Ein neues Ehegesetz

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass als die ideale Form der Ehe die ganz freie Vereinigung zwischen einem Manne und einer Frau betrachtet wird, die durch ihre Liebe einander und die Menschheit beglücken wollen.

Aber da die Entwicklung keine Sprünge macht, kann niemand hoffen, dass die ganze Gesellschaft dieses Ideal anders erreicht als in und durch Übergangsformen. Diese müssen die Eigenschaft der alten Form bewahren: die Meinung der Gesellschaft über die Sittlichkeit des Geschlechtsverhältnisses auszudrücken, und so eine Stütze für die Unentwickelten bilden, aber gleichzeitig frei genug sein, eine fortgesetzte Entwicklung des höheren erotischen Bewusstseins der Gegenwart zu fördern. Der moderne Mensch hält sich in dem Sinne für selbstherrlich, dass keine göttliche oder menschliche Gewalt, die über der vereinigten Machtausübung der Individuen selbst steht, die Gesetze geben kann, die seine Freiheit binden. Aber er gibt die Notwendigkeit freiheiteinschränkender Gesetze zu, wenn diese eine vollkommenere künftige Ordnung für die Befriedigung der Bedürfnisse der Individuen mit sich bringen, eine vollere Freiheit für den Gebrauch ihrer Kräfte. Die Erkenntnis der jetzigen erotischen Forderungen und Kräfte der Individuen muss folglich der Ausgangspunkt für ein modernes Ehegesetz sein, nicht aber irgendwelche abstrakte Theorien von der »Idee der Familie« oder rechtswissenschaftliche Rücksichten auf die »historische Entstehung« der Ehe.

Anmerkung: Man sehe die »Entwicklungslinie der geschlechtlichen Sittlichkeit«.

Da, wie schon hervorgehoben wurde, die Gesellschaft die Organisation ist, welche entsteht, wenn Menschen sich in Bewegung setzen, um gemeinsam ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Kräfte auszuüben, muss sie auch in unablässiger Umgestaltung begriffen sein, je nachdem neue Bedürfnisse entstehen, neue Kräfte sich entfalten. Dies ist jetzt auf dem Gebiete der Erotik geschehen, besonders seit die Gefühlsbedürfnisse und Seelenkräfte, welche früher von der Religion Nahrung erhielten und auf sie gerichtet waren, nun von der Liebe Nahrung erhalten und auf sie gerichtet sind.

Aber während der Individualist sich nur mit der vollen Freiheit der Liebe begnügen kann, zwingt ihn das Solidaritätsgefühl doch bis auf weiteres, ein neues Gesetz für die Ehe zu fordern, da die Mehrzahl noch nicht für die vollkommene Freiheit reif ist.

Das Solidaritätsgefühl und der Individualismus haben gleich starke Gründe, die jetzige Ehe zu verurteilen. Sie zwingt Menschen, die selten ideal sind, eine Einheit auf, in die man sich nur durch ein ideales Glück schicken kann. Sie erfüllt ihre eine Aufgabe – die Frau zu schützen – in einer für deren Menschenwert jetzt erniedrigenden Weise. Sie erfüllt ihre zweite Aufgabe – die Kinder zu schützen – höchst unvollkommen. Sie erfüllt ihre dritte Aufgabe – ein Ideal für die Sittlichkeit des Geschlechtsverhältnisses aufzustellen – so, dass sie eine fortgesetzte Entwicklung der Sittlichkeit hindert.

Realistisch gesehen, worin besteht für die Frau der Wert der Ehe?

Darin, dass das jetzige Gesetz den Mann zwingt, die Frau und die in der Ehe geborenen Kinder zu versorgen, und dass es ihr beim Tode des Mannes einen Vermögensanteil und den legitimen Kindern ihr Erbrecht sichert. Aber diese ökonomischen Vorteile bezahlt sie mit dem Rechte über ihre Kinder, ihr Eigentum, ihre Arbeit, ihre Person, das sie als Unverheiratete besessen hat. Selbst wenn ein Ehekontrakt geschlossen wurde, kann der Mann – als Vormund und Verwalter des Vermögens der Frau – dieses sowie ihren Arbeitsverdienst vergeuden; er kann ihr verweigern, was sie persönlich braucht; kann ihr die Ausübung eines Berufes verbieten oder die Werkzeuge für dessen Ausübung verkaufen. Als juristische Person ist sie ihren unmündigen Kindern gleichgestellt; der Mann hat sie zu vertreten und für sie zu haften, und sie kann gewisse bürgerliche Funktionen gar nicht, andere nur mit Einwilligung des Mannes ausüben, während sie sie als Mädchen frei erfüllen konnte.

