden und allem Nachfolgenden hängt die Gefahr einer Scheidung für die Kinder ab. Wer seine Ehe auflöst gegen sein innerstes Bewusstsein, dass dies zum Schaden der Kinder ist, begeht eine Sünde, der unfehlbar auch jene Reue folgen wird, die Freunde zuweilen eifrig als – mildernden Umstand anführen! Wer hingegen mit Gewissensruhe »sündigt«, hat so gewählt, dass das Wohl der Kinder in der einen Wagschale lag. Diese Gewissensruhe ist dann nicht Sorglosigkeit und verhindert folglich nicht, dass der so Handelnde tief unter den Folgen des Entschlusses leiden kann, den er doch nicht bereut. In den meisten Fällen, wo Kinder da sind, dürfte auch für den von seinem persönlichen Recht noch so Durchdrungenen das geringere Leid das sein, bis zum Äussersten zu versuchen, ein Zusammenleben zu bewahren, das die Kinder in der gemeinsamen Hut eines Vaters und einer Mutter aufwachsen lässt, und um der Kinder willen diesem Zusammenleben freundliche und würdige Formen zu geben.
Aber wenn einer der beiden oder beide in diesem Streben scheitern, dann wird es auch für die Kinder das Beste sein, wenn das Zusammenleben aufhört. Und dieses Streben scheitert oft, denn es bedarf zweier oder wenigstens eines Ausnahmemenschen, um ein solches Zusammenleben möglich zu machen.
Die Menschen früherer Zeiten flickten bis ins Unendliche. Die psychologisch entwickelte Generation von heute ist mehr geneigt, das Zerbrochene zerbrochen sein zu lassen. Denn ausser in den Fällen, wo äussere Missverständnisse oder verspätete Entwicklung die Ursache eines Bruches waren, erweisen sich zusammengeflickte Ehen – wie zusammengeflickte Verlobungen – selten als haltbar. Es waren oft tiefe Instinkte, die den Bruch verursachten; die Versöhnung vergewaltigte diese Instinkte, und früher oder später rächt sich eine solche Vergewaltigung.
So kommt es vor, dass selbst die Ausnahmenatur sich an ihrer Bürde überhebt. Und die Kinder werden dann nicht Zeugen des Zusammenlebens ihrer Eltern, sondern nur ihres Zusammensterbens.
Weder die Religion noch das Gesetz, weder die Gesellschaft noch die Familie kann entscheiden, was eine Ehe in einem Menschen tötet oder was er in derselben retten kann. Nur er selbst weiss das eine und ahnt das andere. Nur er selbst kann die Grenze ziehen, ob er mit seinem eigenen Dasein so ganz fertig ist, dass er voll im Leben der Kinder aufgehen kann; ob er das Leiden einer fortgeführten Ehe so zu tragen vermag, dass es kraftsteigernd für ihn selbst und die Kinder wird. Eine Mutter vermag dies häufiger als ein Vater, aber in keinem Falle gibt es Masse und Gewichte, nach denen andere entscheiden können, wann ein Übermass an Leiden eingetreten ist. Ja, es gibt eigentlich keine Leiden: es gibt nur leidende Wesen, die das Leid jedesmal nach der Art ihrer Seele neuschaffen.
