Die Evolution der Liebe

Wenn die Stimme die Seele verrät, so verrät das Lied die Volksseele. Dass die schwedische nicht erotisch ist, davon wird man schon durch die Eigentümlichkeit überzeugt, dass keiner unserer grossen Liederdichter ein grosser Erotiker ist.

Atterboms in mystischen Räumen vertönende Liebeslyrik ist jedoch der Gefühlsstimmung der beiden Schweden verwandt, die vor allen anderen in der Liebe die grosse Lebensmacht gesehen haben, Swedenborg und Almquist. Auf der einen Seite von ihnen finden wir Thorild, auf der anderen Hvasser, beide ernste Denker über das Weib und die Liebe. Aber keiner dieser vier – unter einander sehr verschiedenen – Verkünder der Liebe erlangte für die erotische Kultur in Schweden eine Bedeutung, die sich z. B. mit der Kierkegaards in Dänemark vergleichen liesse. Mit der Bergmannsnatur des Genies holte er aus einer kurzen gelösten Verlobung Erfahrungen hervor, die eine unerschöpfliche Goldgrube für die Verkündigung der »ästhetischen Gültigkeit der Ehe« wurden. Gleichzeitig gab Christian Winther in den Liedern »An Eine« dem erotischen Einheitsgefühl eine der schönsten Ausdrucksformen in der Weltliteratur.

Nicht einmal die schwedischen Schriftstellerinnen, die jede auf ihrem Gebiete am höchsten stehen – Frau Lenngren, Friederike Bremer und Selma Lagerlöf – haben das erotische Bewusstsein vertieft. Und bei unseren lyrischen Dichtern findet man die persönlichkeitserfüllte Erotik nur als Sehnsucht oder Möglichkeit. Sie leuchtet wie ein Sonnenstrahl oder ein Blitz oder ein einsamer Stern bei unseren grössten Lyrikern auf.

Und unter den jetzt Lebenden liessen sich auch einzelne Beweise gegen eine Behauptung anführen, die doch im ganzen wahr verbleibt: dass die Liebe für die schwedischen Dichter der schöne Traum des Frühlings oder die milde Wärme des traulichen Heimgefühls ist; die stille Opferflamme der Resignation oder der heisse Brand des Blutes, ein Teil des Lebens, und nur selten das Leben des Lebens, die Wirklichkeit der Wirklichkeiten. Was die Ursache auch sein mag, ob – in erotischer Beziehung – leichterer Sinn und kälteres Herz oder trägerer Sinn und trockenere Seele als bei den übrigen Germanen, sicher ist, dass eine atemlose, unauslöschliche Leidenschaft, die das Leben freudvoll und leidvoll macht, die der Mittelpunkt wird, um den die Persönlichkeit sich bewegt, die all ihre Kräfte steigert und die Synthese all ihrer Daseinsformen ist, dass eine solche Liebe ein unbekannter und – wenn man ihr begegnet – ein schwer fassbarer Begriff für das schwedische Temperament ist. Alle wissen, dass diejenigen, welche behaupteten, dass die Erde sich um die Sonne dreht, nicht die Sonne um die Erde, als Toren belächelt oder als Ketzer behandelt wurden. In gleicher Weise begegnen noch sogar schwedische Denker und Dichter – und mit ihnen viele, die weder dichten noch denken – jemandem, der behauptet, dass die Begierde sich um die Liebe bewegt, nicht die Liebe um die Begierde.

