Reinheit

Du wußtest nicht, als du das Erdenleben auf dich nahmst, Seele, wie dunkel es sein würde. Oder mußtest du es wohl? Hast du das schwere Leben erwählt, um den Brüdern zu dienen, oder, um rascher emporzuklimmen durch all das schwere dindurch? Denk, du habest selbst dein Los erwählt, dann trägst du es leichter. Dann drückt es nicht so sehr, und du hast den Eindruck, als würdest du größer, reifer, reiner durch alles, was du erduldet. Du hattest gemeint, die Reinheit sei dein Heil, da du nicht vergessen könnest, Seele, daß du eine Himmelgeborene, aber siehe, die Erde hat dich in ihrer Gewalt, und du durftest nicht reiner bleiben als die andern, die alle von Körpernot und Körperschwäche niedergezogen werden.

Du wußtest doch, was Reinheit ist, oder wußtest du auch das nicht mehr? Mußtest du es begreifen lernen dadurch, daß du sie verloren? Oder waren deine Begriffe von der Reinheit überhaupt falsch? Zur Reinheit gehört Heldenkraft, das haben alle Zeiten verstanden, die sieghafte Engel gegen Drachen streiten ließen, und Helden von der Tafelrunde ihrer Reinheit halber unbesiegbar machten.

Also haben alle Zeiten gewußt, daß Reinheit eine Kraft und eine Hoheit verleiht. Übrigens fühlen alle den Zauber der Unschuld in den jungen Kindern. Alle beugen sich vor dem zarten Wesen, das gut und böse noch nicht unterscheiden kann.

Was ist denn Reinheit?

Das ist wohl schwer zu beantworten, denn Reinheit kann ohne Unschuld bestehen, nicht aber Unschuld ohne Reinheit. Reinheit kann nicht erworben werden, sie ist wie ein Instinkt, etwas Angebornes, nicht zu Entäußerndes, oder doch zu Entäußerndes? Könnte sie erhalten bleiben, oder muß sie im Lebenskampfe immer untergehen? Worin besteht sie? Sie besteht nicht im Nichtwissen, aber vielleicht im Nichtwissen-Wollen? Sie besteht nicht in der Dunkelheit, da sie Licht ist. Auf der Erde sind aber so viele Dinge, welche der Reinheit widerstreben, und die sie gar nicht wissen noch berühren Reinheit erscheint manchem kindlich und ist es noch nicht einmal so sehr. Denn sie ist alles überwältigend, da, wo sie auftritt. Es ist wahr, daß sie siegt, daß man sie nicht erdrücken kann, daß sie stärker ist als das Böse, das sie berühren will, um sie niederzuziehen zu sich. Denn es ist sonderbar, wie die Unreinen nicht vertragen können, daß einige rein bleiben und dadurch über sie erhaben, anstatt anzubeten und niederzuknien und zu bitten, auch zu der Höhe empor steigen zu dürfen.

Wir sehen oftmals junge Menschen sterben, die zu rein sind, um vom Erdenschmutz berührt werden zu dürfen. Wir haben selbst das Gefühl, daß sie bewahrt worden sind, indem man sie hinweggenommen hat von allem, was ihnen ihre eigne Seele verdunkelt hätte. Diese waren der Erde nur geblieben, damit die Erde daran erinnert werden würde, wie rein sie sein sollte und könnte, wie das Paradies noch immer vorhanden ist und erreichbar bleibt, wenigstens für unsern Blick, wenn wir es auch nicht mehr betreten dürfen. Aber diese Wesen tragen das Paradies in sich, sie wissen es gar nicht einmal, sie ahnen nicht, daß sie Licht sind, und schön und erhaben. Manchmal werden sie vom Neid der andern verfolgt und können nicht begreifen, warum man ihnen so wehe tut. Die Bösen wollen sie nicht anerkennen, nickt dulden.

Die Bösen? Wer sind die Bösen?

