Ruhe

Mit tiefer Beschämung siehst du, Seele, daß du zur Ruhe noch nicht gelangt bist, zu der großen, weiten Ruhe, die du seit deiner Kindheit ahnst, von der du das Fittigstreifen oft empfunden hast, und die immer wieder an dir vorüber gebt, als wärest du ihrer immer noch nicht wert. Siehst du, Seele, die Ruhe kommt nicht von selbst in dich hinein, weil du ein höheres Alter erreichst, oder bittere Erfahrungen gemacht hast, oder gleichgültig geworden bist gegen der Menschen Urteile, und Lob und Tadel dich vollkommen kalt lassen. Dieses alles ist noch nicht die Ruhe. Es ist ein Teil des Weges zu ihr hin. Die Ruhe ist so groß, so hehr, so erhaben über alles, daß der Weg zu ihr steil und hart sein muß. Denn sie ist der Vorgeschmack des Himmels, wenn nicht der Himmel selbst.

Warum wir den Himmel nicht in der Brust tragen und nicht behalten können, wie Fiesole und seine Engel, das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, woher wir stammen, und was wir ertragen müssen, noch wofür. Aber, daß wir zur Ruhe wollen, das wissen wir alle.

Warum wollen wir denn zu ihr? Warum erscheint sie uns als das köstlichste Gut, das uns die Arbeit doch nicht widerstrebt, sondern im Gegenteil unser Trost gewesen ist in vielen Nöten. Aber die Ruhe ist doch noch viel mehr als die Arbeit. Warum? Wir haben eine Ahnung davon, daß Schauen mehr ist als Tun, Denken mehr als Leisten, Empfinden mehr als Dienen, Anbeten mehr als Schaffen.

Und wir leisten, dienen, schaffen doch gern, und unsere Hände liegen nicht leicht müßig im Schoße. Aber uns winkt dennoch der Gedanke, die Einkehr in unser innerstes Heiligtum als das Höchste und Erhabenste, wonach wir streben können. Warum? Und warum sind wir so tief beschämt, wenn irgend ein äußerer Umstand sich diesem hehren Ziele widersetzt in uns, und uns aufhält, oder gar uns wiederum mehrere Klafter zurücksinken läßt auf dem bereits durchlaufenen Wege.

Und dann überfällt dich das Schamgefühl, daß du noch so klein bist, wo du schon gemeint hattest, Flügel ausbreiten zu können. Falte sie und bescheide dich, und klimm wieder. Denn die Ruhe ist erreichbar, und wärest du noch so stürmisch gebaut, einmal ist sie da, einmal kann dich nichts mehr von ihr trennen, und dann darfst du sie andern schenken, ohne sie zu verlieren, im Gegenteil, je mehr du von ihr verschenkst, um so reicher wirst du selbst. Alles Seelenschenken macht den Geber reicher und manchmal weit über das hinaus, was er hergegeben hat. Auch die Scham darf dich nicht überwältigen, denn sie ist eine neue Unruhe und Herzensangst, und Qual, sie muß rasch überwunden werden, du mußt auch das Schamgefühl beherrschen und über demselben stehen, und es hinuntersenden, dorthin, wo du hergekommen bist, und wo du nicht mehr hingehörst. Es ist eben so traurig, daß wenn du gemeint hast, einen großen Schritt getan zu haben in die Ruhe hinein, du dich desto leichter herausstören läßt, und wieder zurückrufen in des Lebens Kampf und Unrast hinein. Sieh, Seele, du mußt nicht dem Leben so großen Wert beilegen, hier liegt der Fehler. Es ist alles viel unwichtiger, als du denkst, alles viel kindischer als du wähnst. Das lieben ist eine große Kinderei, und die Erde eine schmerzvolle Erziehungsanstalt, ein Waisenhaus, eine Besserungsschule, und da geht's oft hart der, und unerbittlich, aber das Ende ist eben, daß du dich aus der Schule frei machst, Seele, und selbst wanderst, ungeführt, ungescholten, ungestraft, dem Lichte entgegen, der Ruhe in die Arme. Diogenes hat gemeint, sie gefunden zu haben in der Bedürfnislosigkeit. Er aber irrte, insofern er keinem Menschen Gutes erwies, sondern alle verachtete. Dazu bist du selbst zu schwach, Seele, verachten darfst du selbst nicht deinen bittersten Feind, denn du weißt manchmal nicht, was ihn dir zum Feinde gemacht hat, oftmals ein ganz geringes Mißverständnis, eine unbedeutende Kleinigkeit. Auf der Erde sind der unbedeutenden Kleinigkeiten soviel, denen wir zu großen Wert beilegen, und uns viel zu sehr darum kümmern. Die Kleinigkeiten hindern uns oft am allermeisten auf unserm Wege. Der Tag bringt deren so viele, und das Leben ist so lang für den, der viel erlebt, für welchen jede Stunde ein reiches Erleben oder eine Pein enthält. Das Leben ist nur kurz, wenn es einförmig ist, wenn ein Tag dem andern so sehr gleicht, daß man die Rechnung verliert. Das hat uns dem Begriffe der Ewigkeit nahe gebracht. Wir haben verstehen lernen, daß immerwährendes Schauen zeitlos ist, und daß unsre Erdenmaße, die nur durch den Wechsel der Jahreszeiten bedingt sind, nicht zählen in den großen Maßen der Ewigkeit.

