Sokrates über Jugend

  • Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.

Sokrates

griechischer Philosoph

* um 469 vChr Athen
† 399 vChr Athen

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Verehrter Sokrates, wie Recht Du hast! In allem und immer noch. Es ist zum Heulen! Heute möchte ich Dir, da Du nicht mehr ganz auf dem aktuellen Stand bist, jedoch noch von ein paar mehr Schrullen und Zeitmoden in der Benimmkultur der heutigen Jugend erzählen, die unmittelbar an Deine Beobachtung anknüpfen.

Das Fazit jedoch kann ich schon vorab ziehen: Es ist alles noch schrecklicher geworden als zu Deiner Zeit. Du hast mit Deiner Analyse punktgenau ins Zentrum der Wirklichkeit gestochen.

Doch höre! Das mit dem Luxus hat sich nicht verändert. Beginnen wir also mit den schlechten Manieren. Dieses Wort wissen nur noch wenige in unserer Jugend zu buchstabieren – und noch weniger von ihnen auch mit konkretem Inhalt zu füllen, der sich im Benehmen zeigt. Ihr zuverlässig mangelnder Respekt betrifft heute auch nicht nur die älteren Leute, sondern ist mittlerweile auch auf die Obrigkeit des Staates und gar auf die Götterwelt ausgedehnt.

Ja, bei Euch war noch geordnete Demokratie die Regel! Da wurde debattiert. Da flogen Argumente von Hirn zu Hirn. Heute jedoch fliegen Steine und Brandbomben. Warum? Die Hirne sind leer (was allerdings nicht allein der Jugend zuzuschreiben ist!). Die Worte sind hohl, die Sätze sind falsch, langweilig oder nichtssagend. Das allerdings hat die Jugend teils auch von der Obrigkeit übernommen.

Das hatte zu Deiner Zeit doch noch mehr Niveau. Ich sage Dir: Die Sache steht schlimm!

Heutzutage trägt die männliche Jugend zum Beispiel auch häufig Kappen auf dem Haupte, selbstverständlich falsch herum aufgesetzt, was nicht weiter erwähnenswert wäre, würden diese doch wenigstens bei Tisch, in Kirchen oder anderen sakralen Räumen und zu besonderen Anlässen abgenommen. Doch daran denkt nicht nur niemand, sondern weiß es noch nicht einmal, dass sich dies nicht gehört. Schamlosigkeit meets Unwissen?

Nebenbei sei angemerkt, dass sich die "Jugend" heute auch um Jahrzehnte verlängert hat. Das bedeutet, dass sich solcherart schlechtes Benehmen typisch Pubertierender heute bis in die Vierziger Jahre des Lebens hinein zieht. Zu Deiner Zeit wurden solche Erwachsene vermutlich ins Irrenhaus gesperrt. Heute stellen sie bereits eine große Bevölkerungsgruppe, die zudem gesetzlich vor solchen Zugriffen geschützt ist. Man nennt dies dann: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die auch jedem Unsinn Tür und Tor öffnet.

Von Drogen und bedenklicher Kommunikation

Dann muss ich berichten, dass es nicht nur die Süßspeisen sind, worauf die Jugend so schamlos zugreift, als seien sie die Einzigen, die Appetit verspüren. Nein, sie plündern ohne den Hauch eines schlechten Gewissens ganze Kühl- und Vorratsschränke, stecken sich Drogen und entsetzliche Dinge in Körperöffnungen, wie in den Mund, in die Nase oder spritzen sie gar in die Venen hinein, um endlich einmal gut drauf zu sein. Zu Deiner Zeit wurde doch höchstens mal hin und wieder ordentlich dem Wein zugesprochen oder hier und da ein Pilzlein oder ein Kräutchen gekaut. Doch was wir in der Gegenwart bereits an jugendlichen Junkies zu beklagen haben, kannst Du Dir überhaupt nicht vorstellen. Und das Schlimme ist, viele von ihnen werden in diesem Zustand auch noch uralt und müssen bis zum späten Tod von der Gemeinschaft gehütet und gepflegt werden – ohne je einmal etwas der Gemeinschaft zurückgegeben zu haben. Nichts als Ärger mit dieser Jugend!

Betreten ältere Leute die Zimmer der Jugend, dann steht dieser Zimmerinhaber nur aus einem einzigen Grunde auf: Um die ungebetenen Erwachsenen flugs handfest aus dem Allerheiligsten zu drängen, sofern sie nicht schon an der Tür kuschen. Die älteren Leute von heute werden sich hüten, ungefragt solche Zimmer zu betreten. Denn heute lauern dort ganz andere Gefahren als jene, von denen Du als Zeitzeuge und Beobachter einer schon damals beginnenden Jugend-Dekadenz berichtest.

Was jedoch das Widersprechen der Eltern angeht, so muss ich sagen, dass dies bereits heute schon in der frühen Kindheit beginnt und ab der frühen Pubertät wieder beendet ist. Denn Jugendliche sprechen in aller Regel nicht mit ihren Eltern! Wenn überhaupt, dann geben sie kurze Befehle und schmeißen ihnen dabei Substantive an den Kopf. Das reicht aus. Das ist üblich. Die Eltern wissen dann schon Bescheid und sind bemüht, dieser Botschaft flugs nachzukommen, damit die Jugendlichen kein Donnerwetter veranstalten.