Das sind die Unglücklichen, die vielleicht seit Aeonen zum Bösesein verurteilt sind, zur Strafe für irgend eine Tat der Vergangenheit, und die Böses tun müssen auf der Erde, auf der sie die Rolle der Teufel oder des Teufels spielen sollen, um das Gutsein der andern zu erschweren und verdienstvoller zu machen, was sonst gar kein Verdienst wäre, sie sollen in Versuchung führen, sie müssen weinend das Unrecht tun, das sie nicht bereut hatten und darum verurteilt sind, es wieder zu tun, oder noch Schlimmeres zu tun, und diese armen Seelen stehen da und zittern vor den Reinen, als wären das ihre Richter gewesen. Wer weiß, ob sie es nicht waren, und ob die also Verurteilten nicht empfinden, was wahr ist. Oder verurteilen wir uns selbst im sogenannten Jenseits. Müssen wir selbst unsere vergangenen Existenzen sehen und uns selbst zuerkennen, wohin wir gehören, nicht als Strafe, sondern als einfache Folge? In wie weit sind wir verantwortlich? Diese ewige große Frage wird immer und immer wieder erscheinen und von so vielen abgelehnt, weil sie lieber nicht verantwortlich wären. Sie sagen, sie haben weder ihre Eltern, noch die Lebensstunde gewählt, in welcher sie auf der Erde erschienen sind. Wer sagt denn das? Wer sagt, ob wir nicht unsere Eltern wählen, und ob die sogenannte Liebe nicht einfaches Drängen der Seele ist, die ihre künftigen Eltern zusammenführt, um die Erde betreten zu können?

Warum es so eingerichtet ist, daß zwei Wesen notwendig sind, um ein drittes zu zeugen, das ist uns ebenfalls dunkel, denn wir kennen keine andere Entstehungsart, wenn wir sie uns auch sehr wohl denken könnten. Darum sind wir so vielverlangend von unsern Eltern und so selbstsüchtig ihnen gegenüber, weil wir von ihnen die ganze Kraft fordern, mit der wir ausgestattet sein wollten, um den neuen Kampf mit einem neuen Dasein zu bestehen.

Wir kommen doch wohl zuerst im Zustande großer Wildheit auf die Erde, und bei jedem neuen Dasein bricht sich die Seele mehr Bahn, die selbst wie ein Embryo sich aus allerhand Dunkelheiten emporarbeiten muß und bei jedem neuen Dasein eine vollkommenere Gestalt annimmt.

Daß wir das frühere vergessen, ist gewiß sehr weise und gütig eingerichtet, denn sonst kämen wir vielleicht nie mehr in die Höhe und würden von denen erdrückt werden, die sich erinnerten, wie elend wir einst gewesen, oder wie schlecht oder wie niedrig gesinnt. Manchmal brechen noch alte überwundene Instinkte in uns hervor, über die wir vor uns selbst verwundert stille stehen und nicht begreifen, wie solch eine Rohheit uns noch heimsuchen kann, da wir von gebildeten Eltern zu sein scheinen.

Wer weiß ob die früh sterbenden Kinder nicht finden, daß sie ihr Elternpaar schlecht gewählt und unter ungenügenden und ungünstigen Bedingungen stehen, um das zu erreichen, was sie diesmal erreichen können und dürfen: und dann wollen sie lieber den Tod kosten, und von vorne beginnen, um höher zu kommen. Die Seele lebt so gewiß ihr eigenes, verborgenes Leben, als sie nicht von gestern ist. Sie geht Wege, die denen des Körpers fremd sind, mit denen der Beruf, den man äußerlich erfüllt, garnichts zu schaffen hat. Wer weiß, ob nicht der eine, der einst König war, eben die niedrigsten Dienste tut, und ob der Erzbischof nicht ein einfacher Landpfarrer geworden ist, und die Herrin eine Magd, und der Hirte ein König? Der äußere Beruf ist gewiß sehr unabhängig von der Seele und ihrem Arbeiten in sich selbst.