Die Ruhe ist ewig und unbeweglich und vollkommen. Darum erreichen wir sie so schwer, wir, die lauter Bewegung, Rastlosigkeit und Unvollkommenheit sind. Die Kirchenglocken sagen: Ruhe! Den Sonntag haben wir eingesetzt, um ein Ruhegefühl zu haben, das oft schlecht genug gebraucht wird, und von einem Ruhetage wenig an sich trägt. Ruhe wäre eben Denken für den Menschen, da ihm der Gedanke geschenkt ist als höchste Kraft. Diese Kraft verausgabt er immerfort, und da wäre der Ruhetag dazu da, um diese Kraft zu erneuern, und sich zu fragen, wie nahe sie uns der Ruhe gebracht hat. Aber da soll es Vergnügen heißen, und ach, was wir Vergnügen nennen, ist der Ruhe so fern, wie ein Pol dem andern.

Die Inder wußten, daß es die höchste Kraft ist, zu denken und sich in Schauen zu versenken. Die Inder suchten der Ruhe nahe zu kommen, aber sie erreichten sie nur durch einsames Abtöten des Leibes. Dazu ist der Leib aber nicht gegeben, um ihn zu töten, so lange er uns noch dienen kann. Die Ruhe trotz des Leibes und in demselben und in der Welt und von ihr umringt zu erlangen, ist weit mehr als das indische Sichzurückziehen.

Es gibt Menschen, die es von selbst haben, aber die sind zuweilen so selbstsüchtig wie Diogenes, und tun den Mitmenschen nicht wohl mit ihrer Ruhe, die wie Gleichgültigkeit erscheint und niemanden erquickt.

Die errungene Ruhe ist weitaus höher und besser, da sie das Ergebnis eines Gebens voll Qual ist, und einer fortwährenden Selbstdisziplin. Wie viel Reue und Herzeleid, wieviel Fallen und Wiederaufstehen bedeutet sie, wieviel Aufgeben seiner Herzenswünsche, wieviel Entsagen, da wo einmal Hoffnung stand. Um zur Ruhe zu gelangen, muß eine vollkommene Wunsch- und Hoffnungslosigkeit im irdischen Sinne eingekehrt sein. Das scheint dir traurig, Seele, wie ein Abschied von allem, was dem Leben Reiz und Wert verlieh, aber dem ist nicht so, die Wunsch- und Hoffnungslosigkeit ist nur eine höhere Stufe des Daseins, ein Verstehen der Führungen, denen man unterworfen gewesen ist. Was die Menschen dabei getan haben, muß man lernen zu verzeihen. Wer nicht verzeihen kann, der ist der Ruhe noch ganz fern. Und Verzeihen ist schwer. Denn oftmals fühlt man, daß etwas in uns zerstört worden ist, wohl nicht mutwillig, nicht einmal aus Haß oder Neid oder Feindschaft, aber in bester Absicht und hellem Unverstand, und da ist am allerschwersten zu verzeihen, weil es hoffnungslos ist. Nichts kann das wieder aufrichten, was niedergestürzt ist, nur deine eigne stete Kraft, Seele, das Bewußtsein, daß du allein deinem eigensten Ziele entgegengehen mußt, ungeführt, ungehindert, daß keiner zerstören kann, was lebensstark in dir ist. Du meinst es nur, weil du Mühe hast, das Gefallene wieder aufzurichten und ihm das Leben wiederzugeben, das man hat vernichten wollen. Aber Seele, du bist doch stärker als äußere Umstände, stärker als die wohlmeinenden Peiniger, stärker als das Unverständige um dich her. Gib doch den Versuch auf, verstanden zu werden. Du bist dazu viel zu eigentümlich und dir allein angehörend, du kannst nicht im Geleise gehen? Um so besser für dich, so geh nicht im Geleise, sondern deinen eigenen Dornenpfad, oder pfadlos, wie es eben kommt. Die andern können keinen Weg für dich bahnen, wie sehr sie es auch versuchen, du mußt dahingehen wie der Schauende, der sich nicht viel um das Dornengestrüpp kümmert, das seine Füße verwundet, und seine Stacheln bis ins Herz hinein versenkt. Du sollst nach den Strahlen greifen, die du siehst, und die oftmals deine Umgebung garnicht wahrnimmt, du sollst selbst die Helle sehen, nicht die andern, du sollst ihnen zeigen, daß dein Weg klar ist, auch wenn sie es zuerst nicht glauben wollen.

