Es ist eine sehr häufige, aber irrige Meinung, dass die Monogamie die Liebe hervorgerufen habe. Diese tritt schon bei den Tieren auf und hat sich dort, wie in der Welt der Menschen, von der Monogamie unabhängig gezeigt.

Der Ursprung der Monogamie in der menschlichen Gesellschaft ist in eigentumsrechtlichen Verhältnissen, religiösen Begriffen, staatlichen Nützlichkeitsgründen zu suchen, nicht aber in der Erkenntnis der Bedeutung der Auswahl der Liebe. Die Liebe hat im Gegenteil in unablässigem Kampfe mit der Monogamie gelegen, und es ist also ein Irrtum zu glauben, dass die höhere Auffassung der Liebe nur durch die Monogamie entstanden sein sollte. Der Liebesbegriff ist durch Angriffe auf die Ehe und ausserhalb derselben in ebenso hohem Grade entwickelt worden.

Während man trotz zuströmender Gegenbeweise noch immer die Bedeutung des Christentums für die Entstehung der menschlichen Liebe überschätzt, hat man seine mittelbare Bedeutung für die Entwicklung der Geschlechtsliebe noch nicht genug betont. Gewiss gibt es rings auf dem Erdenrund – von Island bis Japan – Lieder und Sagen, die ein strahlendes Zeugnis für die Gewalt der Liebe über Menschenherzen zu allen Zeiten geben. Aber das Geschlechtsgefühl besass doch nur eine untergeordnete Bedeutung für das menschliche Seelenleben, ehe nicht das Christentum auch der Frau eine Seele zuerkannte, die erlöst werden konnte – oder mit anderen Worten – eine Persönlichkeit, die sich vertiefen liess. Das Christentum befahl ausserdem mehr die weiblichen als die männlichen Tugenden an, und obgleich Christus selbst das Weib, die Liebe und das Familienleben unbeachtet liess, wurde seine Ethik doch in mittelbarer Form eine Frauenverherrlichung. Die Vergrößerung des Seelenwertes des Einzelnen durch das Christentum – im Gegensatz zu der Betonung seines Bürgerwertes durch das Heidentum – war zugleich einer der unterirdischen Zuflüsse, die im Mittelalter die Liebe zur Lebensmacht machten.

In der Antike war die Ehe eine Gesellschaftspflicht, die Freundschaft hingegen der freie Ausdruck der Sympathie. Erst als für das Bewusstsein des Mannes die Frau beseelt wurde, konnte die persönliche Erotik entstehen. Aber so geheimnisvoll sind die Einflüsse, durch die die Seele der Menschheit wächst, dass die Jünglingsliebe der Antike mittelbar auch das Sympathiebedürfnis zwischen Männern und Frauen entwickelte; dass die Unterdrückung des Geschlechtstriebs durch die katholische Askese mittelbar das nach innen gekehrte, seelenvolle, sich über die Sinnlichkeit erhebende Liebesgefühl entwickelte.

Anmerkung: Man sehe Briefwechsel zwischen Erwin Rohde und Nietzsche. Als eine mit einer antiken Gedankenrichtung zusammenhängende moderne Spekulation mag hier ein kürzlich aufgestelltes Paradoxon erwähnt werden: dass der Schluss- und Höhepunkt der Menschheitsentwicklung der Hermaphroditismus sein sollte.

Die neue Auffassung der Liebe als höchsten Zustands der Seele war schon in der Zeit der Kreuzzüge so bewusst, dass diese Zeit auch die der französischen Liebesgerichtshöfe wird. Die Frau, der Ritter, der Sänger vertiefen und verfeinern die Erotik, unter anderem auch dadurch, dass sie ihre – Unvereinbarkeit mit der Ehe betonen!