Daß die Seele Reinheit erlangen oder bewahren möchte, ist ganz gewiß, denn die heißesten Tränen vergießt der Mensch da, wo er fühlt, daß er herabgestiegen ist und sich besudelt hat. Und er möchte vor seinen Mitmenschen so rein als möglich dastehen. Daher hassen die armen Dirnen so ihre Verführer. Darum ist manche Frau verzweifelt, wenn sie sieht, daß sie an den unrechten ihr Herz gehängt, und daß die Ehe mit ihm sie täglich erniedrigen muß. Darum möchte der Mann sich im Staube wälzen, der sieht, daß er hätte rein bleiben sollen, um groß und stark zu sein, und daß er Leib und Seele in den Schmutz geworfen hat.

Rein sein, das ist allen eine Sehnsucht und ein endloser, tiefer Schmerz, wenn es unerreicht oder verloren scheint. Da wiederholt sich die Geschichte vom Paradiese täglich, da weinen die Vertriebenen, denen die Erde dunkel geworden ist. Da arbeiten sie und sehen, daß sie die Sünde gebären, daß Haß und Eifersucht aus ihnen kommen, daß die ersten bösen Regungen der Menschenseele an ihren reinen Kindern sich vollziehen, weil sie selbst ihr Paradies verscherzt haben. Manchmal gewinnt das Kind das Paradies wieder in einem wahren Märtyrertum, das es von aller Erdensünde frei macht, oder davor bewahrt, und das Leiden der Erde wie eine Feuerflamme alles an ihm reinigt, was von den Eltern her niedrig und gering sein könnte.

Zum Reinigen sind die ungeheuren Leiden da, deren Zweck wir manchmal nicht verstehen wollen oder können, zumal, wenn sie unschuldige Kinder treffen. Aber vielleicht hatte das Kind als reife, selbstbewußte Seele das Märtyrertum gewählt, um rein zu bleiben oder zu werden. Was wissen wir davon? Warum denn immer glauben, alles sei Zufall, ungewollt, unbestimmt, ungeordnet? Warum denn nicht einmal das Gegenteil annehmen? Warum nicht denken, daß alles in höchster Ordnung sich vollzieht? Daß wir leiden wollen, dürfen, können, daß wir einem viel höheren Ziele zustreben, als wir es selber wissen, und daß wir gern bereit sind, durchs Feuer zu gehen, wenn wir dadurch Schlacken los werden können!

Vielleicht dürfen wir unsern nächsten Beruf, unser Dasein, wählen und selbst bestimmen, welche Wege wir geführt sein sollen. Darum bleiben einige so fest in ihrer Bahn, denn sie haben nicht vergessen, daß sie aus eignem freien Willen sie erwählt, darum sind andere so verzweifelt glaubenslos, skeptisch, höhnend, weil die Verbrecher sind, die sich wie Galeerenskaven vorkommen und nicht ahnen, daß es lauter Barmherzigkeit ist, wenn sie nicht willen, wer sie sind, und daß besonders ihre Nebenmenschen es nicht erkennen.

Auf derselben Erde streifen sich Himmelskinder und Verbrecher, und sollen einander zum Nutzen werden und sich gegenseitig helfen. Auf derselben Erde gibt es Hunger und Herzeleid, und äußeres Glück und Wohlergehen, damit immer Hilfe neben dem zu großen unerträglichen Leiden stehe, und ihm unter die Arme greifen kann, wenn es Zeit ist. Manchmal ist vielleicht die Sühne vollzogen und könnte die erlöste Seele sich nicht aus ihrer Gefangenschaft befreien, wenn nicht einer die Hand ausstreckte und ihr wenigstens die äußeren Umstände so erleichterte, daß sie aufatmen und um sich blicken kann, warum haben die sogenannten Reichen eine so ungeheure Verantwortung und sollten so viel Gutes tun, daß ihr eigner Säckel nicht allzuvoll bleibt, sondern sich beständig im Dienste der Brüder leert. Einige bleiben von der Erde sogenannten Leidenschaften ganz frei und lernen sie nie verstehen, beschmutzen sich aber in anderer Weise, durch Selbstsucht oder Eigennutz, oder irgend eine kleine Schwäche, gegen welche sie nicht frühzeitig zu Felde gezogen sind. Wir haben das Gefühl, daß sogenannte Leidenschaft irdisch oder unrein ist. Warum? Während es für uns eine Liebe gibt, die wir für himmelgeboren und erhaben und veredelnd halten? Warum? Gibt es eine Liebe, die durch mehrere Existenzen geht? Gibt es eine Verschmelzung der Seelen, die so tief, so dauernd ist, daß, wenn sie auf der Erde sich begegnen, sie einander zufliegen, unaufhaltsam? Ist das die Liebe, von der wir glauben, daß ihr das Grab nichts anhaben kann? Ist das die Liebe, die uns rein erscheint?