Dann wird deine Ruhe vieler Ruhe werden, und da wir einer für den andern auf der Erde sind, so ist es höchst wichtig, daß wir ihnen unser Ruhegefühl mitteilen, und sie mitnehmen, dahin, wo es keine Unrast mehr gibt. Warum denn nicht einen Himmelseingang aus der Erde machen? Dazu ist jeder da, um den andern diesen Himmelseingang zu bauen. Die Philosophen haben sich vergebens besonnen, wozu wir hier sind und was wir eigentlich hier machen.

Wenn wir aber den andern den Himmel auf die Erde niederziehen, so brauchen wir nicht zu fragen, was wir tun und was unser Zweck ist, die Frage wird uns garnicht mehr kommen. Wir wollen nur Ruhe und den andern helfen, dahin zu gelangen.

Ist es nicht eigentlich genug? Ob wir vom Affen abstammen oder vom Engel, ob unser Gehirn gröber oder geringer ist als das der Ameise, ob das Ich die Hauptsache ist. ob der Geist, oder der Stoff, das sind müßige Fragen, dem gegenüber, daß wir die Ruhe erreichen. Der Tod ist nicht so gewiß die Ruhe, als es scheint, da wir nicht willen, was hinter dieser Pforte steht und uns immer fragen, ob die scheinbare Ruhe Wahrheit oder Täuschung ist. Denn Schweigen ist noch lange nicht Ruhe, Und was schweigt im Tode? Die Lippen, weiter nichts, das Auge, weiter nichts. Aber das, was Lippen und Augen bewegt hat, schweigt das auch? oder durchwandert es neue Angst und neue Unruhe, und neue Bahnen, die wir zuweilen ahnen, aber niemals Schauen dürfen. Die Ruhe muß vorher erreicht sein, ehe die Lippen sich schließen und keinem mehr verraten dürfen, was die Seele erlebt.

Ruhe war von jeher der Menschen sehnlichstes Begehr und sie haben auf jede Weise versucht, dieselbe zu erreichen, die einen wollten reich sein, um ruhen zu können, die andern arm, um bedürfnislos zu werden, die andern ließen sich pensionieren und meinten, wenn sie nur aus der Tretmühle des täglichen Berufs heraus wären, so hätten sie die Ruhe von selbst. Die Arbeiter jeder Klasse fanden den Sonntag gut zum Ruhen, und sie taten recht daran, da sie neue Kräfte sammelten. Dieses alles aber ist nicht die Ruhe, welche eine Errungenschaft eignen Kampfes und eigner Kraft ist. Denn die wirkliche Ruhe ist unabhängig von äußeren Umständen und von allen Schwierigkeiten und Anstrengungen im Dienste der andern. Die Ruhe ist das Überallemstehen der eignen freien klaren Seele. Und die die Seele leugnen, verlangen ebenso eifrig nach Ruhe wie die andern, die den Körper für nichts achten. Die Gedanken der Menschen sind verschieden, ihr Sehnen ist eins, das ändert sich nicht und in keiner Lebenslage.

Was die Krankheit aus dir machen soll, Seele, das fragst du dich.

Du bekämpfst sie, als wäre sie deine ärgste Feindin, und weißt nicht, daß sie oftmals eine Freundin ist, die dir den Weg zur Ruhe zeigen will. Die Krankheit ist wohl eine der schwersten Prüfungen auf dieser Erde, wenn wir sie aber richtig benutzen, so ist sie ein wunderbarer Weg. Manchmal kommt sie als Erlösung aus unerträglicher Lage, als Befreierin von großer Not, da sie einen Stillstand bringt am Rande des Abgrundes und einen Ruhepunkt inmitten großer Anfeindung und Gefahr.