Was die Kinder betrifft, so macht das Gesetz die ausserhalb der Ehe Geborenen ganz rechtlos, bis auf eine unzulängliche Alimentation, falls der Vater sich nicht auch davon losschwört. Für die Wohlfahrt des kommenden Geschlechts sorgt das Gesetz nur unvollständig: es schränkt die Ehebewilligung bei gewissen Verwandtschaftsgraden ein, verweigert sie bei gewissen Krankheiten und setzt ein minimales Heiratsalter für Mann und Frau fest.

Schliesslich bindet die Ehe die Frau an den Mann und ihn an sie, dadurch dass die Scheidung nicht von einem allein ohne Einwilligung des anderen erlangt werden kann, falls sich nicht gewisse Missstände oder Verbrechen beweisen lassen. Selbst wenn ein Ehepaar sich über die Scheidung einigt, hat diese eine peinliche Prozedur für beide Eheleute und schlechte Garantien für die Wohlfahrt der Kinder zur Folge. Verweigert der Mann seine Einwilligung zur Scheidung, so kann die Frau – durch die erwähnte, oft unmögliche Beweispflicht – gezwungen werden, bei einem Manne zu bleiben, den sie verachtet, weil sie nur so ihre Kinder behalten und ihren Lebensunterhalt fristen kann. Wenn der Mann nicht mehr dazu taugt, ihr diesen zu schaffen; wenn er vielleicht die ihr gehörigen Mittel, womit derselbe bestritten werden sollte, durchgebracht hat, ja, wenn die Frau sogar durch ihre Arbeit ihn, sich selbst und die Kinder erhält, so behält er doch noch immer dieselbe Macht über Beide!

Die unverheiratete Frau hingegen, die ihre Liebe »frei« gab – das heisst ohne gesetzlichen Ersatz in Form des Rechtes auf Versorgung – behält volle Gewalt über ihre Kinder, persönliche Freiheit, Selbstbestimmung, Verantwortung und Bürgerrecht. Sie behält, mit anderen Worten, alles, was ihr eine menschenwürdige Stellung in der Gesellschaft gibt – verliert aber die Achtung der Gesellschaft und die ökonomische Sicherheit! Die verheiratete Frau verliert hingegen alles, was für ein Mitglied der Gesellschaft Bedeutung hat, aber – erhält die gesellschaftliche Achtung, eine Art Erbrecht und Unterhalt!

Die Gesellschaft hat es der Frau wahrlich nicht leicht gemacht, ihre »natürliche Aufgabe« zu erfüllen! Dass sie es doch – unter der einen oder anderen dieser Alternativen – noch gerne tut, spricht dafür, dass sie die stärkste Forderung ihrer Natur sein muss. Werden andere Bedürfnisse stärker – wie sie es schon bei vielen Frauen sind – dann müssen die Bedingungen in beiden Fällen unannehmbar erscheinen! Und da sich die neuen Frauen noch weniger mit den beiden anderen Extremen – lebenslänglicher Askese oder Prostitution – zufrieden geben dürften, ist eine neue Ehe für sie eine Lebensbedingung geworden.

Das geltende Ehegesetz ist eine geologische Formation mit Ablagerungen aus verschiedenen, jetzt abgeschlossenen Kulturstadien. Nur unsere eigene Epoche hat wenige und bedeutungslose Spuren darin hinterlassen.

Unsere Zeit hat eingesehen, dass die Liebe die sittliche Grundlage der Ehe sein soll. Und Liebe ruht auf Gleichstellung. Aber das Ehegesetz entstand, als die Bedeutung der Liebe noch nicht erkannt war. Es beruht daher auf der Verschiedenheit zwischen einem Herrscher und einem Untertanen.

Unsere Zeit hat der unverheirateten Frau die Möglichkeit des Erwerbs und der bürgerlichen Rechte gegeben. Aber das Ehegesetz entstand in einer Zeit, als alle Frauen dies entbehrten. Die verheiratete Frau erhält folglich jetzt durch dieses Gesetz eine Stellung, die in schneidendem Gegensatz zu der der unverheirateten Frau mit ihrer nun errungenen Selbständigkeit steht.