Es gibt Menschen, die an gar keine reine Absicht glauben können. Vielleicht sind diese unter den verurteilten, armen Seelen, die auf der Erde umherirren und an das Gute nicht glauben, in welcher Form es auch erscheint. Es gibt geborene Verführer. Denn warum wären sie sonst mit sogenannter Unwiderstehlichkeit ausgerüstet? Eine Unwiderstehlichkeit, die aber auf die ganz reinen, kindlichen Seelen abstoßend wirkt, wie Schlangen. Was fühlen diese reinen Seelen? Wer sagt ihnen denn, daß hier Gefahr droht? Sie kehren sich ab, ungewarnt, ungewitzigt, nur aus einem feinen Instinkt, der ihnen sagt, daß hier etwas ist, das sie besudeln könnte, und mit einer gewissen Freude besudeln würde. Wer lehrt ihnen das? Sieht man nicht junge Kinder einen wahren Abscheu empfinden vor Leuten, die in der Gesellschaft für hinreißend liebenswürdig gelten? Und wenn ein solches Wesen seine erste Anziehungskraft ausübt, folgen dann nicht die unrein Beanlagten mit einem gewissen Schauder, und dem unbestimmten Gefühle, daß sie sich willkürlich in Gefahr begeben. Es gibt berufsmäßige Verführer, die an gar keine Unschuld glauben, weil sie eben nur solche beherrschen können, die durch irgend eine Ähnlichkeit im Gemüte zu ihnen hingezogen werden, und sie diejenigen nicht bemerken, die sich von ihnen fern halten. Es gibt ebensowohl Männer, die gewisse betörende Frauen fliehen, wie es Frauen gibt, die keinen Don Juan in ihre Nähe lassen, weil sie eben den Kultus der Reinheit haben, der in ihnen, wie eine Religion ist. Manche Gefahr entsteht dadurch, daß mitleidige Seelen den andern helfen wollen, sie retten möchten, und dann selbst nicht stark genug sind, ihnen zu widerstehen, und nicht begreifen, daß sie den Verführern keinen größeren Dienst leisten können, als ihnen fern zu bleiben und ihnen vollkommen unnahbar zu erscheinen. Sobald sie sich mit ihnen einlassen, ziehen sie den kürzeren, weil sie zu unschuldig sind, um die Schliche der Gefährlichen, der Teuflischen zu erraten. Aber ihnen zeigen, daß sie garnichts mit ihnen zu schaffen haben wollen, ist eine viel größere Hilfe für die armen Verurteilten, als es die sogenannten Reinen wissen. Die allergrößte Gefahr ist, mit einem gewissen Stolz ihnen zeigen zu wollen, wieviel besser man ist als sie, wieviel reiner und erhabener über der Welt Versuchungen. Das ist der Augenblick, den sie gern benutzen, um die schlecht behütete Veste zu stürmen. Sie sehen an diesem Hochmut, daß sie schwach ist und einnehmbar, und erreichen gerade dann ihre Zwecke, wenn der andre am sichersten ist ihnen zu widerstehen.

Wie mancher hat retten wollen, und ist nur selbst gefallen!

