Die sich stets steigernde Bedeutung der Sympathie für das Seelenleben äussert sich jedoch jetzt in der Frauenwelt durch eine Überschätzung der Freundschaft, sowohl der Freundschaft zwischen Frauen wie der Freundschaft in der Liebe. Eine leidenschaftliche Anbetung zwischen Gleichalterigen – oder von einem Jüngeren einem Älteren desselben Geschlechtes entgegengebracht – ist für die Frau wie für den Mann die gewöhnliche schöne Morgenröte der Liebe, die stets mit dem Sonnenaufgang verbleicht. Eine vollpersönliche grosse Freundschaft ist hingegen selten wie eine grosse Liebe und ebenso selten zwischen Frauen wie zwischen Männern. Diejenigen, welche in der Freundschaft die Erfüllung ihres Wesens erwarten, haben daher keine grössere Aussicht, auf diesem Gebiete das Wesentliche zu erreichen, und laufen überdies Gefahr, es auf dem der Liebe zu verfehlen, indem sie sich vor diesen Gefühlen abschliessen oder für sie verarmen. Auch die Frauen früherer Zeiten kultivierten die Freundschaft. Aber sie begnügten sich nicht mit ihr an Stelle der Liebe. Und täten die Frauen dies einmal im vollen Ernst, dann hätte der Winter seinen Einzug in die Welt gehalten. Der Weg der Entwicklung ist, von der Liebe alles zu fordern, was die Freundschaft gibt – und unendlich mehr! Aber der reiche seelische Austausch zwischen Arbeits- und Studiengenossinnen oder Genossen bereitet nun das dritte historische Entwicklungsstadium der Liebe vor, das individuell-sympathische. So ist die grosse Liebe allerdings zu allen Zeiten gewesen. Das Neue ist, dass jetzt immer mehr Seelen von demselben Bedürfnis bestimmt werden; dass die Möglichkeit der grossen Liebe vielen klar geworden ist, nicht nur den auserwählten Wenigen. Ganz so wie man den Durchbruch der Liebe an der Abnahme der von den Familien geordneten Vernunftehen messen konnte, an der Anerkennung der erotischen Wahlfreiheit der Jugend und an der allgemeinen Verurteilung der Geldheiraten, so kann man nun die Stärke des neuen Durchbruchs an anderen, ebenso bedeutenden Erscheinungen messen: die heute »die neue Unsittlichkeit« genannt werden. Es ist mit Recht gesagt worden, dass die Liebe, so wie sie nun ist – die grosse psychologische Wirklichkeit, mit der man rechnen muss – in ihrem jetzigen, zusammengesetzten, vielfältigen, verfeinerten Zustand das Resultat aller Fortschritte der menschlichen Tätigkeit darstellt: den Sieg der Intelligenz und des Gefühls über die rohe Stärke; die Umwandlung im Verhältnisse zwischen Mann und Frau, die neue ökonomische, ethische und religiöse Ideen herbeigeführt haben; die steigende Sehnsucht nach innerer und äusserer Schönheit, den Rasseveredlungswillen und noch andere Ursachen.

Anmerkung: Man sehe Charles Albert: »L'Amour libre«.

Aber unter diesen ist die wesentlichste nicht genannt, in der so mancher jetzt ein Zeichen der Entartung sieht, die aber tatsächlich ein Zeichen der Entwicklung ist, und auf die die Hoffnung auf die schliessliche Aufhebung des Dualismus sich gründet: die Ausgleichung des extremen Geschlechtsgegensatzes.

Solange Mann und Weib so verschieden in ihren erotischen Bedürfnissen sind, wie dies noch oft der Fall ist, wird die Liebe der »ewige Kampf« sein, den die Dichter und Denker schildern, welche nur das Gegenwärtige sehen, ohne Glauben an die Entwicklung der Liebe oder an die Erziehung der Menschen zur Liebe. Denn mitten im Zeitalter des Evolutionismus denken und fühlen die Menschen nicht evolutionistisch. Für den jedoch, der so fühlt, gibt es nichts Sichereres, als dass der »ewige Kampf« einstmals seinem Friedenschlusse entgegengehen wird.