Nur eines steht fest: dass niemand mehr Aussenstehender ist, als gerade der, der das Leid verursacht. Nichts kann also unbilliger sein, als die eben erwähnten Masse und Gewichte der Entscheidung des einen Ehegatten zu überlassen. Die Gewissheit, eine Scheidung abschlagen zu können, bringt Rücksichtslosigkeiten gegen die Missstimmungen des anderen mit sich, die nie vorkämen, wenn Rücksicht erforderlich wäre, um zurückhalten zu können. Und diese Rücksichten sind besonders bedeutungsvoll zu Beginn des Zusammenlebens, wo die meisten jungen Ehepaare mit grösserer oder geringerer Schwierigkeit die kleinen und grossen Probleme der Anpassung lösen. Die erste Mutterschaft ist ausserdem oft von anormalen Seelenzuständen begleitet, die zu der übereilten Schlussfolgerung führen, man passe nicht zueinander und sei sich unsympathisch. Die Widersacher der freien Scheidung meinen, dass gerade in diesen Jahren übereilte Scheidungen vorkommen könnten. Aber sie bedenken nicht, dass Mann und Frau sich jetzt in dem Gefühl ihres Eigentumsrechts in einer Weise die Zügel schiessen lassen, die undenkbar sein würde, wenn diese Sicherheit nicht vorhanden wäre. Die jungen Ehepaare halten so allerdings zusammen – aber zerstören nicht selten die feinsten Möglichkeiten des Glücks. Die Notwendigkeit der Behutsamkeit gegeneinander würde bei diesen Konflikten in viel tieferer Weise zusammenhaltend wirken, als jetzt die Gewissheit, nicht frei werden zu können. Wenn dann Kinder kommen, ist für alle – ausser für herzlose Naturen – die Gefahr gering, dass ein Leidender seine Kräfte zu rasch für erschöpft hält. Die Zusammengehörigkeit, die Kinder zwischen ihren Eltern hervorrufen, wenn diese sie zusammen betreuen und lieben, ist zuweilen unauflöslich. In den meisten Fällen ist sie so stark, dass sie das wirkliche Band bildet, ohne das doppelt so strenge Gesetze nicht die Macht hätten, zwei unwillige Wesen zu vereinigen.
Im Zusammenhang mit der Auswahl der Liebe wurde auf die Zeichen hingewiesen, die darauf deuten, dass das Gefühl für die Nachkommenschaft – das seit urdenklichen Zeiten Mann und Weib um einen Herd zusammengeschlossen, in seiner Nähe den Altar errichtet und um beide die Stadtmauer gebaut hat – seiner Renaissance entgegengeht. Das Bewusstsein vom Rechte der Kinder ist unverkennbar im Steigen begriffen, zugleich mit der Überzeugung vom Rechte der Liebe. Und gegen das Heranstürmen dieses bewegtesten, gefährlichsten Meers des Daseins wird noch immer das Gefühl für die Nachkommenschaft als die gesellschaftbewahrende Mauer stehen, obgleich in neuer Gestaltung, um neue Widerstandskraft zu erlangen.
Aber die Gegner der Scheidung meinen im Gegenteil, dass das Glücksgefühl durch die Kinder – besonders beim Vater – schon so schwach geworden ist, dass die meisten Väter sich von jeder Verantwortung befreien würden, wenn sie es nur könnten!
Wenn dem so ist, trägt die Gesellschaft selbst die Schuld daran. Sie begünstigt nicht nur Geschlechtsverhältnisse, die von der Geschlechtsaufgabe ganz unabhängig sind: sie befreit auch den Mann von der Verantwortung für die illegitimen Kinder und fördert so den unter-tierischen Standpunkt der Männer. Die der Nachkommenschaft dienlichen Instinkte, die bei den Tieren unerschüttert geblieben sind, können nicht ihre volle Stärke erlangen, ehe nicht der Mann voll verantwortlich für jedes Leben ist, das er schafft. Im selben Augenblick, in dem die Gesellschaft feststellt, dass die Elternschaft zweier Menschen das verpflichtende Moment der Geschlechtsverbindung ist, wird das Lebensverhältnis selbst allmählich das Gefühl vertiefen, und der Mann wird die Freudequellen besitzen und bewahren wollen, deren Lasten er immer zu tragen hat. Selbst wenn die Vatergefühle der Männer nur langsam erwachen – und eine Anzahl der modernen Väter wirklich die freie Scheidung dazu gebrauchen sollten, Weib und Kind leichtfertig zu verlassen – so gibt es Mütter, die ihre Kinder in der Regel nicht leichtfertig verlassen: die im Gegenteil jetzt das tiefste Unglück ertragen oder auf ein grosses Liebesglück verzichten, um bei ihnen zu bleiben; die – selbst wenn sie sich von ihnen losreissen – sich doch fast nie loslösen können. Wenn das Gesetz jeder Mutter die Rechte gibt, die jetzt nur die unverheiratete Mutter hat, aber allen Vätern die Pflichten auferlegt, die jetzt nur die Verheirateten haben – dann dürften die Kinder für den Mann ein neuer und kostbarerer Wert werden! Wenn er nur jenen Einfluss erhält, den er durch die Achtung, welche die Frau für seine väterlichen Eigenschaften hat, erlangen kann, wenn seine Bedeutung für das Leben der Kinder von persönlicher Kraftentwicklung, nicht von gesetzlicher Machtausübung abhängen wird, dann wird die Vaterschaft in hohem Grade veredelt werden. Und damit wächst auch die Zärtlichkeit, nach dem unumstösslichen Gesetze: dass der Mensch um so mehr liebt, je mehr er gibt.
