Martin Buber über Lebensweisheit

  • Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Martin Buber

österreichisch-israelischer Religionsphilosoph und Schriftsteller

* 08.02.1878 Wien (Österreich)
† 13.06.1965 Jerusalem (Israel)

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

In Momenten der ruhigen Besinnung aufs eigene Leben mag sich so manch ein Mensch leise fragen, was denn eigentlich das Wesentliche in seinem Leben ist oder auch war. Lässt er sich näher darauf ein, dann erscheint dem einen vielleicht ein gigantisches Panoptikum von Möglichkeiten. Der andere weiß es vielleicht zunächst nicht einmal mit einem imaginären Bild zu füllen und braucht eine längere Zeit, bis sich in seiner Seele dazu die rechte Stimmung entwickelt.

Wir wissen alle, dass zum guten Leben, wie wir es gerne alle hätten, gleich eine große Vielfalt von Voraussetzungen notwendig sind. Es beginnt mit den existenziellen Bedürfnissen, die gesichert sein müssen und für die meisten wohl auch den Wunsch nach Unversehrtheit und Gesundheit mit einschließen. Hat man diese nicht und ist auf Hilfe durch andere Mitmenschen angewiesen, ist schon eine Abhängigkeit gegeben, die ein Leben durchaus erschweren kann. Zur Grundexistenz eines Wohlbefindens gehören auch die Fragen nach Unterkunft, Auskommen, Wohnung, Nahrung und vieles andere mehr. All das ist wiederum von einem Einkommen abhängig, hinter dem im Regelfall eine bezahlte berufliche Arbeit steht – so man nicht das Glück hatte, gleich in einen familiären Reichtum hineingeboren zu sein. Doch auch ein regelmäßiges Einkommen ist für viele Menschen noch immer ein unerfüllter Wunsch.

Sind jedoch die Grundbedürfnisse erfüllt oder gegeben, so verfeinert der Mensch zumeist die Ansprüche ans Lebenswerte des Lebens schnell um weitere Nuancen. So zum Beispiel die Frage nach den eigenen Talenten und ihren Einsatzmöglichkeiten. Mögen sie musischer, naturwissenschaftlicher oder handwerklicher Art sein. Wer über Talente verfügt und das Glück hat, sie ausleben zu dürfen, erfährt in jedem Fall eine Bereicherung der Lebensqualität, die über die existenziellen Bedingungen bereits hinausreichen.

Weitere Verfeinerungen in der Kunst des Lebens mögen auf geistigen Fähigkeiten liegen. Dazu gehören neben geschärftem Denken, einer guten Analysefähigkeit oder auch einem bodenständigen Durchblick auch eine weiterentwickelte Feinfühligkeit, die in der Lage ist, über den eigenen Horizont hinaus wirksam zu werden. Ob dies den engsten Kreis der eigenen Familie betrifft, auf Freunde, Nachbarn, Kollegen ausgedehnt wird oder sich so universell zeigt, dass es auch jedem Fremden in gleicher Weise gilt, ist eine Frage der inneren Reife.

Kommt man gedanklich an diesen Punkt der Persönlichkeitsentwicklung, so spürt man dasjenige, was Martin Buber in seinem Zitat postuliert. Die Begegnung erst wird zum wirklichen Leben!

Eine Symbiose von tiefer Bedeutung

Der österreichisch-jüdische Religionsphilosoph Martin Buber wusste sehr genau, von welcher Kraft er sprach. Immer wieder neu behandelte er in seinen philosophischen Schriften die Thematik des Dialogs – also der Begegnung zwischen den Menschen. Für ihn stand dahinter ein anthropologisches Prinzip, das sowohl im Verhältnis zu Gott als auch zum Mitmenschen von großer Bedeutung war.

Doch was zeichnet für den Normalmenschen ohne philosophische Hintergründe die Kraft der Begegnung als Besonderheit aus? Wer sich in die Tiefe einer Beziehung einlässt und eine freie Menschenliebe in sich schon entwickelt hat, wird unmittelbar in der Begegnung etwas verspüren, das gleich viele Facetten in uns ansprechen kann. Da ist nicht nur das Gefühl des Wahrgenommenseins durch den anderen Mitmenschen, der gegenseitige Respekt, sondern auch in so manchem Falle ein Erkennen im anderen, ein Heimatgefühl, eine innere Aufnahme, die von einer Herzenswärme ruhig und sicher getragen ist.

Begegnung meint hier nicht den Small Talk am Straßenrand, sondern den kurzen oder auch langen mystischen Augenblick, wo sich die Seelen der Menschen treffen. Nicht die Dauer dieses Treffens ist entscheidend, auch nicht immer die Inhalte, sondern dieses besondere Gefühl der Einzigartigkeit durch eine Nähe, die mit Worten alleine nicht zu beschreiben ist. Die Intensität ist dann eine unmittelbare und hat jene besondere Qualität, die nachhaltig wirkt. Begegnung kann in der Stille stattfinden und hat seinen ganz eigenen Raum. Nicht jedem Menschen ist es gegeben, diesen Hort der Gemeinsamkeit auch schon betreten zu können. Die Eintrittskarte erwirbt sich ein jedes Individuum allein durch seine eigene Reifeentwicklung. Dazu gehört ein Einschwingen auf die Gestimmtheit des anderen in einer gegebenen Situation.

Begegnungen, von denen hier die Rede ist und die unser Leben in besonderer Weise ausmachen, können wortreich oder wortlos geschehen. Entscheidend ist allein eine spontane Symbiose zwischen den Begegnenden, die ungeplant wie durch einen Gnadenakt zu entstehen scheint. Die Gegenwart wird als zeitlose Zeit empfunden. Es liegt ein Zauber, ein empfundenes Glück in solchen Momenten des Einlassens auf dem anderen, das von einer besonderen Zartheit ist. Man weiß und fühlt wie der andere. Man kann sich in ihn hineinversetzen und scheint für magische Momente zu einer glücklichen Einheit zu verschmelzen.

Solche Begegnungen tragen einen Zauber, der über alle sonstigen Talente der Menschen hinaus zu einer Krönung im Zwischenmenschlichen wird. Hier kann jenes wirkliche Leben erfahren werden, von dem uns Buber erzählt. Es zu erleben, ist potenziell jedem Menschen gegeben. Was es dafür braucht, ist vor allem die Entwicklung der Menschenliebe.

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