Die eben erwähnten Zweifler lächeln zweideutig, wenn man von Frauenfreundschaft oder von der verfeinerten, sympathieverlangenden Erotik der Frau spricht. Erst wenn eine in ihrem tiefsten Wesen unverstandene Geliebte oder Frau einen solchen Mann verlässt, entdeckt er, dass das Wesen, das er ganz zu beglücken glaubte, nicht einmal sinnlich befriedigt war – weil die Seele von den Sinnen nichts empfing und ihnen nichts gab.

Die – im übrigen oft fein kultivierten – Männer, von denen dies gilt, befinden sich in der Regel in mittleren Jahren. Unter denen mit ihnen vergleichbaren jungen Männern hingegen ist die erotische Sehnsucht oft ebenso verfeinert, ebenso sympathieverlangend wie bei den Frauen, obgleich der Mann noch selten das Gleichgewicht zwischen der Seele und den Sinnen besitzt, das die ihm im übrigen ebenbürtige Frau erreicht hat. Dass die Frauen nun zu bekennen wagen, dass sie erotisch Sinne haben, während die Männer nun zu erfahren beginnen, dass sie erotisch Seele besitzen; dass die Frau Gefühle von dem Manne verlangt, und er von ihr Gedanken – das ist das grosse Glückszeichen der Zeit. Die modernen, feinfühligen Jünglinge leiden wohl ebenso sehr wie ihre Schwestern darunter, nur als Geschlecht, nicht als Persönlichkeit und persönlich geliebt zu werden. Sie lieben ihresteils gerade die weibliche Individualität und schaffen ihr Bewegungsfreiheit, anstatt sie – wie es noch ihre Väter taten – ihrer eigenen gleichzuformen zu suchen.

Der Mangel an Vergleichspunkten macht es, dass das ganz junge Weib von heute den heutigen Mann zuweilen als ein wunderliches, bald wildes, bald krankes, bald schwermütiges Tier ansieht – weil seine Liebe ihrem geträumten Platonismus nicht entspricht, oder er selbst nicht ihrem geträumten Ideal! Dieses wechselt mit Völkern, Zeiten und Gesellschaftsschichten: Die Deutsche »aus guter Familie« dürfte das ihre aus Schiller und einem Kürassierleutnant zusammensetzen; die englische Pfarrerstochter das ihre aus Tennyson und Mr. Chamberlain; das »neue Weib« in Frankreich dürfte ihr Ideal aus Maupassant und Jaurès bilden. Aber ein Kennzeichen verbleibt unveränderlich: dass das »Ideal« immer gerade die Eigenarten umfasst, die die Natur nie vereinigt!

Auf der höchsten – wie auf der niedrigsten – Stufe sind die Ähnlichkeiten zwischen der Liebe des Mannes und des Weibes schon grösser als die Verschiedenheiten. Der Mann – und auch die Frau – wird Mensch auf Kosten ihres sekundären Geschlechtscharakters. Es gibt schon Leute, welche meinen, dass der Schlusspunkt der psychischen Entwicklung dasselbe Bild zeigen wird, wie der Beginn der physischen Entwicklung: nämlich dass der Embryo auf einem gewissen Stadium weder männlich noch weiblich ist, sondern beide Möglichkeiten einschliesst!

Eine seelenvolle junge Dichterin, Anna Schapire, hat daran erinnert, dass schon Friedrich Schlegel betonte: dass, während die Antike beim Weibe wie beim Manne menschliche Hochherzigkeit, adeligen Sinn und Seelenstärke über die rein geschlechtlichen Eigenschaften stellte, die neuere Zeit das Weib einseitig weiblich, den Mann einseitig männlich gemacht hat, und dass diese Extreme auf beiden Seiten aufgehoben werden müssen, wenn man zu Sittlichkeit, Schönheit und Harmonie im Geschlechtsverhältnis gelangen will, ein Gesichtspunkt, den auch Schleiermacher einnahm. Und will man in der aristophanischen Sage vom gespaltenen Menschen einen tieferen Sinn sehen, so ist es der, den eine apokryphe Überlieferung auch Jesus durch die Äusserung »Das Reich Gottes bricht an, wenn die Zwei wieder Eins werden« zuschreibt. Dass schon Plato die Leiden betont, die die »Spaltung« den beiden Menschenhälften verursacht, zeigt eine beginnende Entwicklung der Liebe. Denn diese Entwicklung ist durch die Steigerung des Geschlechtsgegensatzes gegangen, mit all der Leidenschaft und den Leiden, die diese mit sich gebracht hat. Nun erst ist der Zeitpunkt gekommen, wo das Getrennte sich wieder zu einer höheren Einheit zusammenneigt.

