Auch auf dem Gebiete der Scheidung muss der grosse Grundgedanke des Protestantismus durch die volle Anerkennung der Wahlfreiheit des Individuums angewendet werden. Denn kein Fall lässt sich im allgemeinen entscheiden, da man das Rechte und Unrechte auch hier nur durch die eigene Prüfung jedes Gewissens entdecken kann.

Oft verschloss – im grossen entscheidenden Augenblick – ein Kind den Weg, der von der Türe des Heims fortführte. Aber es wurde darum hinter dieser Türe nicht heller und wärmer für das Kind!

Im Vorhergehenden ist die Stellung der Kinder zur Scheidung aus dem Gesichtspunkt der Disharmonie der Eltern betrachtet worden. Wenn hingegen die Scheidung zugleich durch ein neues Gefühl eines von beiden verursacht wird, dann muss dieser Vater oder diese Mutter bereit sein, einmal – wenn die Kinder sie verstehen können – ihr Recht dadurch zu beweisen, dass sie ihnen zeigen, dass die neue Liebe sie zu reicheren und grösseren Persönlichkeiten gemacht hat. Dem Niedergang der Eltern haben die Kinder das volle Recht nicht geopfert zu werden. In jedem Falle werden die Kinder immer die unbestechlichsten Richter der Eltern sein.

Aber dass ein Mensch schon einigen Kindern das Leben gegeben hat, gibt diesen Kindern nicht das unbedingte Recht zu verlangen, dass ein Vater oder eine Mutter ihnen die Liebe opfere, die sie selbst und durch sie die Menschheit grösser machen kann, der sie vielleicht noch vortrefflichere Kinder oder vortrefflichere Werke schenken, als sie früher gekonnt hätten. Manche Frau gebar ihrem Manne Kinder, ohne ihr Kind gesehen zu haben; mancher Mann gab der Gesellschaft seinen Fleiss, niemals sein Werk, – bis die grosse Liebe ihre innerste Sehnsucht erfüllte, und das Kind, das Werk, das so geschaffen ward, wurde das einzige für die Menschheit unentbehrliche!

Die Forderung der Gesellschaft, dass ein von Glücksmöglichkeiten strahlender Vater oder eine Mutter diese um der Kinder willen opfern soll, wird nicht mehr so häufig gestellt werden, wenn das Gefühl für den Wert des Lebens erstarkt und die Pflicht der Eltern, für ihre Kinder zu leben, immer mehr so gedeutet wird, dass sie ganz lebensvoll bleiben müssen, mit Kräften zur Erneuerung. Andrerseits dürfte gerade diese jetzige Verjüngung der Eltern oft zur Folge haben, dass sie so reich mit ihren Kindern zusammen leben, dass sie keiner anderen Erneuerung bedürfen als jener für alle Teile beglückendsten: dass sie ihren »zweiten Frühling« durch den ersten der Kinder empfangen!

Ist die Folge der verlängerten Jugend der Eltern hingegen die, dass Vater oder Mutter ihr Leben umformen, dann müssen die Kinder leiden, bis sie verstehen können, dass sie im tieferen Sinne vielleicht gar nicht darunter gelitten haben. Zuweilen übte der neue Gatte oder die neue Gattin einen reicheren Einfluss auf die Kinder aus als ihre eigenen Eltern, wie dies ja auch bei einem Stiefvater oder einer Stiefmutter der Fall sein kann. Jetzt wird diese Möglichkeit jedoch oft durch die eben erwähnte allgemeine Meinung beeinträchtigt, die auch dekretiert, dass die Kinder die hassen sollen, die sie, sich selbst überlassen, vielleicht hätten lieben lernen.

Die selbstsüchtige Forderung erwachsener Kinder, dass das Leben der Eltern in und mit ihnen seinen Höhepunkt erreicht haben, persönlich abgeschlossen sein muss, ist ebenso grausam wie unberechtigt, gibt es doch Seelen, die nicht mit dem Früchtetragen verblühen, sondern gleichzeitig Früchte und neue Blüten zu tragen vermögen. Die Kinder erhalten mit dem Leben das Recht auf die Bedingungen, die sie voll lebenstauglich machen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was die Eltern darüber hinaus von ihrem eigenen Lebensinhalt opfern wollen, muss freie Güte sein, nicht Pflicht.

Wenn so der grossen Liebe ein Recht, das dem der Kinder vorgeht, zuerkannt wird, so taucht selbstverständlich die Frage auf, wie diese Liebe von der vorübergehenden unterschieden werden kann?