Unsere Zeit hat die uralte Arbeitsteilung erschüttert, nach der die Frau die Kinder betreute, der Mann den Unterhalt herbeischaffte. Aber das Ehegesetz entstand, als diese Teilung in voller Kraft war und es der Frau folglich fast unmöglich war, anderswo als in der Ehe Schutz für sich und für ihr Kind zu finden. Nun hat die Gesellschaft angefangen, unverheirateten Müttern solchen Schutz zu gewähren, und die Freiheitsbestrebungen, durch die die Frau den Schutz der Ehe erkauft, erweisen sich nicht nur als immer unwürdiger, sondern auch als unnötig.

Unsere Zeit hat mehr und mehr die Bedeutung jedes Kindes als eines neuen Teiles der Gesellschaft erkannt, und das Recht jedes Kindes, unter gesunden Bedingungen geboren zu werden. Aber das Ehegesetz wurde zu einer Zeit erlassen, als dies dem menschlichen Bewusstsein noch nicht aufgedämmert war; als das illegitime Kind, und war es noch so vortrefflich, als wertlos betrachtet wurde, das legitime hingegen als wertvoll, wenn auch erblich noch so belastet.

Unsere Zeit hat den Wert der persönlichen Wahl für die Sittlichkeit eingesehen. Sie erkennt nur die Handlung als wirklich ethisch an, die aus persönlicher Prüfung hervorgeht und mit Zustimmung des eigenen Gewissens geschieht.

Aber die Eheordnung entstand, als diese Souveränität des Individuums kaum geahnt, noch weniger erkannt war; als die Gesellschaftsmacht die Seelen knebelte, als der Zwang das einzige Mittel der Gesellschaft zur Erreichung ihrer Ziele war. Die Ehe wurde der Zügel, womit der Geschlechtstrieb gezähmt – oder mit anderen Worten – der Naturtrieb zu Gesellschaftsdienlichkeit veredelt wurde.

Nun hat sich die Liebe entwickelt, die menschliche Persönlichkeit hat sich entwickelt, die weiblichen Kräfte haben sich befreit.

Auf Grund der jetzigen selbständigen Tätigkeit und Selbstbestimmung der Frauen ausserhalb der Ehe muss diese der verheirateten Frau die Handlungsfreiheit der unverheirateten bewahren, indem sie ihr volles Verfügungsrecht über ihre Person und über ihr Eigentum lässt.

Auf Grund der Abneigung des Individuums, sich in religiöse Formen einzwängen zu lassen, die für es selbst keinerlei Bedeutung haben, muss die gesetzliche Form der Ehe überall bürgerlich werden.

Auf Grund des Willens des Individuums zu persönlicher Wahl bei seinen persönlichen bedeutungsvollen Handlungen, muss die Weiterführung der Ehe – wie ihre Schliessung – von jedem der Ehegatten abhängen und die Scheidung folglich frei werden. Und dies um so mehr, als der neue Reinheitsbegriff uns sagt, dass ein Zwang auf diesem Gebiete Erniedrigung ist.

Dies sind die Forderungen, die der moderne Mensch an die Eheform stellt, wenn sie seinen persönlichen Willen ausdrücken und das Wachstum seiner Persönlichkeit fördern soll. Die jetzige Ehe bringt hingegen Formen mit sich, die sinnlos und daher widerwärtig geworden sind, und versetzt die Ehegatten gesetzlich gegenseitig in eine Stellung, die, ideal betrachtet, ebenso tief unter dem Werte und der Würde des modernen Mannes steht, wie faktisch unter dem Werte und der Würde der modernen Frau.

Während so die Entwicklung des Persönlichkeits- und Liebesbegriffes diese Forderungen einer erweiterten Freiheit für das Individuum in der Ehe herbeigeführt hat, treten hingegen der Solidaritätsbegriff und der Evolutionismus mit der Forderung grosser Freiheitseinschränkungen für die Einzelnen hervor. Die Überzeugung, dass jedes neue Wesen das Recht hat zu verlangen, dass das Leben für dasselbe ein wirklicher Wert sei – ebenso wie die Gesellschaft das Recht hat zu verlangen, dass die neuen Leben wertvoll seien – hat die Forderung hervorgerufen, den Ehen entgegenzuwirken, die für die Kinder gefährlich sein würden, und diese besser zu schützen, sowohl wenn keine Ehe geschlossen, wie wenn eine solche aufgelöst wird.