Man findet – unter anderem auch in »Vierges Fortes« – den Typus der neuen Frau geschildert, die – im Gegensatz zum älteren Frauentypus, der nur für und durch den Mann lebte – den Mann ganz entbehren und im Weibe nur den Menschen sehen will. Aber es gibt glücklicherweise eine andere Gruppe, die einsieht, dass »so viel das Weib selber an Seele und Schönheit verliert, indem sie nur danach strebt, Mensch zu sein, so viel auch das Ganze dadurch verlieren wird«. Und diese Gruppe, die in der finländischen »Nutid«, der deutschen »Frauenrundschau«, der österreichischen Zeitschrift »Neues Frauenleben« und einigen anderen Frauenzeitschriften ihre Organe hat, ist überzeugt, dass die Harmonie des Weiblich-menschlichen und des Männlich-menschlichen das höchste Glück in der Liebe ausmacht, sowie den höchsten Wert in der Gesellschaftsarbeit, die das Weib zusammen mit dem Manne leisten will.

Tatsächlich vollzieht sich diese wünschenswerte Ausgleichung des Geschlechtsgegensatzes mit solcher Schnelligkeit, dass man Ursache hätte zu befürchten, sie könnte in einer nahen Zukunft der Liebe gefährlich werden, falls nicht der psychische Gegensatz im letzten Grunde doch immer durch den physischen bedingt bliebe, und falls nicht der moderne Mann und die moderne Frau sich zugleich immer mehr individualisiert.

Und in dieser Tatsache sind die Zukunftsmöglichkeiten der grossen Liebe eingeschlossen. Die Individualisierung ist schon so stark, dass der Denkende immer häufiger innehält, wenn die Worte »Der Mann« oder »Die Frau« über seine Lippen geglitten sind. Denn die Männer untereinander, die Frauen untereinander sind schon beinahe ebenso verschieden, wie die Männer und Frauen voneinander. Und als Ersatz für die durch die Ausgleichung geschwächte allgemeine erotische Anziehung kommt dann der Zauber der individuellen Gegensätze. Die seelische Sehnsucht der Liebe – zusammen mit einer anderen Seele in einer höheren Harmonie aufzugehen – wird nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gesteigert werden, je persönlicher dieser Gegensatz ist.

Rodin – der, wie jeder grosse Franzose, die grosse Liebe versteht – hat sie in Liebespaaren verherrlicht, wo beide, einer durch den anderen, zu vollkommeneren Menschen wurden, als jeder es allein hätte werden können. Rodin macht den Mann durch und durch männlich, das Weib durch und durch weiblich, während jede Linie in beider Gestalt die zur Seelenmacht geadelte Urkraft zeigt, die Liebe als Erfüllung des Menschen-Mannes und des Menschen-Weibes!

Wenn das Leben irgend einmal diesen stolzen schönen Anblick bietet, dann steht man vor einem Glück, das erschreckend gross ist. Denn so wie eine sparsame Hausmutter die Sonne ausschliesst, so lässt auch das Leben oft den Vorhang des Todes sinken, wo das Glück leuchtet. Oder die Menschen töten auch selbst ihr Glück durch Instinkte, die aus niedrigeren Kulturstadien in ihnen fortleben.

Vor allem durch den, der es verursacht, dass die tierisch Urkräftigen auch noch für die Seelenvollen erotisch fesselnd sind. Männer und Frauen mit der Macht der elementaren Leidenschaft berauschen, weil sie selbst berauscht sind, weil sie, ohne von Rücksichten aufgehalten oder von der Seele beschwert zu sein, sich heiss und voll dem Augenblick hingeben. Es ist eine ebenso oberflächliche Psychologie, zu glauben, dass Don Juans Ruf ihn unwiderstehlich macht, wie anzunehmen, dass der Sieg über Cleopatra lockt, weil er zugleich der Sieg über Cäsar ist. Nein, die Macht dieser Wesen liegt in ihrem ungeteilten, gewissenlosen Willen, alle Kräfte ihres Wesens zu gebrauchen, um ihr Ziel zu erreichen. Und nur das, wovon unser ganzes Wesen im Augenblick ergriffen ist, ergreift auch andere. Dies ist die Antwort auf die Frage:

Comment fais-tu les grands amours
Petite ligne de la bouche?