Forscher haben bewiesen, wie die verfeinerten Ausdrücke der Dichtung für die Liebe mit den Formen des Geschlechtslebens der höheren Klassen zusammenhängen, seit die Monogamie Gesetz, aber heimliche Polygamie Sitte ward. Diese Zweiteilung der erotischen Gefühle hat einerseits so feine und hohe, andrerseits so rohe und niedrige Äusserungen veranlasst, dass keine von beiden ein Gegenstück bei den Völkern – oder Klassen in einem Volke – findet, wo diese Zweiteilung unbekannt ist, weil die geschlechtliche Wahlfreiheit dort unbestritten herrscht.

Anmerkung: Man sehe Yrjö Hirn: »Der Ursprung der Kunst«.

Und dies ist natürlich. Denn das Geschlechtsleben behält dort seine »paradiesische« Unschuld, eine von keinem höheren Bewusstsein getrübte Animalität. Erst ein langer Entwicklungsverlauf kann diese Unschuld auf einer höheren Stufe wiederherstellen. Der Weg dazu führt durch die Zersplitterung, die die »Arbeitsteilung« auch in Bezug auf die Entwicklung der Gefühle mit sich bringt.

Das Mittelalter vermochte also nur die Liebe von der Ehe zu trennen. Das bezeugen auch die grössten Liebeslieder und Liebesschicksale. In der Welt der Dichtung sind Tristan und Isolde, in der der Wirklichkeit Abélard und Heloise die höchsten Typen der damals schon anbrechenden neuen Zeit, die schliesslich die Rechtserklärung des menschlichen Gefühls wie des menschlichen Gedankens bringen wird. Diese im Leben und im Tode vereinten Liebenden sind die höchsten Beispiele des Mittelalters von der freien Liebe, die ihre eignen Gesetze schreibt und andere aufhebt; von der grossen Liebe, die das Ewigkeitsgefühl grosser Seelen ist, im Gegensatz zu der Eintagsneigung kleiner Seelen.

Die Scholastik, indem sie die auf sich selbst gewandte Seelenforschung immer vertieft; die Mystik, indem sie das Gott hingegebene Seelenleben immer verfeinert, giessen unbewusst Öl in die rote Flamme der Liebe wie in die weisse des Glaubens. Diese »Vita nuova« der Liebe schlägt in den Flammen der Dichtung auf, deren höchstlodernde Zunge Dante wurde. Sie lebte in den romanischen Völkern in auserwählten Seelen fort. Der Platonismus der Renaissance verfeinerte die Liebesempfindung des Mittelalters als das beste Mittel zur Vervollkommnung in den vornehmsten menschlichen Eigenschaften. Und so wird das Recht der Liebenden unabhängig von der Gesellschaftssitte befestigt.

Es ist bezeichnend, dass – bei den Liebesgerichten des Mittelalters wie an den Höfen der Renaissance und bei den Geistesspielen des sechzehnten Jahrhunderts – den Frauen nicht nur dasselbe Recht des Gefühls zuerkannt wird wie den Männern, sondern auch dieselbe Freiheit, ihre seelischen Gaben zu gebrauchen. Denn jede Vertiefung der Liebe steht in verborgenem oder offenem Zusammenhang mit der Vergrösserung des Seelenlebens der Frau und dadurch mit der gesteigerten Schätzung, die der Mann für ihren Persönlichkeitswert hat. Während das Weib für ihn zuerst nur »Geschlecht«, nur Genussmittel war, wird sie zur Herrscherin, wenn die Liebe den ausschliesslichen Willen zu einer Frau bedeutet, die nur durch hingebungsvollen Dienst errungen werden kann. Jedesmal, wenn die Frau die erotische Führung übernommen hat, ist die Liebe des Mannes veredelt worden. Bei Shakespeare findet man die Summe dieser ganzen vorhergegangenen Seelenkultur. Alle seine schönsten Frauengestalten sind in demselben Grade keusch, in dem sie hingebend sind, aber sie sind auch zugleich im selben Grade geistig reiche und gesammelte Persönlichkeiten. Darum werden sie auch durch ihren Klarblick und ihre Entschlossenheit im Augenblicke der Handlung führend. Und obgleich Shakespeare, wie jeder andere grosse Dichter, seine Frauen mehr aus dem Stoff der Träume als aus dem der Wirklichkeit schuf; obgleich die Besten der italienischen Renaissance häufiger die Erfahrungen eines Boccaccios als die eines Petrarcas von der Liebe gehabt haben dürften; obgleich die Barockzeit »Le Pays du Tendre« zu einem steifen Garten um zierliche Figuren machte, so zeigt doch das Leben, besonders das Leben der romanischen Völker – sowie ihre beste Literatur – immer stolze und schöne Liebespaare und Liebesopfer, bis in das Jahrhundert, wo die männlichen »Philosophen« die Frauen der Führung beraubten und die Liebe zu der bald fröhlichen, bald grausamen »Galanterie« wurde.

