Aphorismen

 

Ein Aphorismus
ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette.

 

Erstes Hundert.

 

Aphorismen vin Marie von Ebner-Eschenbach, erstes Hundert

 

1.

Sag etwas, das sich von selbst versteht, zum ersten Mal, und Du bist unsterblich.


2.

Was uns an der sichtbaren Schönheit entzückt, ist ewig nur die unsichtbare.


3.

Die verstehen sehr wenig, die nur das verstehen, was sich erklären läßt.


4.

Ein Urtheil läßt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurtheil.


5.

Vertrauen ist Muth, und Treue ist Kraft.


6.

Die jetzigen Menschen sind zum tadeln geboren. Vom ganzen Achilles sehen sie nur die Ferse.


7.

Die glücklichen Pessimisten! Welche Freude empfinden sie, so oft sie bewiesen haben, daß es keine Freude giebt.


8.

Es hat noch Niemand etwas Ordentliches geleistet, der nicht etwas Außerordentliches leisten wollte.


9.

Siege, aber triumphire nicht.


10.

Der Zufall ist die in Schleier gehüllte Nothwendigkeit.


11.

Andere neidlos Erfolge erringen sehen, nach denen man selbst strebt, ist Größe.


12.

Der Hochmuth ist ein plebejisches Laster.


13.

Geduld mit der Streitsucht der Einfältigen! Es ist nicht leicht zu begreifen, daß man nicht begreift.


14.

Die größte Nachsicht mit einem Menschen entspringt aus der Verzweiflung an ihm.


15.

Alt werden, heißt sehend werden.


16.

Anmuth ist ein Ausströmen der inneren Harmonie.


17.

Wie weise muß man sein, um immer gut zu sein!


18.

Die einfachste und bekannteste Wahrheit erscheint uns augenblicklich neu und wunderbar, sobald wir sie zum ersten Male an uns selbst erleben.


19.

Der Verstandesmensch verhöhnt nichts so bitter als den Edelmuth, dessen er sich unfähig fühlt.


20.

Wir verlangen sehr oft nur deshalb Tugenden von Anderen, damit unsere Fehler sich bequemer breit machen können.


21.

Der Gescheitere giebt nach! Ein unsterbliches Wort. Es begründet die Weltherrschaft der Dummheit.


22.

Künstler, was Du nicht schaffen mußt, das darfst Du nicht schaffen wollen.


23.

Je mehr Du Dich selbst liebst, je mehr bist Du Dein eigener Feind.


24.

Eiserne Ausdauer und klaglose Entsagung sind die zwei äußersten Pole der menschlichen Kraft.


25.

Nichts wird so oft unwiederbringlich versäumt wie eine Gelegenheit, die sich täglich bietet.


26.

Warten lernen wir gewöhnlich erst, wenn wir nichts mehr zu erwarten haben.


27.

Die Leidenschaft ist immer ein Leiden, auch die befriedigte.


28.

Schüchterne Dummheit und verschämte Armuth sind den Göttern heilig.


29.

Wenn es einen Glauben giebt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.


30.

Die Consequenzen unserer guten Handlungen verfolgen uns unerbittlich und sind oft schwerer zu tragen als die der bösen.


31.

Die Gutmüthigkeit gemeiner Menschen gleicht dem Irrlicht. Vertraue nur seinem gleißenden Schein, es führt Dich gewiß in den Sumpf.


32.

Es giebt Frauen, die ihre Männer mit einer ebenso blinden, schwärmerischen und räthselhaften Liebe lieben, wie Nonnen ihr Kloster.


33.

Gebrannte Kinder fürchten das Feuer oder vernarren sich darein.


34.

Mitleid ist Liebe im Négligé.


35.

Ehen werden im Himmel geschlossen, aber daß sie gut gerathen, darauf wird dort nicht gesehen.


36.

Wer an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt, hat nie geliebt und nie gehaßt.


37.

Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.


38.

Ein Dichter, der einen Menschen kennt, kann hundert schildern.


39.

Einer der seltensten Glücksfälle, die uns werden können, ist die Gelegenheit zu einer gut angewendeten Wohlthat.


40.

Die meisten Nachahmer lockt das Unnachahmliche.


41.

Haben und nichts geben, ist in manchen Fällen schlechter als stehlen.


42.

Der Arme rechnet dem Reichen die Großmuth niemals als Tugend an.


43.

Die Leute, denen man nie widerspricht, sind entweder die, welche man am meisten liebt, oder die, welche man am geringsten achtet.


44.

Die meiste Nachsicht übt der, der die wenigste braucht.


45.

Wenn ein Mensch uns zugleich Mitleid und Ehrfurcht einflößt, dann ist seine Macht über uns grenzenlos.


46.

Raison annehmen kann Niemand, der nicht schon welche hat.


47.

Wenn Jemand etwas tarnt, das gewöhnliche Menschen nicht können, so trösten sie sich damit, daß er gewiß von allem, was sie können, nichts kann.


48.

Hüte Dich vor der Tugend, die zu besitzen ein Mensch von sich selber rühmt.


49.

Wenn man nur die Alten liest, ist man sicher, immer neu zu bleiben.


50.

Das Mitleid des Schwächlings ist ein Licht, das nicht normt.


51.

Wer sich seiner eigenen Kindheit nicht mehr deutlich erinnert, ist ein schlechter Erzieher.