So dröhnt es morgens die Treppen runter: Kaffee!!! Oder: Hunger!!! … oder: Frühstück!!! … Je nach Kommunikationssprache. Ein besonders wichtiges Wort ist: Taschengeld!!! - Vielleicht das wichtigste Wort überhaupt. Geht es aber um anfängliche Prosa, so tönt es oft laut: Keine Zeit!!!... oder: Hau ab!!!… oder: Bin weg!!! Bei solchen langen Zwei-Wort-Sätzen hat man es vermutlich schon mit einem sehr gebildeten Hausstand zu tun. Diese Eltern hoffen dann auf einen guten Studienabschluss und Karriere des Sprösslings nach dem 17. Semester.

Was die Emotionsskala der Jugendlichen angeht, so war diese schon immer sehr breit. Hier hat sich jedoch eine Kunstform entwickelt, die beachtlich ist. Alle erlebten Emotionen, selbst die, die noch in der Warteschlange stehen, sind kunstvoll auf einen Begriff reduziert worden. Die Essenz dieser komplexen Vorgänge heißt: "cool!"

Feindbild Nummer zwei: Die Lehrer!

Auch das Schwadronieren in Gesellschaft, von dem Du sprichst, hat sich verändert, wiewohl leider ebenfalls nicht verbessert. Da die Jugend kaum außerhalb ihrer eigenen Clique mit anderen menschlichen Wesen spricht, schwadroniert sie meist nicht mehr laut im Raum herum, sondern starrt angestrengt aufs Smartphone.

Pardon, Sokrates, das kennst Du ja noch nicht. Das muss ich kurz erklären. Ein Smartphone ist eine Art Akasha-Chronik, wo alle galaktischen Geheimnisse gespeichert sind und mit dem man weltweit mit jedermann direkt und unmittelbar Wichtiges austauschen kann. Wichtig ist heutzutage beispielsweise: "Hi! Ich esse gerade eine Bratwurst". Das interessiert jemand anderen auf der Welt so brennend, dass er jede verbale Direktkommunikation mit einem vor Ort befindlichen lebendigen Wesen dafür unterbricht, um dieses bedeutende und ganz außergewöhnliche Bratwursterlebnis zu kommentieren. Meist mit dem Superwort: "Cool!"

In diesem modernen kleinen Apparat, der fast alles kann, ist der Sitz der wissenden Götter. Hier spielt die wahre Musik. Hier ist die Einheit von Heiligen und Verbrechern, von Doofen und Genies versammelt. Hier mischt man mit. Wer hier nicht mitmischt, ist nicht. Nie und nimmer. Selbst dann, wenn er sich körperlich zeigt und einen Personalausweis mit Geburtsurkunde besitzt.

Liest die Jugend von heute in diesem Kasten dann solche zwei-Wort-Frage-Sätze wie: "Was geht?!", dann fühlen sie sich liebevoll in der Gemeinschaft der Süchtigen aufgenommen. Man ist wer! Man wird gefragt! Wird ein Jugendlicher während dieser konzentrierten Vorgänge freundlich von einem Erwachsenen angesprochen, so schaut er völlig unverständlich ins Leere, besinnt sich schnell und tippt wieder weiter, um den kulinarischen Bratwurstvorgang eines Kumpels am anderen Ende der Welt nicht durch ein völlig unnützes Gespräch mit einem Erwachsenen zu unterbrechen.

Was sich in der Tat aber nicht verändert hat, sind die Beine auf dem Tisch, die Du ansprichst. Dies jedoch ist nur dem Umstand zu verdanken, dass es überhaupt noch Beine gibt. Denn dies ist biologisch mittlerweile überflüssig. In mobilen Zeiten wie den unsrigen, "geht" man ja nicht mehr, sondern in aller Regel fährt, wankt, rollt, fliegt, springt, torkelt oder rudert man durch die Welt… wenn man nicht, wie überwiegend, gerade sitzt.

Und dann noch die Sache mit den Lehrern: Klar, Feindbild Nummer zwei gleich nach den leiblichen Erzeugern. Da bleibt die Phantasie des Bösen rege. Die kriegen, wie in den Jahrtausenden zuvor, auch weiterhin ihr Fett ab. Aber sie wussten es ja vorher. Denn jeder Lehrer war einmal Schüler und verfügt über die Fähigkeit der Erinnerung – wenn er nur will. Dieser Lehrer-Spezies ist also auch nicht zu helfen, wenn sie unbedingt die schrecklichen Erlebnisse ihrer Vorgänger zwanghaft wiederholen will.

Verehrter Sokrates. Soweit mein kurzer Bericht zu Beginn des 3. Jahrtausends. Ruhe nun wieder in Frieden und senden deinen nachtodlichen Blick lieber nicht zur Erde zurück. Schau dir die Gestirne an, vergiss Xanthippe und lass die Finger vom Schierlingsbecher im Jenseits, wenn guter Wein als Alternative bereit steht.

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