Die Liebe war durch romanisch-epikuräische Unsittlichkeit ebenso erniedrigt wie durch germanisch-lutherische »Sittlichkeit«, als Rousseau kam und, wie vor ihm Racine und Manon Lescaut, die Liebe als die grosse schicksalsbestimmte Leidenschaft schilderte, vor der die Menschen wie Wachs im Feuer werden.

Was er für die Liebe tat, war dasselbe, was er für Seele und Sinne getan haben würde, wenn er in einem der von Wohlgerüchen und Wachskerzenflammen schwülen Boudoirs der damaligen Zeit eine Balkontür in die Sommernacht geöffnet hätte, mit ihren Düften von gebärender Erde und blühendem Grün, mit ihren schwarzen Laubmassen und dem sternenbesäten Himmel.

Aber Rousseau verfolgte die seinem Gedanken nächstliegenden Gedanken nicht: dass nur die Liebe die Ehe hervorrufen soll; dass nur Entwicklung der weiblichen Persönlichkeit die Liebe vertieft. Selbst Goethe – der nach Rousseau die glühende Bahn weiter zog, indem er die Liebe als eine geheimnisvolle Schicksalsmacht der Wahlverwandtschaft zeigte – sah das Glück der Liebe mehr in der Unmittelbarkeit der weiblichen Natur als in ihrer Entwicklung. Die französische Revolution dehnte die Konsequenzen von Rousseaus Sätzen auch auf die Frau und die Liebe aus: sie machte die Ehe bürgerlich, die Scheidung frei; aber sie gab der Frau nicht das Wahlrecht, ja sie bewahrte nicht einmal die mittelbare Form desselben, die die Frau früher besessen hatte. Alle von der Revolution und Rousseau beeinflussten Geister haben seither in der Literatur wie im Leben die Deklaration der Rechte der Liebe weiter verfolgt.