Ein Irrtum ist in einer Ehe, wo Kinder da sind, schon schwer möglich. Denn die Hindernisse, die die Menschen in solchen Fällen zu überwinden haben, sind so gross, dass nur die grosse Liebe sie besiegt, falls die Eltern derart sind, dass sie überhaupt wirkliche Bedeutung für die Kinder haben.

Eben durch ihre Entstehung allen Hindernissen zum Trotz verrät die schicksalsbestimmte Liebe oft ihre Art und wird so das, was man »sündig« nennt. Wenn die von diesem Gefühle Ergriffenen auch die Pflicht Weltenmeere zwischen sich legen liessen – so werden sie sich doch in jeder grossen Stunde des Lebens bis zur letzten in der Überzeugung begegnen, dass »his kiss was on her lips, before she was born« ..

Wenn die Menschen tiefer in die Kenntnis der Gesetze der Seele eindringen, werden sie, wie Carpenter es ausgedrückt hat, entdecken, dass es auch in der Welt der Gefühle eine Astronomie gibt; dass dort durch eine von ewigen Gesetzen regierte Wahlverwandtschaft Zusammengehörigkeiten, Sympathien und Antipathien entstehen, die alle Himmelskörper in den richtigen Abstand zu einander bringen; dass folglich die Bahn der Liebe eine ebenso unabweisliche Notwendigkeit hat wie die eines Sternes und sich ebenso unmöglich durch irgendwelche ausserhalb ihres eigenen Gesetzes wirkenden Gesetze bestimmen lässt.

Anmerkung: Edward Carpenter: »Wenn die Menschen reif zur Liebe werden.

Und ohne Zweifel wird man einstmals auch auf diesem Gebiete das Teleskop finden, das den Kurzsichtigen endlich die Fixsterne, Planeten und Kometen des erotischen Weltenraums offenbart und zeigt, dass ihre Konstellationen sich nach einem höheren Gesetze ordnen, als dem des »rohen Triebs«!

Bevor man die astronomische Gewissheit erreicht, muss man sich jedoch mit der kunstkritischen begnügen.

Die grosse Liebe hat, wie der grosse Künstler, ihren Stil. Welchen Gegenstand dieser auch behandelt, welches Stoffs er sich auch bedient, so gibt er doch der Leinwand wie dem Marmor, dem Papier wie dem Metall, das Gepräge seiner Hand, und man erkennt sie in den geringsten Dingen, die er geformt. So ist in jeder Zeit und jedem Lande, jeder Gesellschaftsklasse und jedem Alter die grosse Liebe eine und dieselbe: ihre Merkmale sind unverkennbar, wenn auch das Schicksal, das sie schafft, oder die Individuen, die sie prägt, im einen Falle bedeutender sind als im anderen.

Turgenjew, der von allen grossen Prosadichtern des vorigen Jahrhunderts am meisten von der Erotik wusste, wusste auch, dass »die Liebe, für die es keinen Grund gibt, die stärkste und dauerndste ist«. Ein paar Jahrhunderte vor ihm hatte eine seelenvolle Frau, Mme. Lambert, dasselbe gesagt: »II n'y a des passions que celles qui nous frappent d'abord et qui nous surprennent; les autres ne sont que des liaisons où nous portons volontairement notre cœur. Les véritables inclinations nous l'arrachent malgré nous.« Und sie hat in dieser Meinung den tiefsten Seelenkenner ihrer Zeit, Pascal, auf ihrer Seite: auch er ist überzeugt, dass man sich nicht fragt, ob man lieben soll, man fühlt es: on ne délibère point là dessus, on y est porté.

Aber dieses mächtige Gefühl – das das ganze Wesen aufwühlt und dem ganzen Wesen Ruhe in dem eines anderen gibt – dieses Gefühl ergreift den Menschen, ohne danach zu fragen, ob er gebunden oder frei ist! Wer stark und voll genug fühlt, braucht nie über das nachzugrübeln, was er empfindet: nur das schwache Gefühl wird vor sich selbst fragwürdig. Und wer stark genug fühlt, fragt sich auch nie, ob er das Recht auf sein Gefühl hat. Er wird von seiner Liebe so vergrössert, dass er fühlt, das Leben der Menschheit zu vergrössern. Nur die kleinen, halben Leidenschaften empfindet ein gebundener Mensch mit vollem Rechte als »sündig«. Für den hingegen, der sein grosses Gefühl einen verbrecherischen Taumel, einen schamlosen Egoismus, einen tierischen Trieb nennen würde, hat ein liebender Mensch nur ein mitleidiges Lächeln. Er weiss, dass er eine Sünde begehen würde, wenn er seine Liebe tötete, so wie wenn er sein Kind mordete. Er weiss, dass seine Liebe ihn wieder gut gemacht hat, wie in seinen Kindheitsgebeten zu Gott, reich wie den, dem sich die Pforten des Paradieses aufs neue erschlössen!

