Matthias Claudius über Reisen

  • Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.

Matthias Claudius

deutscher Dichter

* 15.08.1740 Reinfeld, Holstein
† 21.01.1815 Hamburg

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Zur Lebenszeit von Matthias Claudius (1740-1815) war Reisen noch eine ganz andere Angelegenheit als heute. Das betraf nicht nur die Gefährte, mit denen man reiste, sondern auch die ganzen Umstände einer Reise an sich. Für die meisten Menschen, die damals reisten, waren in der Postkutschenzeit gewiss auch die Entfernungen in aller Regel vom eigenen Zuhause nicht so weit, wie die heutige Urlaubsreise eines Normalbürgers… sofern ein Bürger zu Claudius‘ Zeiten überhaupt reiste. Meist war dieses Privileg den Wohlhabenden oder Gebildeten vorbehalten.

Reisen an sich war jedoch schon zu allen Zeiten abenteuerlich. Was da genau auf einen zukam, konnte niemand vorher wissen. Gefahren und Unwägbarkeiten lauerten schon immer überall. Was sich gewiss aber verändert hat, sind die Erzählungen, die die Reisenden im Nachhinein denen, die zuhause blieben, unterbreiteten.

Früher waren es vor allem die Besonderheiten anderer Kulturen, die unbekannten Speisen, die Düfte, Farben und Riten fremder Länder mit ihren verschiedenartigen Traditionen, die Moden, Tiere und Pflanze die sich oft erheblich von denen der eigenen Heimat unterschieden. Da gab es viel zu erzählen, zumal auch die Berichte noch spärlich und die Daheimgebliebenen begierig darauf waren, Neues zu erfahren.

Heute, im globalen Dorf Welt, sieht die Sache anders aus. Kleidungsmoden haben sich längst weltweit angepasst. Kein Land ist heute mehr ohne Jeans oder bestimmte Markennamen vorstellbar. Die gesamte Jugend rund um den Globus trägt im wesentlichen ähnliche "Klamotten". Das beginnt mit dem Käppi der Marke X auf dem Haupt und endet mit der Marke Y der Turnschuhe, gestreift oder vorzugsweise mit einem wilden Tier geziert.

Reist man heute, sieht man allerorten Mitmenschen aufs Smartphone starren oder in Tablets tippen, welcher Nation sie auch immer angehören. Die modernen gläsernen Paläste der großen Innenstädte unterscheiden sich kaum von einem zum anderen Kontinent. Überall sieht man das Imposante neuer Gebäude, die mächtiger und bedeutungsvoller sein wollen, als die Architektur des Nachbarlandes – und dennoch wie aus einer Retorte zu kommen scheinen.

Was ist denn eigentlich noch wirklich spannend an heutigen Reisen, die mit Reiseversicherungen aller Art so umfassend abgedeckt sind, dass sie auch selbst die Heimtransporte auch über weite Strecken mit beinhalten. Befindet man sich jedoch weit von einer Zivilisation entfernt, könnte es auch trotz Reisekrankenversicherung spannend werden, wenn man den noch tätigen Medizinmann mit all seinen Geheimnissen im Outback plötzlich braucht. Was also erzählt man sich heute, wenn man auf Reisen geht?

Reiseabenteuer und der erweiterte Blick für die Wirklichkeit

Vor allem hängt es davon ab, wer reist und wie er selbst seine fremde Umgebung erlebt, erschaut und wahrnimmt. Denn der eigene Blick für die Details oder das Wesentliche der Dinge wird letztlich die Inhalte eines nachträglichen Reiseberichtes bestimmen. Und daran wird sich auch der Wert für die daheim gebliebenen Zuhörer bemessen.

Touristen, die gezielt zum Ballermann nach Mallorca fahren, werden vielleicht vor allem von ihren Besäufnissen oder ihren sexuellen Abenteuern zu berichten haben. Leute, die sich in den Vorderen Orient begeben, sind darauf eingestellt, mit Armut, Not, Aufruhr und Protest konfrontiert zu werden – sofern sie nicht in einem Retorten-Ressort eines reinen Ferienlagers untergebracht sind und diesen sicherheitshalber nicht verlassen.

Andere suchen die Einsamkeit und erleben Sie im Himalaya oder die Wüste. Auch dies kann in heutigen Zeiten noch Abenteuer bedeuten, wenngleich der Komfort zu den Reisen früherer Jahrhunderter dabei nicht mehr zu vergleichen ist.

Oder man fliegt beispielsweise nach Griechenland zum Inselurlaub. Dort kann man täglich neu Zeuge werden, wie zwei Welten aufeinander prallen. Eine Welt, in der die Menschen viel an Luxusgütern und gutem Leben haben und sich auf der Sonnenseite des Lebens genüsslich freuen dürfen. Zu dieser Gruppe gehört man als Tourist auch selbst. Die andere Welt zeigt uns die Toten, die das Meer anschwemmt, umsonst vor Krieg und Terror geflohen. Oder es zeigt die leeren Augen armer Flüchtlinge, die sich dennoch an eine letzte Hoffnung auf ein besseres Leben klammern.

Kann man angesichts dieser brutalen Wirklichkeit das Reisen dann immer noch genießen? Armut und Krieg gab es zu allen Zeiten auf der Erde. Aber die Schere zwischen arm und reich, zwischen Habenden und Nichthabenden hat sich immer weiter aufgetan. Damit hat sich auch das Reisen für diejenigen verändert, die sich nicht nur mit den Scheuklappen eines Durchschnittstouristen auf Fun-Reise begeben, sondern den wahren Zustand der Welt bewusst an sich heranlassen. Reisen kann also auch heute noch Menschen stark verändern…

Und natürlich gibt es zum Glück auch noch die klassische Reise im Frieden. Mag man durch das einsame Patagonien reisen, die Pinguine am Südpol auf Distanz filmen oder an einer Touristen-Safari in Afrika den Rest der noch überlebenden Tierwelt bestaunen. Man kann also noch immer viel erleben, wenn man eine Reise tut, wie uns schon Matthias Claudius zu erzählen wusste.

Ob und welches Auge man bei seinen Reisen durch die Welt dabei offen hält, ob man das Herz dabei aktiviert und den Verstand einschaltet, wenn man den Blick tiefer auf die Zustände lenkt, ist allerdings eine Frage, die nur individuell zu beantworten ist. In jedem Fall bietet Reisen die Chance auf einen erweiterten Blick auf die Wirklichkeit.

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