Der ökonomische Faktor hat in der jetzigen Gesellschaft eine Bedeutung für die Ehe, die als um so erniedrigender empfunden wird, je mehr man einsieht, dass die Ehe auf der Grundlage der Liebe aufgebaut sein soll.

Innerlich zerfallene Ehen werden oft aufrechterhalten, weil beide Eheleute durch die Scheidung in schlechtere materielle Verhältnisse geraten würden. Der Mann kann oder will der Frau nicht genug Unterhalt geben; er kann vielleicht ihr Vermögen, das in seinen Unternehmungen steckt, nicht losmachen; er hat es vielleicht aufgebraucht; die Frau hat bei der Schliessung der Ehe eine Arbeit aufgegeben, die sie jetzt vielleicht nicht wieder bekommen kann, um sich damit selbst zu erhalten, und so weiter ad infinitum.

Aber selbst glückliche Ehen werden durch die ökonomisch wie rechtlich untergeordnete Stellung der Gattin beeinträchtigt.

Anmerkung: Dieser Gesichtspunkt wurde von mir mehrere Male behandelt, speziell in der kleinen Broschüre »Eigentumsrecht und Mündigkeit«.

Sowohl in der glücklichen wie in der unglücklichen Ehe ist es daher von grossem Gewicht, dass die Frau über ihr Eigentum und ihren Verdienst verfügen kann, dass sie sich in dem Masse selbst versorgt, in dem sie dies mit ihren Mutterpflichten vereinigen kann und dass sie während der ersten Lebensjahre jedes Kindes von der Gesellschaft versorgt wird. Ähnliche Vorschläge sind von sozialistischer Seite wie auch von anderer gemacht worden, doch keiner in der hier unten angedeuteten Form.

Eine Frau sollte auf diese Unterstützung Anspruch erheben können, wenn sie bezeugen kann:

dass sie das Alter der Volljährigkeit erreicht hat;

dass sie ihre weibliche Wehrpflicht durch eine einjährige Ausbildung in Kinderpflege, allgemeiner Gesundheitspflege und – wenn möglich – Krankenpflege durchgemacht hat;

dass sie selbst das Kind pflegt oder ihm eine andere vollwertige Pflege verschafft;

dass sie nicht das genügende persönliche Vermögen oder Arbeitseinkommen besitzt, um ihren eigenen Unterhalt und die Hälfte des Unterhalts für das Kind zu bestreiten, oder dass sie sich um der Kinderpflege willen der Berufsarbeit ferne hält.

Die, welche sich den genannten Bedingungen nicht unterwerfen wollen, erheben keinen Anspruch auf dieses Gehalt, das selbstverständlich nicht grösser sein kann, als die Notdurft des Lebens es erheischt, und nur in Ausnahmefällen länger als während der drei ersten und wichtigsten Lebensjahre des Kindes ausbezahlt wird.

Die darauf Verzichtenden wären also in der Regel die Vermögenden oder diejenigen, welche sich selbst dem Erwerb widmen wollen und so ganz – oder nach dem ersten Jahre – von dieser Gesellschaftshilfe Abstand nehmen könnten. Die Massregel würde ihren Zweck in jenen Gesellschaftsklassen erfüllen, wo die Berufsarbeit der Mutter, auf dem Lande wie in der Stadt, für sie und die Kinder gleich gefährlich ist. Die Beiträge zu dieser wichtigsten aller Verteidigungssteuern müssten wie andere solche progressiv geleistet werden und so die Reichen am meisten treffen, die Unverheirateten aber im selben Grade wie die Verheirateten.

Die Aufsicht müsste von Kinderschutzbehörden ausgeübt werden, die in jeder Kommune in grösserer oder geringerer Anzahl je nach der Grösse der Kommune eingesetzt würden, aber immer aus zwei Dritteln Frauen und einem Drittel Männer bestehen müssten. Diese teilen die Unterstützung aus und beaufsichtigen nicht nur die Pflege der Säuglinge, sondern auch die der älteren Kinder. Die Mutter, die das Kind vernachlässigt, verliert nach drei Verwarnungen die Unterstützung, und das Kind wird ihr abgenommen. Das letztere gilt auch für andere Eltern, die ihre Kinder körperlich oder geistig misshandeln und vernachlässigen.