Die Kunst verkündet eine allgemein menschliche Erfahrung, wenn sie Adam und Eva, als sie aus dem Paradiese vertrieben werden, immer jung darstellt. Man wundert sich nur, dass kein Künstler sie – in reiferem Alter – vor die Mauern des Lustgartens gestellt hat, vergrämt durch das Gefühl, nun Weisheit genug zu besitzen, um das Glück zu bewahren, dessen Voraussetzungen sie nur in der Jugend besassen!

Denn nicht selten kommt im Menschenleben eine Zeit, wo die Klarheit vor der Kälte eintritt; wo die Blüte noch reich ist, obgleich die Früchte zu reifen begonnen haben. Da leuchtet das grosse Glück oft auf und verschwindet. Zuweilen sah der Mensch es gar nicht, denn es kam sachte und legte – gleich einer trauten Gespielin – eine sanfte Hand über seine Augen und fragte: wer bin ich? Man riet falsch, und das Glück entschwand, ehe man es noch anflehen konnte, zu verweilen. Nur zu seinen Lieblingen kommt es mit vollen und offenen Händen. Für die Mehrzahl gelten die Worte des sterbenden Hebbel: entweder fehlt der Becher oder der Wein.

Die tiefste Tragik der Liebe ist, dass viele Menschen erst, nachdem Seele und Sinne aus ihren Irrtümern gelernt haben, für die grosse Liebe reif sind, die aus zwei Wesen ein vollkommeneres schaffen kann.

In der Dichtung wie im Leben wird zuweilen die erste, zuweilen die letzte Liebe als die stärkste gepriesen. Keine braucht es zu sein, und jede kann es sein. Die stärkste Liebe ist die, welche – gleichviel in welchem Alter sie kommt – alle Kräfte der Persönlichkeit am meisten in Anspruch nimmt.

Bourget, der in diesen Fragen die Feinheit des Franzosen hat, die dem Germanen so oft abgeht, sagt sehr wahr: dass es kein bestimmtes Alter zum Lieben gibt, weil der, welcher »dans le sens complexe d'exaltation idéale« lieben kann, nie aufhört, es zu tun. Und er hält auch die Grenze der Möglichkeit, Liebe zu erwecken, für ebenso unbestimmt – wenn man von überlegenen Wesen spricht, die imstande zu »des émotions supérieures« sind – eine Meinung, die auch Stendhal teilte und deren Wahrheit die gallische Seele oft bewiesen hat.

Es geschieht auch mehr als einmal, dass ein Mensch erst, wenn er mit der Liebe fertig sein soll, wirklich für sie fertig ist. Desto geringer sind die Möglichkeiten, die Liebe zu finden, die er zu geben und zu empfangen wünscht. Noch geringer die Möglichkeit, dass er sich ihr – mit Einstimmung seines ganzen Wesens – hingeben kann.

Denn eines ist es, das Recht zu seinem grossen Gefühle zu haben; ein anderes, das Recht oder die Möglichkeit zu seinem vollen Glück zu besitzen.

Die Liebe mag in ihrer gesellschaftlichen Form noch so frei sein: von den von ihrem eigenen Wesen untrennbaren Leiden und von den durch den Zusammenhang mit der Vergangenheit unvermeidlichen Kämpfen kann keine Freiheit der Sitte oder der Scheidung die Kinder der Menschen erlösen. Diese Leiden und Kämpfe hat das Leben selbst so tief gemacht, dass das Gesetz sie wahrlich nicht tiefer zu machen braucht.

Der häufigste Konflikt ist, dass ein Mensch von der vorübergehenden Erotik – in legitimer oder freier Form – gebunden oder gebrochen ist, wenn die schicksalsbestimmte in sein Dasein eingreift.

Dass so viel mehr unglückliche Ehen bestehen, als aufgelöst werden, dürfte weniger auf dem Pflichtgefühl beruhen, als darauf, dass nur wenige den grossen Gefühlen gewachsen sind. Peer Gynts Symbol – die Zwiebel – versinnbildlicht das erotische Wesen der meisten. Sie blüht willig im Sande wie im Wasser, in der Erde wie im Topfe. Aber hat sich eine Eichel in einen solchen verirrt, dann wird es – infolge der Lebensbedingungen der Eiche – unvermeidlich sein, dass sie eines Tages ihr Gefängnis sprengt oder stirbt.