Es ist besser, wenn diejenigen, die eines Geistes sind, sich vereinigen und sich gegenseitig helfen, auf geraden Wegen zu bleiben, ohne Überhebung, ohne den Gedanken, die Welt zu verbessern. Dazu reicht ihre Einsicht nicht. Ihre Zeit, zu helfen, kommt, und der Gelegenheiten sind viele. Was braucht man sie aufzusuchen? Nur niemals denken; Ich bin rein! Oder, ich bin reiner als dieser oder jener! Erstens weißt du das nicht, liebe Seele, denn du siehst in den andern nicht hinein und in dich selbst auch nur sehr wenig, zweitens kannst du von dir selbst noch von andern sagen, wer oder was sie sind, denn es weiß es ja doch keiner. Das »Fνώδι σεαυτόν« war ein Irrtum. Denn es ist unmöglich, sich selbst zu kennen, da man nicht weiß, was man gewesen ist. Um sich selbst zu kennen, müßte man genau sagen können, wer man in früheren Existenzen war, und das ist uns vollkommen verhüllt.

Das Gute ist, Gott sei Dank, uns allen verständlich, und wir möchten gern gut sein. Viele, die sich dem Schlechten ergeben, tun es aus Verzweiflung, weil sie sich einbilden, so tief gefallen zu sein, daß es ihnen ewig unerreichbar ist. Dann leugnen sie das Gute überhaupt. Man sollte mit diesen nicht nur tiefes Mitleid haben, sondern sogar versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber nicht durch Worte, die an sie ganz verschwendet wären, da sie nicht geglaubt würden, sondern durch Taten der Liebe, der Aufopferung, des Edelmuts, der Güte. Nicht reden da, wo Reden nicht hilft.

Und wenn man dich verleumdet hat, liebe Seele, so habe doch Mitleid mit den Verleumdern und denke, daß sie sich gern einmal von deiner Reinheit überzeugen lassen werden; vielleicht dann, wenn du es gar nicht ahnst, wenn du zu großmütig vergessen halt, wie sehr ihre Zunge dich beschmutzt hat. Sie fallen dir zu Füßen und bitten dich in ihren Herzen um Verzeihung, wenn du es nicht weißt. Warum dich so kränken? Warum dich verteidigen? Gegen wen? Gegen viel Schwächere? Gegen solche, die die Reinheit nicht glauben wollen oder können, bis sie dieselbe mit Händen greifen, wie Thomas die Nägelmale? Sei geduldig, liebe Seele, und hülle dich in den weißen Mantel der Reinheit, und harre bis der Tag dich bescheint. Du weißt ja nicht, warum du unter der dunklen Wolke ungerechten Mißtrauens und Verdachtes einhergehen sollst, vielleicht zu deinem und der andern Frommen. Du sollst wie die Sonne verhüllt sein, um besser strahlen zu können, wenn die Stunde kommt, in welcher dein Strahlen den andern gut ist, und sie von irgend einer bezweifelten Wahrheit überzeugen soll. Du kannst es oftmals nicht begreifen, daß man dich für so viel geringer hält, als was du bist und als du deiner reinen Absichten halber verdient hast. Aber, wer hält dich für geringer und unwürdiger, als du meinst, es zu verdienen? Doch nur derjenige, der selbst gering und unwürdig ist, und dich nur nach dem Maße seiner eignen Einsicht beurteilen kann. Nichts ist wahrer, als daß man die andern nach sich selbst beurteilt. Wer gut ist, wird immer bei den andern das Gute voraussetzen, wogegen der Verurteilte sich immer mit den andern an derselben Galeerenkette wähnen wird, und ihnen andichten, was sie nie gedacht, was sie nicht haben denken können.

Du mußt nicht vergessen, liebe Seele, daß deine Reinheit ein Gegenstand des Neides für alle die Unglücklichen ist, die nicht dir nach, noch zu dir empor können, und die deshalb lieber an deiner Güte zweifeln möchten, nur um den bittern Stachel auszureißen, der ihnen im Herzen sitzt und an ihnen nagt, wie die Wunde des Amfortas. Neid ist wohl die unheilbarste Wunde und sollte unser Mitleid so sehr erregen, daß wir jeden Grad von Geduld hätten mit den also Betroffenen. Wir aber fühlen nur Groll und Widerwillen und haben nicht die Kraft uns bis zum Erbarmen zu erheben, trotz dem wundervollen Beispiel desjenigen, der sich ans Kreuz schlagen und mehr als verleumden ließ.