Die seelenvollen Menschen – besonders die Frauen – haben bis jetzt nur einseitig geliebt. Aber wenn die Sinnlichkeit – im Zusammenhange mit der Geschlechtsaufgabe – ihre antike Würde wiedererlangt, dann wird die Macht, erotisch hinzureissen, nicht nur das Vorrecht des in seiner Liebe Unmenschlichen sein. Die Todsünde der klugen Jungfrauen gegen die Liebe ist, dass sie es verschmähen, von den Törichten das Geheimnis der Bezauberung zu lernen; dass sie nichts von den tausend Dingen wissen wollen, die die Sinne eines Mannes binden oder seine Seele ergreifen; dass sie die Macht, zu gefallen, für gleichbedeutend mit dem Willen, zu betrügen, ansehen. Wenn alle Frauen, die lieben können, es auch vermögen, die Güte berückend, die Beseeltheit berauschend zu machen, dann wird Imogen Cleopatra besiegen, Tora Parsberg Undine.[1] Noch sind die Reizvollen nicht immer gut, die Guten nicht immer reizvoll und die meisten – weder gut noch reizvoll! In dieser Übergangsbildung zwischen einer alten und einer neuen Weiblichkeit, ist es natürlich, dass diejenige am stärksten ist, die in sich

Ève, Joconde et Delila

vereinigt, das Weib, das den Mann »auf die Aufgabe hinweist, aber mit ihrer Lösung spielt« (G. Heiberg), das Weib, das sich aus den Werten der Kultur »nur Waffen oder Schmuck macht« (Nietzsche), das Weib, das »der Todesstreich der Männer, das Grab des Manneswillens« wird, das die Liebe zu dem ewigen »Sündenfall« macht, dem der »Hass über die Entdeckung folgt, dass man sich gegenseitig betrogen hat« (Strindberg). Aber dasselbe gilt von den Männern. Ehe die Ernsten unter ihnen nicht einsehen, »dass ein Mann die seelische Seite der Liebe nicht ausser Acht lassen darf«, werden ihre Frauen leicht von den Nicht-Ernsten erobert werden.

Dadurch, dass sie die Verwirklichung der Liebe in der Ehe beobachteten – so wie sie eben noch in der Regel da verwirklicht wird – sind immer mehr junge Mädchen von tiefer Unlust gegen die Ehe ergriffen worden. Sie wollen die Liebe so, wie sie sie geträumt haben, oder gar nicht. Eine kleinere Liebesforderung, eine ärmlichere Liebesgabe hat für sie keinen Wert, der sich mit ihrem freien, persönlichen Leben messen könnte. Dem Manne, der nur ihre Lippen sucht, aber nicht deren Worten lauscht, der sich nach ihrer Umarmung sehnt, aber lächelt oder sich umdüstert, wenn sie ihm die Gestaltung ihrer Seele enthüllt, hat dieses Weib nichts zu geben. Ihre Liebe ist von der ganzen nährenden Kraft ihres Menschenwesens erfüllt; sie überquillt von dem edlen Safte ihres Frauenwesens, und sie verlangt Andacht vor dem Sakramente, das sie damit austeilt.

Sie will nicht mehr erobert werden wie eine Festung, oder gejagt wie ein Wildpret. Sie will auch nicht gleich dem stillen Binnensee des Stromes harren, der den Weg in ihre Arme sucht. Selbst Strom, will sie ihren eigenen Weg gehen, dem anderen Strom entgegen. Wohl lässt auch die neue Frau häufig die Sehnsucht ihrer Seele von der ihres Blutes oder ihres Herzens betrügen. Aber sie erwacht rasch aus ihrem Irrwahn und handelt dann nicht nach alten Sittengeboten, sondern nach dem neuen Gesetze, das die grosse österreichische Dichterin Marie Eugenie delle Grazie so ausdrückt:

Ich lieb' den Kampf! Ich lieb', was ich gelitten,
Und was geendet unter meinen Tritten,
Was ohne Reu' und falsche Scham
Mit unerschrockner Hand ich nahm,
Der Beute froh, die ich erstritten!
Allein in Wonnen, einsam in Gefahr,
Mir selbst Gesetz und Richter immerdar,
Und frei, weil fern dem Elend eurer Sitten!

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Anmerkungen:
  1. Siehe Björnsons »Laboremus«.
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