Und in solchen Fällen ist es unheilvoll, wenn eine christlich-ethische Anschauung ernste und wirkliche Möglichkeiten hindert, das Leben so zu erneuen, dass es bedeutungsvoller für das Ganze wie für den Einzelnen selbst wird. Mit reichen Möglichkeitswerten ausgerüstete Menschen lassen sich noch von jenen unbedingten Rücksichten auf das Gefühl anderer bestimmen, die vom Christentum auch dem Evolutionismus aufgepfropft wurden und besonders durch George Eliot ihren grossen, aber einseitigen Ausdruck erhalten haben.

Dass die Menschheit nicht nur Menschen braucht, die willig sind, ihr Leben zu opfern, um es zu gewinnen, sondern auch Menschen mit dem Mute, andere zu opfern, um ihr eigenes zu gewinnen – dies ist eine Wahrheit, die doch unauflöslich mit einer evolutionistischen Lebensanschauung verbunden sein muss, für die der Wille, das eigene Dasein zu bewahren und zu steigern, eine ebenso unabweisliche Pflicht ist wie die, durch Opferwilligkeit das anderer zu erhalten und zu steigern. Mut zu seinem Glücke haben, die von einem Konflikte unzertrennlichen Qualen ohne Gewissensqual leiden zu können, das vermögen aber nur jene, die aus ihrer innersten Notwendigkeit heraus handeln. Dass Liebespaare, die ausserhalb des Gesetzes stehen, sich so oft zusammen töten, ist kein Beweis für die Übermacht der Erotik; eher ein Beweis für die Ohnmacht des Gefühls, zu wagen und das Recht zu erringen, unmittelbar zu leben und so des Lebens Reichtum zu mehren. Denn nur für eine Liebe, die durch und durch Lebenswille ist, werden die Verhältnisse wie Wachs in der Hand des Künstlers.

Diese Ohnmacht ist aus dem Gesichtspunkte des Lebensglaubens bedauerlich, ebenso wie der heimliche Ehebruch. Gewiss kann beides die Schönheit des grossen tragischen Liebesschicksals haben. Niemand, der das Inferno gelesen hat, wird wohl Francesca die Stärke gewünscht haben, Paolos Liebe zurückzuweisen! Und so wunderbar sind die Wege einer Seele heim zu sich selbst, dass es Fälle geben kann, wo ein Mensch sich im Ehebruch von der Besudlung der Ehe gereinigt fühlt – dadurch, dass er zum ersten Male jene Einheit der Seele und der Sinne erlebt, die sein Traum von der Liebe war, seit er ihn zu träumen begann!

Aber selbst in diesen Ausnahmefällen – um wie viel mehr dann in anderen – ist der geheime Ehebruch, den die ältere Moral verhältnismässig harmlos fand, aus dem Gesichtspunkte der neuen Sittlichkeit schlimmer als der offene Bruch. Denn die Persönlichkeit wird durch die Schwäche und den Trug erniedrigt, durch den man sich der Verantwortung für die Folgen seiner Handlungsweise entzieht. Und dies verringert ausserdem den Lebenswert der Liebe für die Menschheit. Die neuen Lebensversuche, die offen geschehen, können eine Bedeutung für die Persönlichkeit selbst und für die Gesellschaft erlangen, die die geheimen Übertretungen in den meisten Fällen niemals haben können.

Ein Dichter oder Künstler hat z. B. eine Frau, über deren Unzulänglichkeit für ihn alle einig sind – solange er sie noch hat. Mit einem Male findet er den Raum, der öde und leer war, von einer neuen Schöpfung erfüllt; die Luft klingt und leuchtet von Liedern und Bildern. Er fühlt nicht nur seine entschlummerten Kräfte erwachen, nein, er weiss, dass die grosse Liebe in ihm Kräfte erweckt hat, die er nie geahnt; er erkennt, dass er nun bewältigen wird, was er früher nie vermochte. Er folgt dem Lebenswillen seiner Liebe. Und er tut recht. Denn die unverbrüchlich gehaltenen Ehen haben allerdings viele kulturelle Werte eingeschlossen. Aber nicht ihnen schulden Poesie und Kunst den grössten Dank. Ohne die »unglückliche« oder »sündige« Liebe wären alle Schönheitswerke der Welt in diesem Augenblick nicht nur unendlich weniger an der Zahl, sondern hauptsächlich unendlich dürftiger. Ja, die ganze Welt des Geistes dürfte sich nach einer solchen Ausschliessung so ausnehmen, wie eine der vom Boden bis zur Decke mit Fresken geschmückten Kirchen nach dem reformierten Weisstüncheeifer!

Aber vor einer Wahl wie der eben erwähnten, ist die allgemeine Meinung immer noch überzeugt: dass das Leid der für das Ganze bedeutungslosen Frau als das Grosse angesehen werden muss, das des für das Ganze bedeutungsvollen Mannes hingegen als das Unwesentliche!

