Christian Morgenstern

166 Zitate, Sprüche & Aphorismen Autor

Jedem, der seine Gedanken niederlegt, blickt schon im Augenblick des Schreibens ein Größerer über die Schulter, sei es ein Vergangener, Lebendiger oder noch Ungeborener. Wohl dem, der diesen Blick fühlt: Er wird sich nie wichtiger nehmen, als ein geistiger Mensch sich nehmen darf.

Jeder Künstler tötet zehn folgende.

Jeder muß sich selbst austrinken wie einen Kelch.

Jeder von uns hat etwas Unbehauenes, Unerlöstes in sich, daran unaufhörlich zu arbeiten seine heimlichste Lebensaufgabe bleibt.

Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte, durch die viel Gutes in den Menschen hineinhuschen kann.

Leichtsinn und Geduld, zwei weibliche Haupteigenschaften.

Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den andern, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.

Man erhebe den Kasernenstil zur Höhe der Kunst! Man kann es. Man rede nicht ewig von Langweiligkeit! Wenn der Rechte es anfaßt, gibt es keine Langeweile. Was bei dem Mittelmäßigen langweilig wird, wird in der Hand des Genies zur Großartigkeit.

Man soll sich seiner Krankheiten schämen und freuen; denn sie sind nichts anderes als eine auszutragende Verschuldung.

Man verliebt sich oft nur in einen Zustand des anderen, in seine Heiterkeit oder in seine Schwermut. Schwindet dieser Zustand dann, so ist damit auch der feine besondere Reiz jenes Menschen geschwunden. Daher die vielen Enttäuschungen.

Manche Menschen machen sich vor anderen so klein wie möglich, um größer als diese zu bleiben.

Merkwürdig, zu fühlen, wie man auf diesem seinem Erdboden nicht viel anders festgehalten wird als jene kleinen Saugnäpfchen aus Gummi, die man an die Wand preßt, um Uhren und Schlüssel dran aufzuhängen.

Napoleon war ein Naturereignis. Ihn einen großen Schlächter schmähen heißt nichts anderes, als ein Erdbeben groben Unfug schelten oder ein Gewitter öffentliche Ruhestörung.

Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.

Niemand ist zu gut für diese Welt. Menschen, von denen dies gesagt wird, sind vielmehr in irgendeinem Betrachte nicht gut genug.

Niemand war und ist mir eine empfindliche Geißel als der richterlich geartete Mitmensch. Er ist für mich der personifizierte böse Blick. Vor ihm erschrickt alles Lebendige in mir so tief, als hätte der Tod selbst es gestreift. So mag eine Pflanze aufhören zu wachsen, wenn sie ein schlimmer Zauberer anhaucht. Sie will gern von Wind, Regen und Kälte vernichtet werden, und wenn sie jemand zertritt, so wird sie es als etwas Natürliches hinnehmen; aber sich bei lebenndigem Leibe Von einem anderen lebenden Wesen schlechtweg in Frage stellen, verneinen, für unfähig, für einen Irrtum erklären lassen zu müssen und das nicht etwa unter einem Feuer von Leidenschaft, sondern kalt, Vorbedacht - das ist unerträglich.

Nirgends kann das Leben so roh wirken wie konfrontiert mit edler Musik.

Nur der Erkennende lebt.

Nur durch Schaden werden wir klug - Leitmotiv der ganzen Evolution. Erst durch unzählige, bis ins Unendliche wiederholte leidvolle Erfahrungen lernt sich das Individuum zum Meister über sein Leben empor. Alles ist Schule.

Nur wer den Menschen liebt, wird ihn verstehen. / Wer ihn verachtet, ihn nicht einmal sehen.

Phantasie ist ein Göttergeschenk, aber Mangel an Phantasie auch. Ich behaupte, ohne diesen Mangel würde die Menschheit den Mut zum Weiterexistieren längst verloren haben.

Philosophie und Religion ist für den Menschen vielleicht nur der Gefrierpunkt gegen den Wahnsinn. Vor der Kälte des Universums zieht sich das Wasser als Haut zusammen, so vor der Kälte des Unbegreiflichen der Geist zur Weisheit, das Herz zum Glauben.

Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.

Schönheit ist empfundener Rhythmus.

Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so daß deine Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken.

Sich bewusst ausweiten. Von Gegensatz zu Gegensatz gehen. Vom Ersten bis zum Letzten und umgekehrt. Keinen und nichts vergessen, übersehen, gering achten.

Suche allem nach Möglichkeit eine Folge zu geben. Nichts macht das Leben ärmer als vieles anfangen und nichts vollenden.