Im neunzehnten Jahrhundert waren es wie im Mittelalter Frauen, Dichter und Ritter – die letzteren unter dem Namen von sozialen Utopisten – die dabei die Führung übernahmen. In Deutschland ging zuerst die romantische Schule, dann Jungdeutschland an der Spitze. Aber die herrlichsten Verkünder der grossen Liebe – Chamisso mit Frauenleben und Liebe, Rückert mit seinem Liebesfrühling, sowie ein Grillparzer, Otto Ludwig, Hebbel – stehen für sich da. In England Shelley, Byron, Browning und noch andere. In Norwegen Camilla Collet und einige grosse Dichter. Durch Ibsen, Björnson und Jonas Lie ist der Norden an der Spitze der Entwicklung des europäischen Bewusstseins von der Bedeutung der Seelengemeinschaft in der Liebe und für die weibliche Persönlichkeit in der Ehe geschritten. In Frankreich ist es Mme. de Staël, die – mitten in der Reaktion, welche die unauflösliche Ehe wieder einführt – diese durch »Delphine« angreift. In dem Lande der literarischen Salons will man das Genie der Frau hindern, als Gesellschaftsmacht zu wirken – und sie macht es durch »Corinne« und durch Coppet zur Weltmacht. Ihre Überzeugung ist, dass der Ruhm für die Frau nur ein Mittel bedeuten kann, Liebe zu gewinnen; ihre Klage, dass das Leben der genialen Frau die Erfüllung ihres schönsten Traums, die Liebe in der Ehe, versagt, wurde der Prolog zu zahllosen Tragödien im Jahrhundert der Frau. Nach ihr kommen die St. Simonisten und die übrigen sozialen Revolutionäre, aber vor allem eine andere von Rousseaus Töchtern im Geiste, die Frau, in deren Adern sich all das Blut mischte, das die Revolution schon auf Schafotten und Schlachtfeldern hatte zusammenfliessen lassen: »Pöbel«-blut, Bürgerblut, Adelsblut, Königsblut! Ihres Volkes klaren Wahrheitsmut bis zu den äussersten Konsequenzen, ihrer Kindheit Glaubensglut, die Sehnsucht ihres Blutes, das Unendlichkeitsverlangen ihrer Seele, die vulkanische Glut und Asche ihrer Erlebnisse – alles schleudert George Sand in ihren Anklagen gegen die bürgerlich und kirchlich aufrecht erhaltene Ehe hin, die für sie »legitime Notzucht«, »beschworene Prostitution« war. Schon lange vor ihr war ja das Recht der Liebe für Ausnahmenaturen verfochten worden. George Sands neuer Mut war, dieses Recht für alle zu fordern; es in das Zeitbewusstsein einzubrennen, dass, wenn zwei Menschen zusammen zu sein wünschen, es keiner Bande bedarf, sie zusammenzuhalten; und dass, wenn sie es nicht wünschen, dieses erzwungene Zusammenhalten eine Kränkung ihres Menschenrechtes und ihres Menschenwertes ist.

Von dieser Stunde an war der Kampf vom Olymp auf die Erde versetzt. Und seine Flammen haben seither alle »Gesellschaftserhalter« zu löschen, aber alle »Gesellschaftszerstörer« zu schüren versucht.

Die Liebe, die George Sand selbst vergebens auf Wegen suchte, von denen sie mit verwundeten, zuweilen mit besudelten Füssen wiederkam, die Liebe, unter der Rahel litt und von der sie lebte, nach der die grosse Norwegerin Camilla Collet klagt und die E. B. Browning verwirklicht – das ist die Liebe, von der auch die Frau der neuen Zeit träumt.

George Sand – wie der St. Simonismus, wie der neue Feminismus – sah die Freiheit der Liebe als das Zentrale in der Frauenfrage an. Sowie George Sand verficht der moderne Feminismus das Recht des freien Denkens gegen den Autoritätsglauben auf allen Gebieten; die Solidarität der Menschheit und den Friedensgedanken gegen den militärischen Patriotismus; die soziale Neugestaltung gegen die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse.

Die amerikanisch-englisch-nordische Frauenbewegung – deren beste Bekenntnisschrift noch immer John Stuart Mills 1854 erschienenes Buch »Von der Hörigkeit der Frau« ist – hat hingegen im grossen Ganzen die erotische, religiöse und soziale Befreiung ausseracht gelassen, um nur die bürgerlichen Rechte der Frau zu vertreten. Die neue Liebe ist so, besonders im Norden, teils unter der Gleichgültigkeit, teils unter der Abneigung der Führerinnen der Emanzipation hervorgetreten.

Und auch der Hohn und die Abneigung der Männer hat die weibliche Forderung nach einer neuen Liebe begrüsst. Mit Gründen, denen Schopenhauer und Hartmann einmal die philosophische Formulierung gegeben haben, bewiesen sie: dass die seelenvolle Liebe ein Blendwerk der Natur sei und dass die einheitliche Liebe, die die Frau nun von dem Manne verlangt, Opfer erheischt, die seiner physiologischen und psychologischen Natur widerstreiten.