Er, der den neuen Frühling erlebt, der in Liedern, Tönen, Farben erblüht, steigert doch das Leben Generation für Generation, Jahrhunderte nachdem der Mensch oder die wenigen Menschen, die durch ihn litten, längst aufgehört haben zu leiden!

Wer hätte gewonnen, was die Menschheit durch sein Seelenopfer verloren haben würde? Nicht die Frau, wenn sie ein Herz, nicht nur einen Stolz hatte, der leiden kann!

Nicht nur aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen, sondern auch aus dem der individuellen Lebenssteigerung, sollte man nicht alles Mitgefühl dem zuwenden, den man »gebrochen« nennt. Warum sieht man das Herz, das gebrochen wird, für so viel mehr wert an, als das eine oder die beiden, die das Leid verursachen müssen, um nicht selbst zugrunde zu gehen? Und warum will man nicht sehen, dass das Wesen, das man für gebrochen hielt, zuweilen ein neues und reicheres Glück findet? Aber vor allem, warum vergisst man stets, dass der Leidende durch den Schmerz oft ein grösserer Mensch wurde, als er es je in dem gesicherten Besitz seines »Eigentums« hätte werden können?

Anmerkung: Eine der stärksten literarischen Ausdrucksformen dieser Erfahrung ist »Heimkehr« in den »Tales of Unrest« des englischen Schriftstellers M. Conrad.

Es gibt andere Arten, von einem grossen Gefühl zu leben, ausser der, im gewöhnlichen Sinne dadurch glücklich zu sein.

Dies muss jedoch vor allem der bedenken, der, selbst gebunden, von einem neuen Gefühle ergriffen wird. Sind alle drei Teile grossgesinnt genug, so kommt es zuweilen so, dass das Gefühl sich in eine amitié amoureuse umwandeln lässt, die alle reicher und keinen unglücklich macht – allerdings auch keinen ganz glücklich.

Aber auch unter anderen Verhältnissen sollten die Menschen eingedenk sein: dass man nicht immer das besitzt, was man hat – und zuweilen das am sichersten sein eigen nennt, was man niemals besass!

Die Heiligkeit und Hoheit des eigenen Gefühls ist der unzerstörbare Teil eines Liebesglücks. Nicht mehr lieben können, ist der grösste Schmerz. Aber ebensowenig wie ein Mensch an und für sich weniger Liebe wert ist, weil er Liebe unerwidert lässt, ebensowenig wird er an und für sich weniger Liebe wert, weil seine eigene erloschen ist.

Wirklich vernichtet kann also nur der sich fühlen, der einzig und allein das Mittel für die Lust oder das Spiel, die Entwicklung oder Arbeit eines anderen war; ein Mittel, das weggeworfen wird, wenn es nicht mehr Nutzen oder Genuss zu bereiten vermag. Der Mensch, der so um die Liebe betrogen wurde, entweder weil sie niemals da war oder später fortgelogen wurde; der Mensch, der die Persönlichkeit, die er liebte, als etwas anderes entschleiert sieht, als das, was er zu lieben glaubte – dieser Mensch muss seine ganze Seelenmacht dafür einsetzen, seine Seele davor zu behüten, verringert, verbittert, zerstört zu werden. Denn alle anderen grossen Schicksalsschläge können so getragen werden, dass der Mensch unter ihnen wächst. Aber den Glauben an einen Menschen verlieren, das ist die grösste Qual von allen, weil sie zugleich die unfruchtbarste ist; weil sie in keiner Hinsicht die Seele vergrössert oder das Dasein steigert.

Aber selbst aus diesem Leid kann die Seele sich schliesslich durch das Bewusstsein erheben: dass sie selbst einen zu grossen Wert hat, um sich durch die Niedrigkeit oder Kleinheit eines anderen vernichten zu lassen. Nur wer den Kampf in allen Schrecknissen der Wüstennacht allein ausgekämpft hat, weiss, was Sonnenaufgang ist. Jahre oder Jahrzehnte später kann es einem solchen Menschen, der mit einem Schlage alles verlor – die Heiligkeit seiner Erinnerungen, den Inhalt seiner Erlebnisse, den Glauben seiner Liebe – widerfahren, dass er an sich selbst die Wahrheit der Mahnung Spinozas erlebt: die Handlungen eines Menschen weder zu belächeln, noch zu beweinen, zu vergöttern oder zu verfluchen, sondern nur zu versuchen, sie zu verstehen. Und dann beginnt für ihn eine schwere und grosse Arbeit, die vielleicht erst mit dem Leben zu Ende ist, die Arbeit, auch dieser anderen Seele in die Seele zu blicken; in der Perspektive der Entfernung das Verflossene wieder zu betrachten; sich selbst in seiner Begrenzung einzusehen ebenso wie den anderen in der seinen und so anfangen zu verstehen. Das ist die einzige Verzeihung, die es gibt.

