Christa Schyboll über Einsamkeit

  • Viele Menschen sind allein unter anderen Menschen einsamer als mit sich selbst.

Christa Schyboll

deutsche Autorin

* 06.09.1952 Sinzig

Gedanken von Angelina Westhagen zum Zitat

Nur wenigen Menschen wird es beschieden sein, ein Leben so ganz ohne Einsamkeit kennenzulernen. Ob dies nun gut oder schlecht ist, hängt davon ab, welchen Wert man dieser Empfindung beimisst. Viele messen ihr eher einen negativen Touch allein schon deshalb zu, weil es in den meisten Fällen zunächst kein angenehmes Gefühl ist, einsam zu sein. Unter Einsamkeit versteht man vor allem den Zustand, von anderen Menschen getrennt oder abgeschieden zu sein. Diese Abgeschiedenheit kann einen räumlichen Umstand meinen, zum Beispiel auf einer "einsamen" Insel, aber auch eine seelische Befindlichkeit, die dann eintritt, wenn man sich von niemandem mehr verstanden oder angenommen fühlt.

Andererseits suchen andere Mitmenschen hin und wieder bewusst diesen Zustand des Allein-Seins auf, weil ihnen die Last vieler Zeitgenossen zu drückend erscheint. Doch das bedeutet keinesfalls, dass sie dann automatisch auch schon einsam sind. Manche erkennen für sich persönlich, dass sie allein mit sich selbst sich wohler fühlen, als in der Masse anderer Mitmenschen.

Ob man allein ist oder einsam ist dabei zu unterscheiden. Beides kann gemeinsam vorkommen, aber auch getrennt. Denn der, der freiwillig und gerne alleine ist, muss nicht zwangsläufig auch einsam sein. Er erfährt in seinem Alleinsein vielleicht eine tiefere Einheit mit sich selbst, eine Konzentration auf das Wesentliche. Diese Momente führen bei manchem dazu, seine Gedanken und Empfindungen zum Beispiel ruhiger und genauer zu reflektieren oder gar auszuweiten. Dieses All-Eins (allein sein) mit sich selbst klappt umso besser, je weniger man vom lauten Getöse und Getön der Außenwelt gestört wird. Insofern ist das Allein-Sein von der Einsamkeit zu unterscheiden – auch dann, wenn es sich in beiden Fällen zumeist darum handelt, ohne weitere Menschen zu sein.

Allein unter Fremden

Doch es gibt Ausnahmen für alles. So fühlen sich eine Reihe von Menschen auch und vor allem inmitten vieler Menschen sogar ganz besonders einsam, obschon sie ja nicht alleine sind, sondern im lebendigen Trubel – vielleicht sogar einer ganz besonderen Fröhlichkeit und Feierlaune. Hier liegt zumeist der Umstand vor, dass die vielen Menschen um einen herum, aber leider keine persönliche Beziehung zum Betreffenden haben. Sie sind fremd, unbekannt, anonym. Da ist einfach nichts, was Nähe erzeugt, gemeinsam verbindet oder jene gewünschte Ebene spüren lässt, die eine zwischenmenschliche Annäherung ermöglicht… mag die Stimmung dabei noch so erquicklich für die meisten sein. Es ist, als befinde man sich auf einem anderen Planeten oder inmitten einer anderen Spezies, mit der man nicht mehr gemeinsam hat, als nur die äußere Form des Menschseins. Ihre Freude entspricht nicht der eigenen Gefühlswelt und ihre Fröhlichkeit ist keineswegs nur schon deshalb ansteckend, weil es viele sind.

Fühlt man so oder so ähnlich, so können sogar mehr Menschen dieses Gefühl des Getrenntseins ungemein verschärfen. Je größer der Anzahl der Mitmenschen um uns herum, mit denen Null persönliche Kontakte bestehen, je größer das eventuell auftretende Gefühl der Einsamkeit. Gefühlt wird: "So viele sind da - aber ich bin einsam! Niemand gehört wirklich zu mir!"

Versteht man die Einsamkeit aber auch anders zu nutzen, so kann sie einen ganz enormen Wert für die persönliche Entwicklung darstellen. Es ist ein Nadelöhr, durch das man individuell jedoch erst auch einmal passen muss. Einsamkeitsschübe können uns nämlich zu tiefen Erkenntnissen führen, die sowohl emotionaler Art wie auch geistig-kognitiver Art sein können.

Denn wenn wir einsam sind, sind wir bestenfalls auch oft tief mit uns selbst verbunden. Wir docken uns an unser Wesen an. Wir können uns selbst und die Welt um uns herum mit anderen Augen betrachten lernen, wenn wir der Hektik des Tages für eine gewisse Zeit keinen Raum mehr geben oder auch dem Stress des privaten oder beruflichen Alltags mit all seinen Anforderungen an unseren Verstand und unsere Handlungsoptionen.

Rückzug in die gewollte Stille

Dieser Zustand kann sowohl in der gewollten Stille, im beschlossenen Allein-Sein, aber auch auf dem Höhepunkt einer persönlichen Einsamkeit erreicht werden. So kann auch Einsamkeit einen guten Background dafür abgeben, dass nun Gedanken und Gefühle hochkommen, die wir sonst in dieser intensiven Qualität kaum zulassen. Vielleicht sind sie schmerzlich, aber notwendig, weil sie neue Klarheit bringen – oder sie sind angenehm, ungewöhnlich, Staunen machend und auf neue Weise fundamental anders als das, was und wie wir bisher gedacht oder empfunden haben. Vielleicht werden zentrale Fragen neu gestellt oder Antworten schleichen sich heran, die wir im Lärm des Alltäglichen innerlich nicht hätten vernehmen können.

Dann kann die Erfahrung der Einsamkeit, die aus einer Krise heraus gekommen sein mag, zu einem Höhepunkterlebnis werden, das nicht mehr die geringste Spur von depressiver Verstimmung enthält, weil man die Chance in der Krise erkannte und zu transformieren verstand.

Einsamkeit kann also auch zu einem Zustand führen, aus dessen Beendigung man stark oder beflügelt hervorgeht. Ein Zustand, der uns mit neuen Erkenntnissen beschenkt, weil wir diesen Gipfelpunkt des Schmerzes nicht meiden, sondern uns im Vertrauen auf Veränderung dieser Empfindung auch stellten. Keine Flucht, kein Verdrängen oder Übertünchen war mehr angesagt.

So kann die Einsamkeit inmitten von fröhlichem Lärm ebenso einen persönlichen Höhepunkt bedeuten, wie auch der Rückzug in die gewollte Stille.

Entscheidend ist nicht der äußere Ort, sondern die innere Gestimmtheit und die Konsequenz unseres Willens, ob und was wir aus dieser besonderen Gestimmtheit machen.

Wer Einsamkeit allein unter dem Gesichtspunkt eines Mangels sieht, sieht maximal nur die Hälfte ihrer Wirklichkeit. Die andere Hälfte ist eine große Chance einer neuen Vereinigung oder Einheitserfahrung mit sich selbst.

Wozu diese führen kann, ist offensichtlich: Menschen, die sich selbst in ihrer Ganzheit mehr und mehr erleben, werden selbstsicherer, zufriedener, weil sie die Welt durchdringen und ihr und dem Leben einen Sinn zu geben vermögen. Einsamkeit kann also traurig machen – oder aber dazu verhelfen, einen Weg einzuschlagen, der dem Leben neue Tiefenschärfe gibt.

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