Ebenso zurückgeblieben wie die Schweden, verglichen mit einer Anzahl anderer Germanen, in ihrer Auffassung von »l'amour passion« sind, ebenso zurückgeblieben sind die Germanen im Verhältnis zu den Höchststehenden der romanischen Völker. Das gallische Gegenstück der lutherischen Ehelehre findet man bei einem anderen Mönche, Luthers Zeitgenossen, Rabelais, in seinem fröhlichen Vorschlag eines neuartigen Klosters, wo jeder Mönch seine Nonne hätte und diese Liebespaare nach einem Probejahre geschieden werden könnten, ein Plan, der vielleicht kein sehr viel längerer Umweg für die Erziehung der Menschen zur Liebe geworden wäre, als es die lutherische Ehelehre wurde?! Nichts ist weniger wahr, als dass die Reformation die Achtung vor der Liebe und der Frau gehoben hat. Sie hob das Ansehen des ehelichen Standes gegenüber dem ledigen, aber sie steigerte weder die Bedeutung der Frau in der Ehe, noch die Bedeutung der Liebe für die Ehe. Schon im Mittelalter bringt der Romane der Frau eine Huldigung dar, die noch heute dem germanischen Manne beinahe unfassbar ist. Und wenn diese Huldigung einerseits die Form des dem Romanen im Blute liegenden Venuskult annahm, drückt sie andererseits durch den Marienkult ihre Ehrfurcht vor dem Tiefst-Weiblichen, vor der Mütterlichkeit, aus. Noch heute wird die französische Frau nicht nach ihren Lebensjahren, sondern nach ihren Eigenschaften bewertet. Nicht nur die Mütter beten dort ihre Söhne an, sondern auch diese ihre Mütter. Aber nicht nur der Mutter, sondern neben ihr jeder liebenswürdigen gealterten Frau wird im Gesellschaftsleben wie in der Familie von Männern jedes Alters Aufmerksamkeit gezollt. Die Ehegattin des Mittelstandes ist – allerdings auf Kosten der Kinder – an dem Berufe des Mannes mit einem bei dem germanischen Mittelstande unbekannten Ernste mit tätig. In Frankreich wie in Italien hat das Familienleben eine Form der Innigkeit, die der Germane nicht versteht, weil dem romanischen Temperament das Gemüt fehlt, das seine Lichter über die oft holperigen Linien und harten Farben der germanischen Seelenlandschaft streut. Es ist mehr die Kälte des Naturells als die Stärke der Seele, die den Germanen um so viel weniger erotisch als den Südländer macht; es drückt sich mehr Gleichgültigkeit gegen die Frau als Achtung vor ihr in der Verschiedenheit zwischen den Liebessitten des Nordens und des Südens aus.

Aber nachdem man, um gerecht zu sein, all dies zugegeben hat, kann man mit gutem Gewissen auf der anderen Seite die Bedeutung des germanischen Geistes für die Bestrebung betonen, die Zweiteilung zwischen Liebe und Ehe aufzuheben, die seit der Zeit der Liebeshöfe bei den Völkern des Südens herrscht. Die Eigenart des gallischen Geistes ist es ja, auseinanderzuhalten. Dies macht ihn stark darin, die äussersten Konsequenzen eines Gedankens zu ziehen, aber es setzt ihn auch instand, sich im Leben zwischen Extremen zu teilen. Die Stärke des Germanen hingegen ist seine Einheitssehnsucht. Diese macht ihn als Denker inkonsequent, weil er alles miteinbeziehen muss, aber dafür im Leben zu einem nach Zusammenhang Strebenden. Dasselbe tiefe Persönlichkeitsgefühl, das den Protestantismus schuf, hat in der germanischen Welt versucht, die Liebe so wie den Glauben zu einer Privatsache des einzelnen und die Ehe eins mit der Liebe zu machen. Die von der Familie geordneten oder von der Vernunft bestimmten Ehen gehören nun im Norden in den gebildeten Klassen zur Vergangenheit, während sie in der romanischen Welt die Regel sind, allerdings mit immer mehr Ausnahmen. Aber noch setzt der Franzose meistens sein erotisches Gefühl in freien Verbindungen vor oder während der Ehe ein. Und die französische Gattin hat vollständig die Unstichhaltigkeit der Behauptung erwiesen, dass »eine Frau immer den Vater ihrer Kinder liebt«, jene gefährlichste aller Irrlehren, die die Frau in die Ehe und von ihr zum Ehebruch führen. Bei Shakespeare wieder ist die Gattin schon die Geliebte, und auch weiterhin findet man in der englischen Literatur immer die höchsten Ausdrucksformen für das erotische Einheitsgefühl des Germanen. Seit die Minnesänger des Mittelalters verstummt sind, zeugt das vom Luthertum beherrschte deutsch-nordische Literaturgebiet hauptsächlich von der »Begierde des Fleisches«. Die Frauen werden in dem Masse geachtet, in dem sie ihren Beruf als Kindergebärerinnen und Hausmütter erfüllen. Die Aufhebung des Klosterlebens und des Cölibats bringt jedoch das Gute mit sich, dass die geistigen Kräfte, die früher mit dem Individuum erloschen, fortgepflanzt werden. Und wahrscheinlich wird durch irgend einen von jenen, die früher mit ihrem Idealismus in ein Kloster geflüchtet wären, die Sehnsucht nach der grossen Liebe sich auf Söhne und Töchter vererbt haben.

