Johann Wolfgang von Goethe über Seele
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Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen.
Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat
Goethe – Faust und die Seelenstimmung. Vertiefen wir uns in die berühmten Verse "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" sind wir schon mitten in jenem Konflikt, den wir doch alle kennen. Die innere Zerrissenheit, wenn wir vor Alternativen stehen. Im Denken wie im Fühlen. Hier sind einerseits die weltlichen Begierden, dort seine spirituellen Aspirationen.
Unsere irdischen Freuden in der Welt sind mit unserer Sinnlichkeit tief verbunden. Und diese wiederum auch mit unseren Organen, unserer Lust und unseren natürlichen Trieben – der Liebeslust mit all ihren materiellen Aspekten. Physisch und emotional streben wir nach diesen tief verwurzelten Neigungen, die uns an die Erde binden – wie auch an andere Menschen, denen wir nahe sein möchten.
Doch da gibt es noch die andere Seite: Die Sehnsucht nach der spirituellen Erleuchtung. Der Mensch ist eben mehr als sein Körper mit seinen vielfältigen Ansprüchen. Er ist im Wesentlichen eben auch geistiges Wesen, das nach dem Höheren, dem Verfeinerten strebt. Das hebt uns auch mehr und mehr von den Ahnen ab, weil es nun in die höheren Gefilde des Denk- oder Glaubhaften geht. Was suchen wir da? Selbstverwirklichung, Erweiterung unseres Horizontes und nicht weniger als eine Transformation.
Diese Zerrissenheit vor allem ist im "Faust" zentral thematisiert. Die Kluft zwischen sinnlicher und spiritueller Erfahrung kann sich dabei manchmal im Wege stehen. Und wir erleben damit ein Dilemma: Wie bekommt man beide Welten in sich vereinigt? Stellen wir uns diesen Fragen, so haben wir es mit nichts weniger als einer Charakterentwicklung zu tun, die höchste Ansprüche an unsere Wandelbarkeit selbst stellt.
Das metaphorische Bild der "zwei Seelen" spiegelt die Dualität, die im Spannungsfeld zwischen Rationalität und Emotion, zwischen Wissenschaft und Religion, wie aber auch zwischen Körper und Geist oft schmerzhaft erlebt werden kann. Es sind unsere inneren Konflikte, die nicht nur zu Goethes Zeiten den Kampf des Menschen mit sich selbst zeigte, sondern bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Immer wieder neu haben wir uns diesem Ringen zu stellen und es zu meistern.
Goethe schenkt uns mit diesem Meisterwerk den Spiegel unserer grundsätzlichen Themen und Lebensaufgaben durch sein Werk, indem er die Dramatik des Suchens und Findens, des Ringens um Höhere und Bessere auf eine bedeutsame Stufe der menschlichen Entwicklung stellt.