Aber so kann schliesslich der einmal im lebendigen Leben tote und begrabene Mensch über seinem Grabe das Gras grün wachsen und die Sonne scheinen fühlen.

Wenn dies Wahrheit werden kann – und es ward für viele Menschen Wahrheit, die andere für zerschmettert hielten – um wie viel mehr kann es dann für jemanden wahr sein, der einmal wirklich reich war und dem nie sein grösster Reichtum, die Herrlichkeit seiner eigenen Liebe, geraubt wurde?

Eine Frau z. B., die Jahrzehnte ihres Lebens ein volles Glück besessen hat, die dadurch Mutter geworden ist – ihr sollte alles geraubt sein, wenn dieses Glück aufhört?!

Es gibt doch noch immer anderer Glück, um ihm zu dienen, anderer Leiden zu lindern, die grossen Ziele der Menschheit zu fördern! Für so manchen, der nie ein eigenes Glück besessen, muss doch all dies Trost genug sein! Aber wir urteilen über das Glück wie über den Reichtum. Dass unzählige Menschen täglich vor Not vergehen, rührt uns wenig. Aber wenn einer unserer Freunde aus dem Reichtum in die Armut gestürzt wird, scheint uns das entsetzlich. Dass dieser vielleicht durch die Armut eine Entwicklung nimmt, die der Reichtum ihm nicht geben konnte; dass der vom Schicksal Geplünderte sich ein neues Vermögen schaffen kann, das vergisst man.

Das Leben hat unzählige Möglichkeiten, ebenso wie unzählige Widersprüche. Es ist erfüllt von geheimen Heilkräften wie von verborgenen Todeskeimen. Und – endlich – es ist noch sehr ungewiss, ob nicht die beiden, die zusammenbleiben oder zusammenkommen, die »Zerrissenen« werden – während der im ersteren Falle für die Ehe, im letzteren für die Liebe Geopferte ganz verbleibt.

Denn das Lieben ist ein Heilkraut auch für die Wunden, die die Liebe schlägt. Nur eines kann ein Liebender nicht ertragen, die geliebten Wesen leiden zu sehen. Selbst schweigend fortgehen, um ihnen Qual zu ersparen, das kann eine grosse Liebe. Und dies bedeutet nicht, dass zahme Resignation den roten Strom des Bluts mit Wasser verdünnt. Es bedeutet, dass die Liebe so gross geworden ist, dass sie Ernst mit den grossen Worten macht, die das Glück so leicht ausspricht: dass Qualen, die das geliebte Wesen bereite, köstlicher seien als Freuden, die ein anderer bringe. Wenn die Liebe die Macht geworden ist, in der ein Mensch lebt, sich bewegt und sein Wesen hat, so erfüllen sich die Worte des Korintherbriefes von der Liebe in schönerer Weise, als Paulus sich träumen liess. Die grosse Liebe liebt nicht nur um zu lieben; sie erreicht das Unglaubliche: das geliebte Wesen mehr zu lieben als ihr eigenes Gefühl. Wenn es gälte, diesem anderen ein vollkommeneres Glück zu bereiten, würde diese Liebe ihre eigene Flamme dämpfen können und damit die Fülle von Qual und Freude, die das Leben aus diesem Gefühle geschöpft hat. Frauen bringen zuweilen ein solches Opfer. Hier und da vermochte es ein Mann. Aber wer diese Höhe des Gefühls erreicht hat, lebt ein so wunderbares Leben, dass das Glück, das die beiden Vereinten geniessen, ausserordentlich sein muss, damit nicht diese Reichen tatsächlich die Armen sind.

Wenn es den Menschen einmal in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass niemand beglückt werden kann, ohne zu fühlen, dass er selbst beglückt; dass nur die höchste Kraftentwicklung des eigenen Gefühls das unvergängliche Glück ist alles andere Glück Gnade, nicht Recht – dann wird es jedenfalls weniger »Zerrissene« geben, wenn auch nicht mehr Glückliche!

Aber so ist noch die Liebe, so die Männer, so die Frauen, so die Menschen um sie, dass man einem gebundenen Manne oder einer gebundenen Frau lieber die Stärke wünscht, ihre Ehe zu tragen, als die Stärke, sie zu brechen, wenigstens wenn sie Kinder haben, die die unberechenbaren Möglichkeiten ihrer Liebesschicksale mit ihnen teilen müssten. Vor diesen wird man, wenn je von dem Gefühle ergriffen, das das bretagnische Fischerlied ausdrückt:

... la mer est grande, et ma barque est petite ...

