Christian Morgenstern

166 Zitate, Sprüche & Aphorismen Autor

Einander kennenlernen heißt lernen, wie fremd man einander ist.

Eine der größten Unverfrorenheiten des Menschen ist, dies oder jenes Tier mit Emphase falsch zu nennen, als ob es ein noch falscheres Wesen gäbe in seinem Verhältnis zu den andern Wesen als der Mensch.

Eine Karikatur ist immer bloß einen Augenblick wahr.

Eine schwache Persönlichkeit wird manchmal eine stärkere Persönlichkeit werden können als eine starke Persönlichkeit.

Eine Wissenschaft aber, die vergißt, daß sie eine seltene, wunderbare Blume auf dem Boden des Mysteriums ist, ja, die vergißt, daß sie selbst Mysterium ist, die fällt mit der übelsten Schwarmgeisterei in eins zusammen.

Eine Zeit des Geistes wird von selbst zur Monarchie zurückkehren. Laßt erst einmal Einen Geist über die Völker kommen, und sie werden nicht mehr begehren, als sich in ihren geborenen Führern auch sichtbarlich zu gipfeln.

Einen Krieg beginnen, heißt nichts weiter, als einen Knoten zerhauen, statt ihn aufzulösen.

Enthusiasmus ist das schönste Wort der Erde.

Es gibt für Unzählige nur ein Heilmittel - die Katastrophe.

Es gibt in Wahrheit kein letztes Verständnis ohne Liebe.

Es gibt kaum etwas Empörenderes als die sklavische Furcht, die der Autoritätsglaube dem Menschen einprägt und einbrennt; ein Gefühl, dessen blasse Nachtschatten bis in die späte Reife des Denkenden hineinreichen. Wie lange währt es, bis man diese beschämenden Fußfesseln des freien Gedankens nicht nur ganz abgeschüttelt, nein, auch sich völlig aus den Augen geschafft hat!

Es gibt keine "toten" Gegenstände. Jeder Gegenstand ist eine Lebensäußerung, die weiter wirkt und ihre Ansprüche geltend macht wie ein gegenwärtig Lebendiges. Und je mehr Gegenstände du daher besitzest, desto mehr Ansprüche hast du zu befriedigen. Nicht nur sie dienen uns, sondern auch wir müssen ihnen dienen. Und wir sind oft viel mehr ihre Diener, als sie die unsern.

Es gibt keine Seele, die nicht ihr Wattenmeer hätte, in dem zu Zeiten der Ebbe jedermann spazierengehen kann.

Es gibt Menschen, deren einmalige Berührung mit uns für immer den Stachel in uns zurücklässt, ihrer Achtung und Freundschaft wert zu bleiben.

Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen fühlen, wenn jemand die Wahrheit sagt.

Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen fühlen, wenn jemand eine Wahrheit ausspricht.

Es gibt nur einen Fortschritt, nämlich den in der Liebe.

Es ist bitter, sich sagen zu müssen, dass man zwischen 35 und 45 zu erledigen hat, was man zwischen 45 und 60 hätte sollen erledigen können.

Es ist das Unglück, daß Würde und Feinheit von Gedanken oft von den Raumverhältnissen eines Zimmers, einer beglückenden Fensteraussicht, einem gewissen Maß von Licht und Farbe abhängig sind, so daß einer, der sein Leben lang in einer Art von länglichen Schachteln gehaust hat und eines Tages ein edel proportioniertes Gemach betritt, sich zu glauben geneigt findet, wieviel er vielleicht allein durch den Charakter seiner Wohnräume geistig verloren haben könnte.

Es ist eine Kunst für sich, einen Brief zur rechten Zeit ankommen zu lassen. Man vergisst ihrer gewöhnlich. Und doch - wie oft ein intimes, beschauliches Gespräch am Morgen keine Hörer an uns fände, so mutet uns ein Brief morgens und abends anders an.

Es ist etwas Herrliches, wenn in das Händeklatschen einer Menge jenes Elementare kommt, das ich das Mark des Beifalls nennen möchte.

Es ist merkwürdig, daß ein mittelmäßiger Mensch oft vollkommen recht haben kann und doch nichts damit durchsetzt.

Es ist mit der Weltenuhr wie mit der des Zimmers. Am Tage sieht man sie wohl, aber hört sie fast gar nicht. Des Nachts aber hört man sie gehen wie ein großes Herz.

Es ist schauerlich, an Toren zu rütteln, die verschlossen sind; noch schauerlicher aber, wenn sie nur aus dünnem Seelenstoff, ja, wenn sie nur aus den kühlen, harten Blicken einer Seele bestehen, die dich nicht in sich eindringen lassen will.

Es ist schön, zu denken, dass so viele Menschen heilig sind in den Augen derer, die sie lieben.