Unter den schwedischen Frauen ist es vor allem H. Ch. Nordenflycht, die nicht nur selbst die grossen Gefühle hat, sondern auch den Mut, die Freiheit und Bildung zu gebrauchen, durch die diese Gefühle Ausdruck erhalten, und die ein gleiches auch für ihre Geschlechtsgenossinnen verlangt. Sie ist in jeder Beziehung die erste »Feministin« unseres Landes: ein ganz moderner Geist, das heisst ein ganz und gar persönlicher, nur durch die Seele lebender Mensch; voll Religiosität in ihrem freien Denken, voll Leidenschaft in ihrem Gefühl für Natur und Kultur; in ihrer Erotik mit ganzer Seele wie mit allen Sinnen liebend, in der grossen Liebe lebend und an ihr sterbend.

In Deutschland vertritt der tonangebende Dichter des 18. Jahrhunderts, Gottsched, das Recht der Frau auf Kultur; in Amerika zeigen die Frauen im Freiheitskriege ihr Zusammengehörigkeitsgefühl; und in einem anderen, späteren Freiheitskampf, dem gegen die Negersklaverei, kam dort die Frauenbewegung in Fluss.

In Frankreich ist das achtzehnte Jahrhundert mehr als irgend eine andere Epoche »das Jahrhundert der Frau«. Die Salons sind der Brennpunkt aller Ideen; die grössten männlichen Geister schreiben für die Frauen, und diese werden elektrische Batterien, von denen die Zeitgedanken nach allen Richtungen zündende Funken aussprühen. So wirken die französischen Frauen mit, die französische Revolution vorzubereiten. Während dieser schreibt Olympe de Gouges ihre Deklaration der Frauenrechte, als Gegenstück zu der der Menschenrechte. Es ist der Geist der neuen Zeit, der uns in Mary Wollstonecrafts »A Vindication of the Rights of Woman« (1792), sowie in Hippels im gleichen Jahre erschienenen »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« und in des schwedischen Denkers Thorild gleich nachfolgender Schrift »Über die natürliche Hoheit des weiblichen Geschlechts« entgegentritt. Drei ihrer Art nach gleich bemerkenswerte Zeichen der Zeit, die schon das ganze Gleichstellungsprogramm der »Emancipation« enthalten: dasselbe Recht auf Bildung, Arbeit, Anteil an der Gesetzgebung für die Frau wie für den Mann, und Gleichstellung in den Gesetzen und in der Ehe.

Einzelne befreite Frauen waren nichts neues: in Griechenland kam der Typus so häufig vor, dass das Lustspiel ihn verwendete; in Rom gab es Frauen, die ihren Unterhalt erwarben; im Mittelalter übte nicht nur die berühmte Schwedin Birgitta, sondern noch manche andere Frau – in der Eigenschaft einer Äbtissin oder Regentin – eine grosse und oft segensreiche Tätigkeit aus. Sowohl das Altertum wie Mittelalter und Renaissance weisen Gelehrtinnen, Ärztinnen und Künstlerinnen auf. Aber erst von dem Jahrhundert der grossen Revolution an findet man bei den Frauen selbst wie bei einzelnen Männern das anhaltende und zielbewusste Streben, die Rechte und die Bildung der Frau zu heben.

Und überall, wo dieses Streben tiefer ging, verband es sich mit dem Willen, die Stellung der Frau zur Liebe und in der Ehe umzugestalten.

Was Schweden betrifft, so dürften wohl kaum ein Dutzend Frauen von H. Ch. Nordenflychts oder Thorilds Feuerseelen entflammt worden sein, während Tausende Frau Lenngrens witzig-trivialem »Rat für meine liebe Tochter« folgten. Weiblicher Stumpfsinn und Gedankenleere – und die Vernunftehen – fanden da leider fast ein halbes Jahrhundert lang ihre poetische Rechtfertigung! Und was reiche Frauenseelen unter dem Druck dieser allgemeinen Meinung leiden mussten, das haben Friederike Bremers Lebensgeschichte, ihre Selbstbekenntnisse so ergreifend offenbart, dass dieses einzige Dokument genügen würde, um die tiefe Berechtigung des ganzen früheren Emancipationsstrebens zu beweisen. Aber leider war Eros für Friederike Bremer »der unbekannte Gott«. Und ihr grosser Kampf um den Menschenwert und das Bürgerrecht der Frau drang also nicht bis zu dem Herzpunkt der Frauenfrage. Ein Mann, Almquist, war es, der bei uns auszusprechen wagte: dass die gesetzliche lutherische Ehe das Recht der Frau ebenso tief verletze wie das der Liebe, und er ging unter in diesem Kampfe, der noch auszukämpfen ist.

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