Wie oft ist nicht das kleine, den letzten Reichtum des Lebens tragende Boot auf dem weiten Meere verschwunden?

Möge darum niemand dort seine Lust suchen, sondern einzig und allein sein Leben.

Dass unsere Handlungen auf erotischem Gebiete – wie auf jedem anderen – die Urteile anderer hervorrufen müssen, ist ebenso unvermeidlich, wie dass unsere Gestalt von der Spiegelfläche zurückgeworfen wird, an der wir vorbeigehen. Aber die allgemeine Meinung ist ein konvexer Spiegel, eine von Vorurteilen angeschwollene Kugel, die das Bild verzerrt. Nur eine klare und stille Seele gibt ein richtiges Bild der Handlung eines anderen.

Und vor einer solchen Seele wird es sich nicht selten zeigen, dass das »Verbrechen« für die eine Natur das richtige war, für die andere nicht. Diese letztere fühlte, dass ihr innerstes Wesen verletzt würde, wenn die Treue gegen die Vergangenheit nicht bis zum äussersten bewahrt bliebe – und entschied sich dafür, ihre erotischen Kräfte welken zu lassen, um nur durch den Pflichtwillen zu leben. Von dieser Art von Selbstmördern gilt dasselbe wie von den leiblichen: die einen sind grosse Seelen, die andern grosse Schwächlinge. Ja, dasselbe Opfer kann zu einer Zeit unseres Lebens sublim, zu einer anderen schmachvoll sein!

Das Leben zeigt uns nie »die Ehe«, nur unzählige verschiedene Ehen; niemals »die Liebe«, nur unzählige Liebende. Wer auf diesen Gebieten ein Ideal aufstellt, muss sich darum begnügen, möglicherweise auf die Zukunft zu wirken, aber darf das Ideal nicht als Urteilsspruch auf die Gegenwart anwenden. Ja, er darf nicht einmal für die Zukunft die Alleinherrschaft seines eigenen Ideals wollen, da der Niedergang des Mannigfaltigen zu dem Gleichartigen ein Zurückgehen der Entwicklung sein würde.

Das Streben der Gesellschaft, des Lebens unendliche Menge von verschiedenen Fällen unter denselben Verhältnissen oder desselben Falles unter verschiedenen Verhältnissen, desselben Einflusses auf verschiedene Persönlichkeiten oder derselben Persönlichkeiten unter verschiedenen Einflüssen in eine einzige Idealform zu pressen, ist auf dem Gebiete der geschlechtlichen Sittlichkeit eine ähnliche Vergewaltigung gewesen, als wenn man für alle Gestalten Polyklets Kanon der Schönheitsmasse festgestellt hätte. Die Torheit wäre im letzteren Falle augenscheinlich. Aber Gewalttaten gegen Seelen sind nicht so augenscheinlich. Darum werden sie noch immer gesetzlich geschützt!

Erst wenn die Verschiedenheit der Seelen einmal für unsere Begriffe eine ebenso wirkliche Wahrheit wird, wie die der Gestalten, wird man einsehen, dass die Monogamie von allen Dogmen dasjenige war, das die meisten Menschenopfer gefordert hat. Man wird einmal zugeben, dass die Autodafés der Ehe ebenso wertlos für die echte Sittlichkeit waren, wie die der Religionskämpfe für den echten Glauben!

Die Grossinquisitoren der Vergangenheit glichen vermutlich denen der Gegenwart darin, dass sie – vor einen bestimmten Fall in ihrem eigenen Familien- oder Freundekreis gestellt – recht leicht mildernde Umstände fanden, die sie sonst nicht gelten liessen. Aber man muss einsehen lernen, dass jeder Fall ein besonderer Fall ist und dass darum zuweilen eine neue Regel – nicht nur eine Ausnahme von einer alten Regel – notwendig wird. Man darf nicht länger dieses zweierlei Mass für Bekannte und Unbekannte, für Freunde oder Feinde, für die Literatur oder das Leben aufrechterhalten. Es muss von einem ernsten Willen zu echter Sittlichkeit abgeschafft werden.

Dieses zweierlei Mass zeigt jedoch, dass man auch unter den Dogmatikern der Monogamie anfängt einzusehen, wie undenkbar es ist, eine für alle geltende monogamische Moral durchzuführen. Aber das Streben, doch im grossen Ganzen dieses Undenkbare zu erreichen, steht immer noch dem Denkbaren im Wege, das rings in der Welt aufkeimt, der Erreichung der Sittlichkeit der Liebe.

