Platon über Seele

  • Und war wiederum einer ein Sträfling und trug bei Lebzeiten Spuren der Schläge oder Narben von Peitschenhieben oder andere Wunden an seinem Körper, dann wird man diese auch am Körper des Toten sehen können. Oder wenn jemand im Leben gebrochene oder verrenkte Glieder hatte, dann ist das auch am Toten sichtbar. Mit einem Wort: Wie jemand in leiblicher Beziehung zu sein sich bemühte, so ist alles oder doch das meiste eine Zeitlang auch am Toten sichtbar. Ich glaube nun aber, Kallikles, daß es mit der Seele ganz dasselbe ist. Wenn sie vom Körper befreit ist, dann wird an ihr alles sichtbar, sowohl ihre natürliche Anlage als auch die Merkmale, die der Mensch durch Beschäftigungen aller Art in seiner Seele empfangen hat. Wenn sie nun zum Richter kommen, so die aus Asien zu Rhadamanthys, so läßt dieser sie vor sich hintreten und betrachtet die Seele eines jeden, ohne zu wissen, wem sie gehört. Da hat er vielleicht die Seele des Perserkönigs oder sonst eines Königs oder Herrschers vor sich und sieht gar nichts Gesundes an ihr, sondern findet sie durchgepeitscht und voll von Narben, die von Meineid und Ungerechtigkeit stammen und die ihm jede seiner Taten in die Seele eingeprägt hat, und alles ist schief vor Lüge und Hochmut, und nichts ist gerade, weil sie ohne Wahrheit aufgewachsen ist.

Platon

griechischer Philosoph

* 427 vChr Athen oder Ägina
† 347 vChr Athen

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