Das Gehalt der Mutter beträgt jährlich immer dieselbe Summe, aber für jedes Kind erhält sie ausserdem die Hälfte seines Unterhalts, falls nicht die Kinderzahl erreicht ist, die die Gesellschaft als die wünschenswerte ansieht. Die darüber hinaus geborenen Kinder sind die Privatsache der Eltern. Jeder Vater muss von der Geburt jedes Kindes an bis zum achtzehnten Lebensjahre die Hälfte zu seinem Unterhalt beisteuern. Die heutige Gesellschaft hilft dem Manne als Familienversorger in der Form von auf diese Ausgabe berechneten höheren Löhnen und Alterszulegen, die er jedoch einnimmt, gleichviel ob er verheiratet oder ledig, kinderlos oder Familienvater ist. Wenn man hingegen der Mutter die Unterstützung gäbe, würde jede Notwendigkeit verschiedener Löhne für dieselbe männliche oder weibliche Arbeit entfallen, und die Unterstützung würde wirklich den für die Gesellschaft bedeutungsvollen Zweck fördern: die Erziehung der Kinder.

Die jetzige Einrichtung erhält hingegen die roheste aller Ungerechtigkeiten aufrecht, den Unterschied zwischen legitimen und illegitimen Kindern; sie befreit unverheiratete Väter von ihrer natürlichen Verantwortung; sie treibt ledige Mütter zu unmittelbaren oder – durch die Engelmacherei – mittelbaren Kindermorden, in den Tod oder in die Prostitution.

Alle diese Verhältnisse würden durch das Gesetz geändert, das feststellte: dass jede Mutter unter gewissen Bedingungen ein Recht hat, in den Jahren, in denen sie die wichtigste Last für die Gesellschaft trägt, von der Gesellschaft erhalten zu werden; dass jedes Kind an seine beiden Eltern das Recht auf Unterhalt hat, das Recht auf den Namen beider und – in dem Masse, in dem das Erbrecht beibehalten wird – auf die Beerbung beider.

Da die Mutter immer häufiger ganz oder teilweise neben dem Manne Familienversorgerin sein muss, ist es schon aus diesem Gesichtspunkt gerecht, dass sie mit ihm die Autorität über die Kinder teilt. Aber weil sie überdies mehr für sie gelitten hat, sie also mehr liebt, sie also besser versteht – und also in der Regel nicht nur am meisten für sie getan hat, sondern auch am meisten für sie bedeutet – ist es zugleich gerecht, dass – während die Mutter sich jetzt mit der Macht begnügen muss, die der Vater ihr zugesteht – das Verhältnis umgekehrt wird, so dass die Mutter die höchste gesetzliche Gewalt erhielte.

Wenn der Mann nicht mehr allein die Bürde der Familienversorgung trägt, wird seine Erziehungspflicht auch eine Wirklichkeit werden können. Er kann dann die Zeit finden, seine Eigenschaften nach dieser Richtung zu entwickeln, und der wachsende Wert der väterlichen Fürsorge und väterlichen Liebe wird der Mutter die Erziehungsaufgabe erleichtern können, von der sie jetzt häufig überwältigt wird, weil ihr Verantwortlichkeitsgefühl immer bewusster, die Aufgabe aber bei ihrem zunehmenden Bedürfnisse nach persönlicher Bewegungsfreiheit immer schwerer zu erfüllen ist.