Obgleich das neue Leben schon seine Stärke zeigt – gleich den Frühlingsblumen, die durch den rostbraunen Laubteppich des Vorjahres dringen – müssen doch die welken Blätter aus dem Wege geräumt werden, denn erst dann tritt der Duft der fruchtbaren Erde ganz hervor, und es wird Platz für den neuen Frühling. Und nur die, welche nicht schon des neuen Lenzes Macht in der Luft verspüren, fürchten, dass die Erde des welken Schutzes nicht entraten könne.

Anmerkung: Es ist bezeichnend, dass in Europa gerade Frankreich in erster Linie die Forderung der freien Scheidung aufstellt. Der internationale radikale Frauenkongress in Paris im Jahre 1900 hatte eine Resolution angenommen, die verlangte, dass die Ehetrennung schon auf das Verlangen eines Teils bewilligt werde, wenn drei Jahre langdaran festgehalten wird. Die zwei französischen Schriftsteller Paul und Victor Margueritte haben heuer oder voriges Jahr diese Resolution aufgenommen und in einem Roman – Les deux vies – einer Broschüre und einer Petition dieselbe Forderung an die Kammer gestellt. Sie sagen in der letzteren: »Nach zweijährigem Studium sind wir von der Notwendigkeit der Reform überzeugt. Jetzt wird die Ehescheidung nur auf Grund von bewiesenem Ehebruch, entehrenden Strafen, Brutalität u. dgl. bewilligt. In allen diesen Fällen hängt die Bewilligung von der augenblicklichen Stimmung des Gerichtshofs ab. Die Urteile widersprechen einander. Unheilbare oder widerwärtige Krankheiten, verschiedene religiöse Anschauung, unüberwindlicher Widerwille gelten nicht als Scheidungsgrund. Wir verlangen die Ehescheidung, sowohl wenn beide Gatten, wie wenn einer derselben sie wünscht. Man braucht nicht zu fürchten, dass die Frauen hierbei den Kürzeren ziehen werden. Bisher haben nämlich gerade die Frauen die meisten Ehescheidungen verlangt.« In der Broschüre »L'élargissement du divorce« verlangen die Verfasser zivile Ehescheidung, wobei eine Magistratsperson und ein Vertreter jedes Ehegatten zu fungieren hätten. Keine öffentliche Verhandlung, kein Ausbreiten der inneren Geschichte der Ehe vor dem Gericht. Nur die Ordnung der Vermögensverhältnisse soll der Gegenstand der rechtlichen Amtshandlung sein, und die ganze Scheidungsangelegenheit soll rasch und zartfühlend abgewickelt werden. Es ist von Interesse, neben diese Forderungen Ernest Legouvés Aussprüche in seiner »Geschichte der Frau« zu stellen, die während des zweiten Kaiserreichs geschrieben wurde: »Was verschuldet im Volke so viele wirkliche Doppelehen? Die Unlösbarkeit. Was trägt die Schuld daran, dass man unter acht Arbeitern immer wenigstens zwei trifft, die zwei Haushalte haben? Die Unlösbarkeit. Was trägt Schuld, dass die Anzahl der unehelichen Kinder immer steigt? Die Unlösbarkeit. Was vermehrt die Anzahl der Kinder in der Familie, die aus dem Ehebruch der Frau geboren sind? Die Unlösbarkeit. Was schürt den Hass zwischen den Gatten? Die Unlösbarkeit. Was führt zum Mord, oft an mehreren Personen? Die Unlösbarkeit ...« Ein anderer französischer Schriftsteller, Emile de Giradin, hat schon lange vor den Brüdern Margueritte die Sache der Freiheit in der Ehe in »La liberté dans le mariage« geführt, ferner in »L'homme et la femme« zusammen mit der – gegen Alexandre Dumas' des jüngeren Schrift »L'Homme-femme« gerichteten – Abhandlung »L'homme suzerain, la femme vasalle« herausgegeben. In den grossen Kulturländern Europas wie in Amerika hat die Frage im neunzehnten Jahrhundert viele Schriften hervorgerufen, besonders von sozialistischer und anarchistischer Seite, wo auch die »freie Liebe« in einigen Versuchsgemeinwesen probiert wurde – mit den schlechten Folgen, die unter solchen Verhältnissen naturnotwendig eintreten müssen. Eine der frühesten Frauenschriften für die Scheidung dürfte wohl Mary Wolstonecrafts letzte unabgeschlossene Novelle sein. Eine der einflussreichsten ist Tschernischeffskys Roman »Was tun?«

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