Unbekümmert um Hohn und Abneigung sind die Frauen der neuen Zeit jedoch fortgefahren, die Liebe ihrer Träume zu verkünden – die auch die der Dichterträume ist.

Durch Tausende von Jahren hat die Dichtung schon die Liebe als eine rätselvolle und tragische Macht geschildert. Aber wenn jemand auf Prosa schlecht und recht dasselbe sagt und ausserdem hinzufügt, dass das Leben ohne die grossen Leidenschaften farblos und arm wäre, dann nennt man das Unsittlichkeit! Jahrhundert um Jahrhundert zeigt die Dichtung die Erhebung der Liebe. Aber wenn jemand schlecht und recht in Prosa sagt, dass die Liebe ein immer höheres Gefühl werden kann, dann nennt man das eine Ungereimtheit! Denn die Dichtung als prophetisch zu betrachten, wie es die Vergangenheit tat, das fällt den heutigen Menschen nicht ein!

Die neue Liebe ist noch immer das naturbestimmte Verlangen des Mannes und des Weibes nach einander, um die Gattung fortzupflanzen. Sie ist noch immer der Wunsch des strebenden Menschen, durch einen Arbeitskameraden die Mühen eines anderen zugleich mit seinen eigenen zu erleichtern. Aber über diese ewige Wesensart der Liebe, über diese uralte Ursache der Ehe hinaus ist noch eine andere Sehnsucht immer stärker geworden. Diese richtet sich nicht auf die Fortpflanzung der Gattung. Sie ist der Einsamkeitsempfindung des Menschen innerhalb seines Geschlechts entsprungen, der Einsamkeit, die immer grösser wird, je eigenartiger eine Seele ist. Sie ist die Sehnsucht nach der Menschenseele, die unsere eigene aus dem Schmerz dieser Einsamkeit erlösen soll, einem Schmerz, der ehedem von der Ruhe in Gott gestillt ward, jetzt aber seine Ruhe bei seinesgleichen sucht, bei einer Seele, die selbst weitäugig mit ebenso sehnsuchtsheissen Augenlidern gewacht hat. Einer Seele, der die Liebe die Macht zu dem Wunder gibt, unsere Seele von dem Fremdlingsgefühl auf Erden zu erlösen – sowie sie selbst durch die unsere erlöst wird. Einer Seele, vor deren Wärme unsere eigene die Hüllen fallen lässt, die die Kälte der Welt ihr aufgezwungen, um sonder Scham ihre Geheimnisse und Herrlichkeiten preiszugeben. Dehmel hat dieses Wunder in zwei unsterbliche Zeilen gefasst:

– – Liebe ist die Freiheit der Gestalt
Vom Wahn der Welt, vom Bann der eignen Seele.

Die Empfindung selbst hat so manchen lange vor unserer Zeit ergriffen. Einer von ihnen war Eugène Delacroix, der in seinem Tagebuche von der Qual spricht, jedem seiner Freunde nur das Antlitz zeigen zu können, das dieser verstand, so dass er für jeden ein anderer werden musste, ohne sich je verstanden zu fühlen: ein Leiden, für das er nur eine Hilfe wusste: une épouse qui est de votre force.

Aber das Neue ist, dass dieses Gefühl sich unter den Vielen ausgebreitet hat und ihnen bewusst geworden ist, dass es anfängt, der ganzen Zeitseele seinen Stempel aufzudrücken.

Noch immer jedoch werden die Menschen von erotischen Impulsen bestimmt, die tief unter ihren bewussten erotischen Forderungen stehen. Die Sinne werden von einer Sehnsucht aufgepeitscht, die die der Seele verdrängt. Die Kultur des Liebesbegriffs steht viel höher als die Instinkte der Liebe. Und so wird unsere Zeit übervoll von Liebeskonflikten.

