Jean Paul über Erinnerung

  • Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

deutscher Schriftsteller

* 21.03.1763 Wunsiedel
† 14.11.1825 Bayreuth

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Was mag sich die Schöpfung wohl dabei gedacht haben, als sie dem Menschen die Fähigkeit des Erinnerns verlieh? Der Mensch erinnert ja keineswegs immer nur das, was er tatsächlich erlebt hat, sondern er erinnert Geschehenes oftmals so, wie er meint es erlebt zu haben. In der Regel nimmt er dabei nicht wahr, wie der der ehemaligen Wirklichkeit immer neue Masken verpasst, die sich von Lebensphase zu Lebensphase verändern können. Oft sind es nur Nuancen, die sich Jahre später "anders" anhören, wenn er sie "neu" erzählt. Der Grund liegt in der Selbstveränderung. Weil man anders denkt und fühlt, erinnert man oftmals auch anders, als man noch Jahre zuvor erinnert hat. Ein unbemerkter innerer Zensus ist am Werke, der durch eine veränderte Haltung zum Geschehen es plötzlich auch ein wenig anders darstellt.

Die Kerndaten mögen dabei die gleichen bleiben. Aber die Kerndaten sind lediglich das Skelett des Wahren, dessen Mittelpunkt die Erfahrung an sich ist.

Die Verzerrungen, die uns da manches Mal unterlaufen können, sind in der Regel unbewusst. Es handelt sich also nicht einmal um kleine Schwindeleien oder gar Lügen, wenn wir selbst verschiedene Versionen unserer Vergangenheit von uns geben. So werden die schlimmen Ereignisse früherer Jahre später oftmals ein wenig milder, harmloser, erträglicher dargestellt, weil sie ein Stück weit integriert, verarbeitet und mittlerweile auch "verschmerzt" wurden. Bei den schönen Erlebnissen ist es nicht selten so, dass sie sogar furioser, phantastischer ausgeschmückt werden oder eine größere Bedeutung im Nachhinein erhalten, als sie es zum Zeitpunkt des Erlebens hatten.

Man selbst hat sich zwischen Ereignis und Erinnerung an dasselbe unter Umständen stark verändert, hat neue Erfahrungen im Leben hinzugewonnen und sieht viele Dinge nun unter ganz anderen Blickwinkeln als damals. Wer hier auf einen reichen Erinnerungspool im Alter zurückgreifen kann, hat ein gutes, intensives Leben geführt.

Denkt man über die Möglichkeiten und Tricks nach, womit uns unser Erinnerungsvermögen ein Bein stellen kann, was Wahrheit und Wirklichkeit unserer eigenen Vergangenheit betreffen, bekommt man auch leicht eine Ahnung davon, was Jean Paul hier meint: Man ist Erschaffer seines eigenen Paradieses geworden! Das Gute wird besser, das Schlechte milder. In aller Unschuld und frei von bewusstem Selbstbetrug scheint sich dies bei vielen Menschen wie ein Gnadenakt zu vollziehen. Die Erinnerung kreiert sich eine Vergangenheit, die nun zum neuen Sein in der Gegenwart passt. Und weil das Sein in der Gegenwart anders geartet ist, als das Sein in der Vergangenheit nun einmal war, muss die Erinnerung einen neuen Raum voller kleiner Wunder schaffen… wozu sie mit besten Talenten ausgerüstet ist.

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