Wenn das Matriarchat in einer neuen, durch die ganze Entwicklung verfeinerten Form der Schlusspunkt für die Familie werden wird – sowie es nach der Meinung Vieler der Ausgangspunkt war – dann würde dies bedeuten, dass die väterliche Gewalt bedingt wäre, abhängig von dem Wert und der Wärme des Vatergefühls. Jetzt sind noch viele Väter nur eine Episode im Leben der Kinder.
Bis auf weiteres dürfte es feststehen, dass die freie Scheidung vor allem das Gute mit sich bringen würde, dass eine Menge Frauen, die einen verkommenen Mann erhalten, für Nahrung für die Kinder anstatt für Spirituosen für deren Väter arbeiten könnten; dass eine Menge Mütter, die um ihrer Kinder willen gezwungen sind, die tiefste Erniedrigung zu ertragen, sich befreien könnten – und in beiden Fällen würden die Kinder dabei gewinnen. Den Vater hingegen, der infolge der freien Scheidung seine Familie leichtsinnig abschütteln würde, dürfte diese in der Regel leicht entbehren können!
In den meisten Fällen, in denen Charakter- und Meinungsverschiedenheiten der Eltern der Anlass zu einer Scheidung waren, haben es auch die Kinder durch eine solche besser. Jeder der Ehegatten kann für sich ein wertvoller Mensch sein. Wenn sie sich infolge ihrer Uneinigkeit trennen, haben beide das Gefühl, dass sie an den Kindern etwas zu sühnen haben. Dies spornt sie an, ihre Schuld gutzumachen, und die Kinder erhalten so – von jedem der beiden – weit mehr, als da die Eltern vereint waren, die Kinder aber ihren Streitigkeiten beiwohnten und ihre Naturen von der ungünstigsten Seite sahen. Die Kinder werden von der Qual befreit, der Gegenstand der Zwistigkeiten zwischen Vater und Mutter zu sein; Partei für einen von beiden ergreifen zu müssen; zwischen zwei verschiedenen Willen hin- und hergezerrt zu werden, zwischen den eifersüchtigen Bestrebungen beider, sie für sich zu gewinnen. Sie entgehen zum Teil der Gefahr, aus zwei verschiedenen, einander entgegenwirkenden Gesichtspunkten erzogen zu werden, wobei der eine bestrebt ist, den Kindern die Meinungen »auszutreiben«, die der andere ihnen einprägt!
Aber all das rechnen die Gegner der Scheidung für nichts. Die Hauptsache ist, dass die Eltern zusammenhalten, wie gewitterschwer oder nebelgrau die Luft auch sein mag, in der die Kinder aufwachsen!