Manchmal kommt sie, weil die Seele sich nicht vom Körper lösen wollte, sondern zu sehr in ihrer zeitweiligen Wohnung gefangen war, da mußte die Krankheit kommen, die Wohnung so vernichten, daß die Seele sie verließ und einen andern Weg einschlug, um Ruhe zu finden. Hier liegt das Mittel des Inder, das Freiwerden vom Körper ganz nahe. Denn die gezwungene Untätigkeit gibt den Gedanken freie Bahn, und die langen Stunden, die man wach auf dem Lager liegt, bringen die Seele in wunderbare Schwingungen, erheben sie in unbekannte Gegenden und lassen sie mit sich selbst allein. Es gibt Leben, in welchen diese Selbsteinkehr durch die Verhältnisse unmöglich gemacht wird, da kommt die Krankheit und ruht aus und gibt der Seele die Speise, die ihr gänzlich versagt war. Da bedarf es keiner Bücher und keiner fremden Gedanken. Da lernt die Seele Dinge verstehen, die ihr keine Bücher lehren können.

Man kann so hoch über den Schmerzen des Leibes stehen, daß die Schmerzen nur eine Anregung werden zur Freiheit der Seele, daß, je stärker der Geist, je unvermögender die Glieder, desto reiner der Ruhe Empfindung. Krankheit ist nicht so schlimm, als wir es oftmals wähnen. Wir wollen nur nicht immer lernen, was sie uns lehren will. Wir wehren uns gegen ihre Qual und wollen die Hitze der Esse nicht tragen. Sobald wir uns aber der Schule hingeben ohne Gegenwehr, bemerken wir, daß wir steigen können und daß unsichtbare Flügel wachsen. Wir merken es bald an der Umgebung, die gern an unser Lager tritt und oftmals Erbauung und Ruhe empfindet, anstatt vom Mitleid verletzt zu werden. Auch Mitleid zu erwecken ist gut, da es den Mitmenschen nötig ist, durch Mitleid zu wachsen, und durch Mitleid von Selbstsucht befreit zu werden. Auch hierin ist der Kranke seinen Mitmenschen nützlich, ohne es zu wissen und zu wollen. Wenn er freilich ungeduldig ihnen ihre Aufgabe erschwert, dann hat er die Krankheit und ihre Lehre nicht verstanden, dann geht sie spurlos an der Seele vorüber und hat sie nicht höher gehoben und nicht gestärkt und nicht gereinigt von Erdenschlacken. In den langen Stunden der Nacht ist es oft, als wäre ein Gespräch in uns mit uns selbst oder mit andern, Unsichtbaren, ein Hin und Her der Fragen und des Wissens, das uns weit fortführt in unbekannte Regionen. Zuerst wehrt man sich verzweifelt gegen Schmerzen und Schlaflosigkeit, bald aber lernt man und lauscht man den Lehren, welche die Nacht uns zuflüstern will in ihren heimlichen Worten, wenn alles schläft. Sie flüstert von der Ruhe, nicht nur der Ruhe im Tode, sondern von der erhabenen Ruhe der Seele, die über dem Körper steht, mit ihrer Kraft und Einsicht. Sie flüstert von den vielen, die früher gelitten haben, und die so geduldig den andern Menschen viel gelehrt und viel geholfen haben, während sie meinten, sie seien hülfreich. Die Kranken, welche qualvolle, lange Nächte geduldig und mit sich selbst allein zuzubringen den Mut haben, die erringen etwas, das ihnen keine andere Arbeit an sich selbst gebracht hätte.

Nicht klagen, nicht weinen, sondern dem Schmerze sagen: »Ich bin stärker als du, denn ich trage die Ruhe in mir!«

Seelenschmerz kann auch zur Ruhe hinanführen. Aber schwerer. Denn im Seelenschmerz bleibt so oft die Frage: Warum? Und die verscheucht die Ruhe. Könnten wir das nicht fragen, sondern geduldig sein und denken, daß wir ein Teil vom Ganzen sind und daß unser Schmerz vielleicht für andere Glück ist, oder aus einer Verkettung von Verhängnissen kommt, deren furchtbare eiserne Gerechtigkeit bewunderungswürdig ist, so würden wir geduldiger bleiben und sogar im Seelenschmerz zur Ruhe hindurchdringen.

Seele, sei geduldig, geh deinen Weg zur Ruhe, das ist dein einziger Weg, alle andern sind Scheidewege und führen zu nichts. Die Ruhe ist dein Ziel, die Ruhe dein Himmel, wenigstens der Himmel, den du für den Augenblick begreifen kannst. Die Ruhe ist, was dich göttlich unnahbar, erhaben, und dennoch so gütig und friedlich und nachsichtig macht. Die Ruhe ist eine unerschütterliche Kraft. Geh der Ruhe entgegen, liebe Seele, und zaudere nicht und frage nicht. Geh zur Ruh!

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