Dazu kommt, dass die gesteigerte Sensibilität des neuen Menschen ihn immer geneigter gemacht hat, sich Masken, schützende Verkleidungen, künstlerisch verzierte Panzer zu konstruieren. Der Schutz ist unentbehrlich, denn niemand würde das Leben ertragen, wenn er stündlich die schlecht verbundenen oder noch offenen Wunden anderer sähe und jedweden an seine eigenen rühren lassen müsste. Das Dasein würde viel von seiner Spannung verlieren, ohne die ungeahnten oder geahnten Geheimnisse in den Schicksalen und Seelen der Menschen. Aber die schützenden Hüllen erschweren auch immer mehr das Streben der Liebe, den Schein zu durchdringen. Darum wird eine gewisse Form des »Flirts« der Versuch der erwachenden Liebe zur Demaskierung, zur Ablistung der schützenden Verkleidung, eine Fechtkunst, die auf die Ritzen des dichtanschliessenden Panzers zielt!

Aber die Versuche misslingen oft, und das Leben wird immer mehr von Schicksalen erfüllt, die gewesen sein könnten, während immer mehr Menschen in der Einsamkeit die Hände über das ringen, was nicht wurde. Tiefer denn je fühlt der Mensch, dass das Leben das karg gab, was er berechtigt ist von ihm zu fordern, wenn die Liebe für ihn nur das Versinken in eine Umarmung bedeutete. Immer mehr Menschen wissen, dass Liebe das Versinken in den Geist ist, in dem unser eigener seinen Halt findet, ohne seine Freiheit zu verlieren; die Nähe des Herzens, an dem die Unruhe unseres eigenen gestillt wird; das Lauschen, das unser Unausgesprochenes und Unaussprechliches vernimmt; der Klarblick eines Augenpaars, das in unseren besten Möglichkeiten schon Wirklichkeiten findet; die Begegnung der Hände, von denen wir sterbend unsere eigenen umschlossen fühlen wollten!

Wenn die Seelen Seligkeiten besitzen, die die Sinne teilen, und die Sinne Freuden, die die Seelen adeln, dann empfindet man weder Begierde noch Freundschaft. Beides ist in einer neuen Empfindung aufgegangen, unvergleichbar mit jedem für sich, wie die Luft mit ihren Bestandteilen. Der Stickstoff ist nicht Luft, der Sauerstoff auch nicht; die Sinnlichkeit ist nicht Liebe, die Sympathie ebenfalls nicht. Vereint sind sie Lebensluft und Liebe. Wenn jeder einzelne Bestandteil in unrichtigem Verhältnis zu dem anderen steht, wird die Liebe – wie die Luft – zu schwer oder zu dünn. Aber wie die Proportionen zwischen Sauerstoff und Stickstoff ohne Schaden innerhalb weiter Grenzen variieren können, so können es auch die Bestandteile der Liebe. Die Seelenverwandtschaft ist gewiss das Dauerndste in der Liebe, aber darum nicht das einzig Wertvolle; die lebenberauschende Liebe ist selbst von der höchsten Freundschaft durch ein Meer getrennt, tief wie das zwischen dem Indien der Sage und dem Amerika des Nutzens. – Eine Lebenszeit in dem letzteren wiegt nicht einen Tag in dem ersteren auf.

Die grosse Liebe entsteht nur, wenn das Verlangen nach einem Wesen des anderen Geschlechtes mit der Sehnsucht nach einer Seele unserer eigenen Art verschmilzt. Sie wird, gleich dem Feuer, umso reiner, je heisser sie ist, und unterscheidet sich von der Glut der Begierde so, wie sich die Weissglühhitze in einem Schmelzofen von der roten, rauchenden Flamme der über Gassen und Märkte getragenen Fackel unterscheidet.

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