Dieser Gesichtspunkt trägt der Wirklichkeit ebensowenig Rechnung wie die Anschauung derer, welche in demselben Augenblick, in dem die Liebe aufgehört hat, auf Scheidung dringen. Das Zusammenhalten kann in gewissen Fällen den Kindern eine frohere und reichere Kindheit bereiten als die Verhältnisse nach der Scheidung. Und es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass die Uneinigkeit zwischen den Eltern zuweilen durch den Wert des männlichen Wesens des einen, des weiblichen des anderen Teiles aufgewogen wird, die – wenn sie auch nicht zusammenwirken – doch gut nebeneinander wirken können; sowie dass Kinder, die durch Disharmonie im Hause frühzeitig genötigt werden, nachzudenken und einen Standpunkt einzunehmen, oft stärkere Charaktere werden als die in glücklichen Familien Aufgewachsenen.
Während man einerseits Kinder, deren Eltern sich trennten, bedauern hört, dass diese nicht mit mehr Geduld zusammenhielten, wird man andrerseits Kinder, die in einer unglücklichen Häuslichkeit aufgewachsen sind, klagen hören, dass die Eltern ihre Ehe fortsetzten. Wäre diese aufgelöst worden, so hätten sie selbst wenigstens ein gutes Heim haben können, vielleicht zwei, während sie so gar keines hatten.
Aber jeder weiss ja nur, wie er unter dem gelitten hat, was geschehen ist; nicht, was er durch einen anderen Ausgang gelitten haben könnte. Und folglich darf die Meinung der Kinder weder im einen noch im anderen Falle als ausschlaggebend betrachtet werden, wenn es gilt, den Grundsatz festzustellen.
Bedeutungsvoller ist schon die Erfahrung, die man über die Stellung jener Kinder hat, die ihren Vater durch den Tod verloren.
Während der Witwer sich in der Regel wieder verheiratet, wenn die Kinder klein sind, bleibt hingegen die Witwe in den meisten Fällen unvermählt. Und es dürfte gewiss sein, dass eine Statistik über die tüchtigen Männer das Überwiegen der Söhne von Witwen ergeben würde!
Eine Scheidung bringt die Kinder oft der Mutter gegenüber in eine ähnliche Stellung der liebevollen Fürsorge und des Verantwortlichkeitsgefühls. Aber während die Gesellschaft sich vor der »harten Notwendigkeit« beugt, dass eine einzige Feldschlacht mehr Kinder vaterlos macht als die Scheidungen während einer Generation – und sich da ruhig auf die Fähigkeit der Mütter verlässt, allein ihre Söhne zu guten Staatsbürgern zu machen – scheut sie vor derselben harten Notwendigkeit zurück, wenn es sich darum handelt, einen lebenden Vater vor lebenslänglichem Unglück zu retten!
Die grösste Gefahr für die Kinder ist bei einer Scheidung die, dass sie oft zwischen Mutter und Vater geteilt werden und dadurch teilweise das vor allem freudebringende Geschwisterleben verlieren. Das nächstgrösste Unglück ist nicht, dass Vater und Mutter nicht unter einem Dache leben, sondern dass sie sich nicht weiter treffen können. Dieses Unglück könnte oft vermieden werden, wenn Verwandte und Freunde es unterlassen wollten zu dekretieren, dass die getrennten Gatten sich hassen und in jeder Beziehung quälen müssen. Wenn man einsähe, wie überlegen es ist, wenn zwei Menschen – die imstande sind, sich als Freunde zu trennen und als solche zusammenzutreffen – dies auch wirklich tun; wenn das Zusammensein des einen Gatten mit den Kindern niemals eine Beeinflussung zum Schaden des Abwesenden mit sich brächte, dann brauchten die Kinder auch nach einer Scheidung nicht ihr wesentliches Verhältnis zu beiden Eltern zu entbehren. Jetzt hingegen, häufig zwischen feindlichen Eltern geteilt, voneinander getrennt, und – ohne gemeinsame Erinnerungen und andere bindende Bande – allmählich einander entfremdet, verlieren die Kinder durch eine Scheidung so viel, dass die Eltern in den meisten Fällen nichts gewinnen können, das aufzuwiegen vermöchte, was die Kinder verlieren; und darum müssen sie eher die Bürden des Zusammenlebens tragen, als den Kindern die der Scheidung auferlegen.