52.

Die eingebildeten Uebel sind die unheilbarsten.


53.

Selbst der bescheidenste Mensch hält mehr von sich, als sein bester Freund von ihm hält.


54.

Wenn der Kunst kein Tempel mehr offen steht, dann flüchtet sie in die Werkstatt.


55.

Man muß das Gute thun, damit es in der Welt sei.


56.

Der Haß ist ein fruchtbares, der Neid ein steriles Laster.


57.

Wir sollen immer verzeihen, dem Reuigen um seinetwillen, dem Reuelosen um unseretwillen.


58.

Das Motiv einer guten Handlung ist manchmal nichts anderes, als zur rechten Zeit eingetretene Reue.


59.

Das Vertrauen ist etwas so Schönes, daß selbst der ärgste Betrüger sich eines gewissen Respects nicht erwehren kann vor dem, der es ihm schenkt.


60.

Was Du zu müssen glaubst, ist das, was Du willst.


61.

Auch die Tugend ist eine Kunst, und auch ihre Anhänger theilen sich in Ausübende und in bloße Liebhaber.


62.

Das Alter verklärt oder versteinert.


63.

Die Güte, die nicht grenzenlos ist, verdient den Namen nicht.


64.

In der Jugend lernt, im Alter versteht man.


65.

Es ist ein Unglück, daß ein braves Talent und ein braver Mann so selten zusammen kommen!


66.

In einem guten Buche stehen mehr Wahrheiten, als sein Verfasser hinein zu schreiben meinte.


67.

Wir entschuldigen nichts so leicht als Thorheiten, die uns zuliebe begangen wurden.


68.

Unbegründeter Tadel ist manchmal eine feine Form der Schmeichelei.


69.

Sei Deines Willens Herr und Deines Gewissens Knecht.


70.

Natur ist Wahrheit; Kunst ist die höchste Wahrheit.


71.

Zu späte Erfüllung einer Sehnsucht labt nicht mehr. Die lechzende Seele zehrt sie auf wie glühendes Eisen einen Wassertropfen.


72.

Die Thoren wissen gewöhnlich das am besten, was jemals in Erfahrung zu bringen, der Weise verzweifelt.


73.

Wenn die Neugier sich auf ernsthafte Dinge richtet, dann nennt man sie Wissensdrang.


74.

Etwas sollen wir unseren sogenannten guten Freunden immer abzulernen suchen — ihre Scharfsichtigkeit für unsere Fehler.


75.

Die Liebe hat nicht nur Rechte, sie hat auch immer recht.


76.

Nur was für die Gegenwart zu gut ist, ist gut genug für die Zukunft.


77.

Nicht jene, die streiten, sind zu fürchten, sondern jene, die ausweichen.


78.

In jedem tüchtigen Menschen steckt ein Poet, und kommt beim Schreiben zum Vorschein, beim Lesen, beim Sprechen ober beim Zuhören.


79.

Unerreichbare Wünsche werden als "fromme" bezeichnet. Man scheint anzunehmen, daß nur die profanen in Erfüllung gehen.


80.

Der Geist ist ein intermittirenber, die Güte ein permanenter Quell.


81.

Man kann viele Dinge kaufen, die unbezahlbar sind.


82.

Wenn zwei brave Menschen über Grundsätze streiten, haben immer beide recht.


83.

Nichts ist weniger verheißend als Frühreife; die junge Distel sieht einem zukünftigen Baume viel ähnlicher als die junge Eiche.


84.

Wenn die Mißgunst aufhören muß, fremdes Verdienst zu leugnen, fängt sie an, es zu ignoriren.


85.

Die Theilnahme der meisten Menschen besteht aus einer Mischung von Neugier und Wichtigthuerei.


86.

Macht ist Pflicht — Freiheit ist Verantwortlichkeit.


87.

Seit dem bekannten Siege der Schildkröte über den Hasen halt sie sich für eine Schnellläuferin.


88.

Es giebt Fälle, in denen vernünftig sein, feig sein heißt.


89.

Sich mit Wenigem begnügen ist schwer, sich mit Vielem begnügen noch schwerer.


90.

Die Bescheidenheit, die zum Bewußtsein kommt, kommt ums Leben.


91.

Für das Können giebt es nur einen Beweis: das Thun.


92.

Wenn Du einen vielbetretenen Weg lange gehst, so gehst Du ihn endlich allein.


93.

Es giebt Menschen mit leuchtendem und Menschen mit glänzendem Verstande. Die ersten erhellen ihre Umgebung, die zweiten verdunkeln sie.


94.

Man fordre nicht Wahrhaftigkeit von den Frauen, so lange man sie in dem Glauben erzieht, ihr vornehmster Lebenszweck sei — zu gefallen.


95.

An das Gute glauben nur die Wenigen, die es üben.


96.

Der am unrechten Orte vertraute, wird dafür am unrechten Orte mißtrauen.


97.

Es würde sehr wenig Böses auf Erden gethan werden, wenn das Böse niemals im Namen des Guten gethan werden könnte.


98.

Alles wird uns heimgezahlt, wenn auch nicht von Denen, welchen wir geborgt haben.


99.

Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, die geben uns den Halt im Leben.


100.

Es giebt eine schöne Form der Verstellung: die Selbstüberwindung, — und eine schöne Form des Egoismus: die Liebe.


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