Wir sind noch immer gar keine Christen und finden das Christentum überlebt und abgenutzt, obwohl wir es noch nicht einmal verstanden, noch nicht ein einziges Mal wirklich ausgeübt haben; sonst würden wir in all diese Fehler gar nicht mehr verfallen. Darum ist die Erde keine Hölle und auch kein Himmelreich, sondern jeder Mensch ist sich selbst und andern Himmel und Hölle, sich selbst und andern Glück oder Unglück, Freude oder Herzeleid, Trost oder Pein. Denn was macht die Erde so dunkel als nur das Übelwollen der Menschen untereinander? Wie sollte dieses Übelwollen nicht sein, wenn die Armen bitter, die Reichen hart und selbstsüchtig, die Verurteilten wütend, die minder Begabten neidisch, die Leidenden widerspenstig, die Verführer triumphierend sind? So lange die Erde so bleibt, ist keine Hoffnung, daß sie erträglich werde. Sobald aber alle zur Einlicht gelangen, daß alle allen helfen sollen, dann wird sie vielleicht aufhören zu sein, dann wird diese Prüfungszeit nicht mehr notwendig, und sie wird zur Schlacke werden, wie so viele andere Gestirne, die nicht mehr notwendig sind im großen Welthaushalt.

Warum uns die Liebe unrein dünkt? Weil zu viel Körperlichkeit an ihr haftet, und weil wir das deutliche Gefühl haben, daß die Körperlichkeit abgetan werden wird, und nur die Seelen übrig bleiben werden, vorausgesetzt, daß sie ein Weiterleben nicht gänzlich verscherzt haben. Das ist auch möglich, daß nicht alle dazu bestimmt sind, wieder zu beginnen, sondern einige für unwürdig befunden werden, nachdem man ihnen den letzten Versuch gestattet, sich zu erheben, und besser zu werden.

Wir wissen nicht einmal, wer auf der Erde zum ersten Male lebt, wer zum sechsten oder zehnten Male weiterleben wird, und wer auf der Erde seine verschiedenen Existenzen für immer beschließt, weil seine Seele nicht die Kraft hat, weiter zu leben, oder nicht wert befunden worden ist, noch einmal gebraucht zu werden. Wir werden vielleicht hierin noch großes Erstaunen erleben, und diejenigen verurteilt finden, die wir für außerordentlich gut hielten, und die andern, die verachtet und in Gefängnissen schmachtend ihr Erdenleben beschlossen haben, wiederbeginnend, und reif zu höherem Beruf, in welchem die sogenannte Sünde von ihnen abgewaschen ist. Wir sind noch nicht einmal ganz sicher, ob unser Urteil über das was wir Sünde oder gut und böse nennen, ganz richtig und stichhaltig ist.

Jedenfalls sollten wir viel bescheidener sein, als wir es sind, und uns vor Urteilen hüten, die wir in unserer Unzulänglichkeit garnicht zu fällen berechtigt sind.

Rein sein, so weit es in unserer Macht steht, und nicht fragen, ob die andern Menschen uns dafür halten; das letztere ist beinahe gleichgültig. Sagen wir, das, was wir Engel nennen, ist ganz nahe und hat alles gebucht und steht dir zur Seite, liebe Seele, wenn alles dich verläßt, und du über dein Vermögen versucht wirst. Wenn du jeden Augenblick denken würdest, daß du bewacht wirst, so würdest du nicht verzweifeln, sondern wissen, daß du behütet bist, und daß oftmals die Hilfe ganz nahe gewesen wäre, wenn du nur geglaubt hättest.

Die Geduldigen gewinnen, das wissen alle, und sind so ungeduldig!

Über einen selten ausgezeichneten alten Herrn rief ein beliebter deutscher Schriftsteller begeistert aus: »Ach! das ist ein reiner Mensch! das ist ein sauberer Mensch! von dem kann man sagen: er trägt inwendig reine Wäsche!«

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