Es ist wohl gerade in unserer aufgeregten Epoche mehr denn je nötig, den Blick aus den Tagesaffären emporzuheben und ihn von der Tageszeitung weg auf jene ewige Zeitung zu richten, deren Buchstaben die Sterne sind, deren Inhalt die Liebe und deren Verfasser Gott ist.

Es können nur einigermaßen gleiche Naturen in ihrem ganzen Umfang einander erklären und abschätzen.

Gedanken wollen oft - wie Kinder und Hunde -, daß man mit ihnen im Freien spazierengeht.

Genau betrachtet, ist alles Gespräch nur Selbstgespräch.

Gespräch ist gegenseitige distanzierte Berührung.

Glaube ist nur wahrer Glaube als von keinem Gedanken entweihtes Gefühl Gottes.

Glaubt ihr, ein Asket wolle weniger herrschen als ein Weltmann?

Gott schauen ist Tod, das wußten alle Völker. Gott erraten ist Leben.

Gott wäre etwas gar Erbärmliches, wenn er sich in einem Menschenkopfe begreifen ließe.

Gute Erziehung - ein zweischneidig Schwert. Macher wird nie ein wirklicher Mensch, ein Mensch von Umfang, infolge seiner guten Erziehung.

Heftige Bewegungen machen alle Tiere scheu. So sollte sich auch der vollkommene Weise im Geistigen jäher Bewegungen enthalten. Im Grunde ist es das Gleiche, wie du an ein Pferd herangehst und sein Zutrauen gewinnst und wie du an einen Menschen dich wendest und ihn eroberst.

Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr ganzes Leben nach der einstigen Heimat; ruhelos durchmißt sie das Land nach allen Seiten. Oft fällt sie zu Boden in ihrer großen Müdigkeit, und man kommt, hebt sie auf, pflegt sie und will sie ans Haus gewöhnen. Aber sobald sie die Flügel nur wieder fühlt, fliegt sie von neuem fort.

Ich definiere den Humor als die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkt des unendlichen aus. Oder: Humor ist das Bewußtwerden des Gegensatzes zwischen Ding an sich und Erscheinung und die hieraus entspringende souveräne Weltbetrachtung, welche die gesamte Erscheinungswelt vom Größten bis zum Kleinsten mit gleichem Mitgefühl umschließt, ohne ihr jedoch einen anderen als relativen Gehalt und Wert zugestehen zu können.

Ich habe heute ein paar Blumen für dich nicht gepflückt, um dir ihr Leben mitzubringen.

Ich habe nie einsehen mögen, warum mittelmäßige Menschen deshalb aufhören sollten, mittelmäßig zu sein, weil sie schreiben könnten.

Ich möchte den Satz aufstellen: Kein wahrhaft freier Mensch kann krank sein.

Ich schreibe der Gegenwart schön gebildeter Gegenstände einen großen Einfluß auf den Menschen zu. So sollten wir die Möbel unserer Kinderzimmer mit außerordentlicher Sorgfalt auswählen. Irgend ein schöner, schlichter, ehrwürdiger Schrank, auf den der Blick unsres Kindes von seinem Lager aus fällt, ja kunstvolle Modelle bedeutender Bauwerke, z. B. eine kleine Nachbildung der Peterskuppel, eines griechischen Tempels, einer modernen Eisenbrücke würden ihm zweifellos eine Ahnung von großem Stil geben, die es sein ganzes Leben hindurch nachspüren und weiterentwickeln würde.

Im Schachspiel offenbart sich durchaus, ob jemand Phantasie und Initiative hat oder nicht.

Im Sohn will die Mutter Mann werden.

Im Staat der Sozialisten wird einer auf den anderen aufpassen. Und Faulenzer werden nicht geduldet, dulden sich selber nicht. Wer aber will vorher wissen, wer ein Faulenzer und wer ein Schwangerer ist? Man würde den Schwangeren samt dem Faulenzer verurteilen und damit das Beste der Erde: Das stille, langsame Reifen neuer Gedanken.

In dem Maße, wie der Wille und die Fähigkeit zur Selbstkritik steigen, hebt sich auch das Niveau der Kritik am andern.

In der Katze hast du Mißtrauen, Wollust und Egoismus, die drei Tugenden des Renaissance-Menschen nach Stendhal und anderen. Damit ist sie, ich möchte sagen, das konzentrierteste Tier. Der Hund ist dagegen gläubig, selbstlos und erotisch kulturlos.

In der übertriebenen Abneigung gegen schlechte Übersetzungen, gegen Übersetzungen überhaupt, liegt eine gewisse Verzärteltheit.

Inmitten unzähligem Hin- und Herredens der Einzelnen wächst still und groß das ewige Weisheitsgut der Menschen weiter.

Je ernster ein Kritiker seine Kritik nimmt, desto kritischer wird er seinen Ernst nehmen.

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