Für die Notdurft des Lebens wären also Mutter und Kind nicht mehr ausschliesslich auf den Mann angewiesen, und sie könnten durch seine Untüchtigkeit oder Verkommenheit nicht ganz der Not preisgegeben sein. Aber er würde doch auch fernerhin seine Hälfte der Verantwortung tragen, und die Familie würde auch weiter, was einen grossen Teil der Annehmlichkeiten des Lebens betrifft, vom Vater und seinen freiwilligen Leistungen abhängen, während ihm doch die oft unerträglichen Bürden abgenommen würden, unter denen seine geistige Bedeutung als Vater, sowie seine Familienfreuden nun in so hohem Grade leiden. Weit davon entfernt, dass die Mehrzahl der Männer – wie man es von gewissen Frauen schildern hört – nur Egoisten gewesen sind, trugen und tragen noch unzählige von ihnen Sklavenlasten nicht nur für Frau und Kinder, sondern auch für den Unterhalt anderer weiblicher Anverwandten. Andererseits hat die herrschende Gesellschaftsordnung die Väter aufgepeitscht, sich in noch härtere Arbeitssklaverei zu stürzen, um ihren Kindern eine Vorzugsstellung zu sichern. Das jetzige Vaterrecht und die Vaterpflicht stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erbrecht, einer der grössten Gefahren unserer Gesellschaftsordnung. Das Erbrecht erhält nämlich oft die Untüchtigkeit in einer leitenden Stellung, die Tüchtigkeit in einer abhängigen; es begünstigt die Möglichkeit der Entarteten, die Gattung fortzupflanzen, vor allem wenn die Eltern frühzeitig gestorben sind, obgleich – wie schon dargelegt – gerade diese Kinder oft die hierzu am wenigsten geeigneten sind. Es erschwert hingegen die Chancen der Lebenstüchtigen in dieser wie in allen anderen Richtungen, in denen die Geburt in der Armut die Ausbildung und den Gebrauch der persönlichen Kräfte hindert, den der Reichtum bietet. Andrerseits ist die Armut der natürlichen Begabung insofern günstig, als sie die Kräfte anspannt, während es hingegen das Unglück der reichen Erben ist, dass sie selten diese kraftanspornende und lustschaffende Spannung erfahren. Nur die stärksten oder feinsten Naturen werden durch die Vorteile und das Verantwortlichkeitsgefühl, das ein ererbter Reichtum mit sich bringt, stärker und feiner. Im grossen Ganzen würden sich die produktiven Kräfte der Gesellschaft nach oben wie nach unten vervielfältigen, wenn der Reichtum im vollsten Sinne des Wortes persönlich würde, abhängig von der Tüchtigkeit, der Kraftleistung jedes Menschen; und dem Erwerbsfieber wäre der Stachel genommen durch die Einschränkung der Möglichkeit, den Reichtum zu steigern, und dadurch, dass es überflüssig würde, das Dasein der Kinder zu sichern. Eine solche neue Ordnung würde die Notwendigkeit aufheben, vom Staate Gehaltszulagen für die standesgemässe Erziehung der Kinder zu erhalten. Denn wenn alle Kinder dadurch gleichgestellt werden, dass die Gesellschaft alles bezahlt, – von den Schullernmitteln bis zu Studien- und Reisestipendien – um die Körper- und Seelenkräfte der Individuen voll auszubilden, eine Ausbildung, bei der eine wirkliche Standeszirkulation stattfindet, weil nur auf die Anlagen Rücksicht genommen würde; wenn jeder so beim Eintritt in die verschiedenen Arbeitsgebiete dieselbe Stellung hätte; jeder dieselbe Möglichkeit, es dort zum richtigen Gebrauch seiner besonderen Kräfte zu bringen, weil ihm alle Mittel zu deren Ausbildung zu Gebote stünden; wenn die Gesellschaft – als Recht, nicht als Wohltat – jedem Arbeitenden volle Pflege in der Krankheit und vollen Unterhalt im Alter gäbe, dann würde der Eifer verschwinden, die eigenen Kinder auf Kosten der Übrigen zu begünstigen. Der Vater, dessen Kraftentwicklung ihm eine Machtstellung verschafft hätte, die bei seinen Lebzeiten die Lebensbedingungen seiner Kinder günstiger gestalten würde als die vieler anderer, könnte so allerdings – und zwar zum Besten des Ganzen – seinen Kindern die Differenzierung und Verfeinerung zugänglich machen, die z. B. die reichere Kultur eines Heims geben kann. Aber er könnte, wenn das Erbrecht aufgehoben – oder wenigstens stark eingeschränkt und besteuert – würde, sie nicht davon befreien, sich durch den Einsatz eigener Kräfte dauernd der Werte höherer oder niederer Art zu versichern, die sie im Heim schätzen gelernt haben.

Und wenn der Unterschied zwischen den legitimen und den illegitimen Kindern in jeder Beziehung aufgehoben wird, dann dürfte das Vaterheim wie in der Antike oder in unserer nordischen Vorzeit öfter als jetzt Kinder von mehr als einer lebenden Mutter beherbergen; zuweilen auch ein Mutterheim Kinder von mehr als einem lebenden Vater. In jedem Falle wäre dies eine Berücksichtigung der Rechte der Kinder, die die heutige Behandlung der ausserehelichen Kinder weit hinter sich lassen würde!

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