Sätze wie: In der Welt überwiegt die Summe des Leidens die Summe des Glücks - was sind sie im letzten Grunde anderes als Wortspielereinen vor dem in Leid wie in Lust furchtbaren, ganz und gar übergewaltigen Charakter des Weltalls! Sollten in diesem ganz unfaßbaren Komplex des Lebens nicht Leid und Lust so untrennbar, so organisch, so durch und durch ineinander verschlungen und verwirkt sein, daß man schon ein Prachtstück an Trockenheit und Pedanterie sein muß, um hier mit einer Waage heranzutreten?

Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muß viele Möglichkeiten der fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten, und danach, was man geben kann, einrichten.

Unser Begreifen ist Schaffen.

Unser Begreifen ist Schaffen; seien wir doch selig in diesem Bewusstsein.

Unser Bestes sind nicht unsere Werke. Das liegt oft in einem Blick vor uns, in einem Gedanken, um dessentwillen wir uns selber lieben möchten und um den doch niemand je weiß.

Unsere Dienstboten sind nicht Seelen, mit denen wir uns vorübergehend vereinigen, um es bequemer zu haben, sondern solche, denen wir, wenn irgend möglich, noch mehr und besser dienen sollen als sie uns. Nicht umsonst und ohne Sinn muß die eine Seele noch äußerlich dienen, während die andere schon mehr innerlich dienen kann und darf. Sie muß noch grobe Arbeit verrichten und hat noch wenig Einsicht in den Sinn der Verschiedenheit aller Lebensverhältnisse; wir aber sind zur Feinarbeit - auch an ihnen verpflichtet; wir wissen schon mehr vom Sinn des Lebens und müssen sie darum mit soviel Weisheit und Liebe behandeln, wie uns nur immer möglich ist.

Unsere Zeit, welche die interessanten "Aberglauben" früherer Zeitalter selbstbewusst entwertet, ist selbst nur weniger interessant, keineswegs weniger abergläubisch, und wird einst ungleich anderer Nachsicht der Betrachtung bedürfen, wenn spätere Geschlechter eingesehen haben werden, dass dem Menschen, unbeschadet aller begreiflichen und jeweils sogar notwendigen Vordergrundsoptiken, als letzte Hintergrundstimmung doch nur eines ziemt: bei Gott kein Ding für unmöglich zu halten.

Vom höchsten Ordnungssinn ist nur ein Schritt zur Pedanterie.

Von hundert, die von "Menge" und "Herde" reden, gehören neunundneunzig selbst dazu.

Vor einer Anzahl von Leuten der "guten Gesellschaft": Sind es nicht alles Menschen, die man in irgend einem Zuge ihres Wesens lieben kann? Alle sind so oder so ein wenig oder sehr liebenswert. Aber sie müßten auch fast alle mit dem Gift einer schwachen, doch steten Unruhe geimpft werden. Sie wollen zu wenig über sich hinaus; sie siedeln sich zu schnell bei sich selber an; sie haben zu wenig Wachstum und Wandertum in sich. Sie glauben, mit 30 Jahren sich gefunden zu haben.

Vorsicht und Mißtrauen sind gute Dinge, nur sind auch ihnen gegenüber Vorsicht und Mißtrauen nötig.

Wahrheit ist eine Sache des Temperaments. Darum kann man Wahrheit nicht lehren, nur zeugen.

Was ist denn alle Mutter- und Vaterschaft anders als ein - Helfen! Als wunderreichste, geheimnisvollste Hilfe!

Was ist der Mensch? Die Tragödie Gottes.

Was ist Religion? Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln wollen.

Was mir "Patriotismus" ist? / Ein Gefühl, das zehn andere frißt.

Wenn das Individuum - wie Hebbel sagt - letzten Endes komisch ist - und es ist komisch -, so ist die Tragödie die höchste Form der Komödie.

Wenn ich so die kleinen Dampfer die riesigen Kähne vorüberschleppen sehe, muß ich immer an den Dichter und das Publikum denken.

Wer das Wunder nicht als das Primäre erkennt, leugnet damit die Welt, wie sie ist, und supponiert ihr ein Fabrikspielzeug.

Wer die Welt nicht von Kind auf gewohnt wäre, müßte über ihr den Verstand verlieren. Das Wunder eines einzigen Baumes würde genügen, ihn zu vernichten.

Wer in das, was von Göttlich-Geistigem heute erfahren werden kann, nur fühlend sich versenken, nicht erkennend eindringen will, gleicht dem Analphabeten, der ein Leben lang mit der Fibel unterm Kopfkissen schläft.

Wer nicht auch böse sein kann - kann der wirklich tief sein?

Wer sich groß verfehlt, der hat auch große Quellen der Reinigung in sich.

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